Pilgerer hat geschrieben:Durch das Schmerzempfinden und andere Instinkte oder Erfahrungen kann der Mensch durchaus eine Ahnung davon bekommen, was im allgemeinen relativ gut oder böse ist.
(...)
Gottlosigkeit ist meiner Ansicht nach etwas anderes als Atheismus. Sie bezeichnet den Zustand eines Menschen, in dem dieser wirklich von Gott getrennt ist. Das kann bei einem Atheisten zutreffen, aber ebenso bei einem Monotheisten oder auch einem Christen. Ein Monotheist kann an Gott glauben, ohne mit ihm zu leben. Es kommt am Ende jedoch darauf an, mit Gott zu leben, um vor Gott bestehen zu können. Unbarmherzigkeit ist eine Form der Gottlosigkeit, wie folgender Spruch zeigt: "Spr 12,10 Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs; aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig." Wer zum Beispiel aus religiösem Fanatismus den Menschen heraus nicht mehr als Menschen sieht und sich des Mitgefühls entledigt, wird gottlos.
Ja, das hast du gut auf den Punkt gebracht, darauf wollte ich hinaus.
Allerdings ist es sicherlich nicht nur Schmerzempfinden, das dem Menschen die Unterscheidung von gut und böse ermöglicht, auch Heiden sind vernunftbegabte und moralische Wesen (vielleicht übersiehst du da etwas aufgrund deines aufklärungsfeindlichen Impetus).
Die Position des Erasmus (der seinerseits die kath. Tradition vertritt) zu der Frage fasst Schockenhoff ganz gut zusammen:
Eberhard Schockenhoff hat geschrieben:Das allen Menschen ins Herz eingeschriebene Gesetz der Vernunft enthält die Goldene Regel als Zusammenfassung aller göttlichen Gebote, doch ist dieses Gesetz zu schwach, um zum wirksamen Tun der Liebe anzuspornen. Gleichwohl ist das natürliche Licht der Vernunft, dessen Erkenntniskraft durch die Sünde geschwächt ist, nicht gänzlich erloschen; immerhin erkennen mit seiner Hilfe auch die heidnischen Philosophen das natürliche Gesetz des Guten. Es entfacht sogar eine natürliche Neigung zum sittlich Guten (naturalem appetitum honesti) im Menschen, »die, mag sie auch in uns verschüttet sein, doch nicht ausgelöscht ist« (Erasmus, Hyperaspistes I-IV, 611; vgl. IV, 623.). Daher muss das Gesetz des Glaubens dem Gesetz der Vernunft zu Hilfe kommen, es unterstützen und der natürlichen Erkenntnis des Guten aufhelfen, damit diese sich im Tun der Liebe vollenden kann.
Aus: Das Netz ist zerissen. Freiheit im Licht des Glaubens. Eine systematisch-theologische Skizze. Communio 37 (2008), S. 122. [Unterstreichung von mir]
Pilgerer hat geschrieben:Ein zentraler Punkt des Evangeliums ist, dass wir durch Jesus Christus Gott erkennen und durch die Gotterkenntnis den Menschen erkennen.
Absolut!
Pilgerer hat geschrieben:Diese Gott-und-Menschen-Erkenntnis führt dazu, dass wir perfekt gut und böse kennen können.
Perfekt? Nun ja, indem wir Christus immer ähnlicher werden sicherlich irgendwann und punktuell auch beinahe perfekt. Du sagst ja auch bewusst „können“. Doch, ich stimme dir zu.
Pilgerer hat geschrieben:Das christliche Europa war durch die Gotteserfahrung (z.B. in der Messe) auf dem Weg zu einer wachsenden Gotteserkenntnis und somit auch Gerechtigkeit. Dieser Prozess wurde durch die sogenannte Aufklärung unterbrochen, die den Blick vom Angesicht Gottes (in Christo) weg in die Welt hinein wandte.
Gut, das ist jetzt eine private Weltdeutung. Andere fangen mit ihrer Dekadenztheorie schon beim Humanismus oder bei William of Ockham oder bei der Konstantinischen Wende an. Die Protestanten praktisch direkt nach Paulus, da haben dann schon manche Kirchenväter Christus angeblich aus dem Blick verloren. Dekadenztheorien sind gut, insoweit sie gewisse Missverständnisse und Reformbedarf („Rückkehr zu den Wurzeln“) aufzeigen können, aber man darf sie nicht verabsolutieren.
Vielleicht näherst du dich auch gerade wegen dieses Generalverdachts gegenüber der „gottabgewandten“ Vernunft und Emanzipation in der Frage der Willensfreiheit und Prädestination der lutherischen Position an, indem du den freien Willen zum Guten quasi denjenigen vorbehältst, die von Gott die Gnade des Glaubens erhalten haben (ist nur mein Eindruck).
Ein Pastor (zufällig im Internet gefunden) erwähnt übrigens ein interessantes Bild, das Luther verwendet:
Der ev. Prediger Dietmar Kehlbreier hat geschrieben:Luther hat das Bild vom Ross und Reiter aufgenommen, als er mit dem Humanisten Erasmus um den freien Willen stritt: Hinsichtlich seines Willens kann sich der Mensch gar nicht frei bewegen, sondern ist immer wie ein Reiter auf einem Reittier. Entscheidend ist allein, ob das Tier, das er reitet, Gott ist oder der Teufel.
Ist es Gott, der den Menschen lenkt, will der Mensch und geht der Mensch, wohin Gott will. Der Christ wird dann gar nicht anders können. Modern gesagt: Er wird sein Gewissen nicht steuern können, weil es an Gott gebunden ist.
Auf den ersten Blick scheint dieses doch ziemlich geniale Bild im Hinblick auf Luthers Postulat „einer gänzlichen Wirkungslosigkeit des Willens in jeglicher Hinsicht (
simpliciter non posse)“ (Schockenhoff ebda.) daran zu kranken, dass der Reiter dem Willen des Reittiers nach Luther völlig ausgeliefert erscheint und offenbar keinen Zügel besitzt, um es seinem Willen entsprechend zu lenken. Das mag bei einem Teufelsrappen ohnehin schwierig bis unmöglich sein, aber wenn Gott einem in seiner Gnade ein gutes Pferd aussucht, wird sich der Reiter doch erfahrungsgemäß trotzdem nicht einfach dorthin tragen lassen, wo das Tier hin will, sondern versuchen, es selbst zu lenken. Damit hinge es weiterhin von seinem Willen ab, wo die Reise hingeht.
Ins Unreine gesprochen würde ich daher sagen: Luther macht den Fehler, dass er das Pferd für Gott (oder den Teufel) hält; wir würden eher meinen, dass Gott das Pferd aussucht und dem Reiter auch noch eine Reitgarnitur und ein paar Grundkenntnisse darüber mitgibt, wie man es richtig führen kann. Entscheiden, ob er auf dem Weg Gottes reiten will, muss der Reiter aber dann selber.