Gefälschte Bibel? - Texte im NT

Schriftexegese. Theologische & philosophische Disputationen. Die etwas spezielleren Fragen.
Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Gefälschte Bibel? - Texte im NT

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Seid ihr beim Lesen der Heiligen Schrift nach der Einheitsübersetzung schon einmal über gewisse merkwürdige Lücken gestolpert? Zum Beispiel diese:
Die Einheitsübersetzung hat geschrieben:Mc 9,43 Wenn dich deine Hand zum Bösen verführt, dann hau sie ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Händen in die Hölle zu kommen, in das nie erlöschende Feuer.
44 []
45 Und wenn dich dein Fuß zum Bösen verführt, dann hau ihn ab; es ist besser für dich, verstümmelt in das Leben zu gelangen, als mit zwei Füßen in die Hölle geworfen zu werden.
46 []
47 Und wenn dich dein Auge zum Bösen verführt, dann reiß es aus; es ist besser für dich, einäugig in das Reich Gottes zu kommen, als mit zwei Augen in die Hölle geworfen zu werden,
48 wo ihr Wurm nicht stirbt und das Feuer nicht erlischt.
Wo sind nur die Verse 44 und 46 geblieben? – Schauen wir dagegen Luther an:
Dr. Martin Luther hat geschrieben:Mc 9,43 So dich aber deine Hand ärgert, so haue sie ab. Es ist dir besser, daß du als ein Krüppel zum Leben eingehest, denn daß du zwo Hände habest und fahrest in die Hölle, in das ewige Feuer,
44 da ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlischt.
45 Ärgert dich dein Fuß, so haue ihn ab. Es ist dir besser, daß du lahm zum Leben eingehest, denn daß du zween Füße habest und werdest in die Hölle geworfen, in das ewige Feuer,
46 da ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlischt.
47 Ärgert dich dein Auge, so wirf's von dir. Es ist dir besser, daß du einäugig in das Reich Gottes gehest, denn daß du zwei Augen habest und werdest in das höllische Feuer geworfen,
48 da ihr Wurm nicht stirbt und ihr Feuer nicht verlischt.
Aha! Da haben wir sie, die beiden verschwundenen Verse. – Stimmt gar nicht, wendet einer ein: In meiner Lutherbibel stehen die Verse auch nicht! – Tja, erwidere ich, da hast du eine „revidierte“ Lutherbibel. Bei der Elberfelder würdest du’s ganz ähnlich finden: In der alten stehen die Verse noch, in der „revidierten“ nicht mehr.

Woher also kommen diese Revisionen, hier: die Streichung zweier Verse, in nahezu allen neueren Bibelausgaben, eingeschlossen die sogenannte Nova Vulgata? – Blicken wir in den Text.
Nestle/Aland hat geschrieben:Mc 9,43 Καὶ ἐὰν σκανδαλίζῃ σε ἡ χείρ σου, ἀπόκοψον αὐτήν· καλόν ἐστίν σε κυλλὸν εἰσελϑεῖν εἰς τὴν ζωὴν ἢ τὰς δύο χεῖρας ἔχοντα ἀπελϑεῖν εἰς τὴν γέενναν, εἰς τὸ πῦρ τὸ ἄσβεστον.
45 καὶ ἐὰν ὁ πούς σου σκανδαλίζῃ σε, ἀπόκοψον αὐτόν· καλόν ἐστίν σε εἰσελϑεῖν εἰς τὴν ζωὴν χωλὸν ἢ τοὺς δύο πόδας ἔχοντα βληϑῆναι εἰς τὴν γέενναν.
47 καὶ ἐὰν ὁ ὀϕϑαλμός σου σκανδαλίζῃ σε, ἔκβαλε αὐτόν· καλόν σέ ἐστιν μονόϕϑαλμον εἰσελϑεῖν εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ ϑεοῦ ἢ δύο ὀϕϑαλμοὺς ἔχοντα βληϑῆναι εἰς τὴν γέενναν,
48 ὅπου ὁ σκώληξ αὐτῶν οὐ τελευτᾷ καὶ τὸ πῦρ οὐ σβέννυται·
Hm. Da fehlen die Verse also auch. Schaut man genauer hin, findet man sie im Apparat wieder. Ausgesondert als spätere Hinzufügung. Nun ist Nestle/Aland keine eigentlich wissenschaftliche Edition, sondern eine verkürzende Kompilation anderer, umfangreicherer kritischer Ausgaben. Dort aber – bei Tischendorf, Westcott/Hort, Soden – zeigt sich überall derselbe Befund. Die Verse 44 und 46 sind in den Apparat verbannt, als nachträglich eingedrungene doppelte Vorwegnahme des ursprünglich erst in Vers 48 erscheinenden Isaias-Zitats.

Man könnte einmal fragen, ob es – nach den Faustregeln der historischen Textkritik – denn wahrscheinlich sei, daß ein Vers derart verdreifacht werde. Liegt nich das umgekehrte näher, daß ein Abschreiber oder Redaktor die merkwürdige Wiederholung „glättet“, den Vers also zweimal wegläßt und bloß das letzte Mal stehen läßt?

Wer aufgepaßt hat, dem ist oben noch ein weiterer Unterschied zwischen der Einheitsübersetzung und dem originalen Luther aufgefallen: Luther hat am Ende von Vers 45 noch zusätzlich die Worte: »in das ewige Feuer«, wie in Vers 43, und am Ende des Verses 47 statt »in die Hölle« »in das höllische Feuer«.

Aus welcher griechischen Vorlage hat denn nun, zum Donnerwetter, Luther die längere Fassung, samt den Versen 44 und 46 und den Schlüssen der Verse 45 und 47? – Schauen wir in den sogenannten Textus receptus, welcher sozusagen das Ergebnis der byzantinischen Tradition darstellt:
Der Textus receptus hat geschrieben:Mc 9,43 Καὶ ἐὰν σκανδαλίζῃ σε ἡ χείρ σου, ἀπόκοψον αὐτήν· καλόν σοί ἐστι κυλλὸν εἰς τὴν ζωὴν εἰσελϑεῖν, ἢ τὰς δύο χεῖρας ἔχοντα ἀπελϑεῖν εἰς τὴν γέενναν, εἰς τὸ πῦρ τὸ ἄσβεστον,
44 ὅπου ὁ σκώληξ αὐτῶν οὐ τελευτᾷ καὶ τὸ πῦρ οὐ σβέννυται.
45 καὶ ἐὰν ὁ πούς σου σκανδαλίζῃ σε, ἀπόκοψον αὐτόν· καλόν ἐστί σοι εἰσελϑεῖν εἰς τὴν ζωὴν χωλὸν, ἢ τοὺς δύο πόδας ἔχοντα βληϑῆναι εἰς τὴν γέενναν, εἰς τὸ πῦρ τὸ ἄσβεστον,
46 ὅπου ὁ σκώληξ αὐτῶν οὐ τελευτᾷ καὶ τὸ πῦρ οὐ σβέννυται.
47 καὶ ἐὰν ὁ ὀϕϑαλμός σου σκανδαλίζῃ σε, ἔκβαλε αὐτόν· καλόν σοί ἐστι μονόϕϑαλμον εἰσελϑεῖν εἰς τὴν βασιλείαν τοῦ Θεοῦ, ἢ δύο ὀϕϑαλμοὺς ἔχοντα βληϑῆναι εἰς τὴν γέενναν τοῦ πυρός,
48 ὅπου ὁ σκώληξ αὐτῶν οὐ τελευτᾷ καὶ τὸ πῦρ οὐ σβέννυται.
Nehmen wir dazu noch die Vulgata, die damit erstaunlich exakt übereinstimmt (lediglich die Verszählung ist um eins verschoben, weil die Vulgata den Vers 9,1 des Textus receptus als letzten Vers des Kapitels 8 zählt):
Hieronymus hat geschrieben:Mc 9,42 Et si scandalizaverit te manus tua, abscide illam; bonum est tibi debilem introire in vitam, quam duas manus habentem ire in gehennam, in ignem inextinguibilem,
43 ubi vermis eorum non moritur et ignis non extinguitur.
44 et si pes tuus te scandalizat, amputa illum ; bonum est tibi claudum introire in vitam æternam, quam duos pedes habentem mitti in gehennam ignis inextinguibilis,
45 ubi vermis eorum non moritur et ignis non extinguitur.
46 quod si oculus tuus scandalizat te, ejice eum; bonum est tibi luscum introire in regnum Dei, quam duos oculos habentem mitti in gehennam ignis,
47 ubi vermis eorum non moritur et ignis non extinguitur.
Wie also kommen demgegenüber die „kritischen“ Editoren dazu, jene Kürzungen und Versstreichungen vorzunehmen? – Die Grundlage bilden lediglich zwei wichtige Codices, der Sinaiticus und der Vaticanus, die allerdings beide eng verwandt sind und einem gemeinsamen Redaktionsstrang angehören (dem Alexandrinischen); hinzu kommen nur noch wenige unbedeutendere Handschriften sowie unter den Übersetzungen die koptische und Teile der äthiopischen und armenischen Tradition.

Der Rest der griechischen Überlieferung enthält die angeblichen Zusätze, auch ein so alter Zeuge wie der Codex Alexandrinus Petropolitanus (der freilich nicht die alexandrinische Redaktion widerspiegelt, sondern eine Mischform darstellt, bei Überwiegen der Varianten aus dem antiochenisch-constantinopolitanischen Strang).

Ebenso haben Verse 44 und 46 sowie die längere Form der Verse 45 und 47 die „altlateinischen“ Übersetzungen, die syrischen Fassungen und die gotische Übersetzung des Wulfila. Bei den Kirchenvätern und -schriftstellern der Väterzeit zeigt sich dasselbe Bild. Augustin weist einmal – nach Zitation der Langfassung – sogar ausdrücklich auf das dreifache Prophetenzitat hin:
Augustinus (civ. Dei XXI,9) hat geschrieben:Quod igitur de sempiterno supplicio damnatorum per suum Prophetam Deus dixit, fiet, omnino fiet: „Vermis eorum non morietur et ignis eorum non exstinguetur“. Ad hoc enim vehementius commendandum etiam Dominus Iesus, cum membra quae hominem scandalizant pro his hominibus poneret, quos ut sua membra dextra quis diligit, eaque praeciperet amputari: „Bonum est tibi“, inquit, „debilem introire in vitam quam duas manus habentem ire in gehennam, in ignem inexstinguibilem, ubi vermis eorum non moritur et ignis non exstinguitur“. Similiter de pede: „Bonum est tibi“, inquit, „claudum introire in vitam aeternam quam duos pedes habentem mitti in gehennam ignis inexstinguibilis, ubi vermis eorum non moritur et ignis non exstinguitur“. Non aliter ait et de oculo: „Bonum est tibi luscum introire in regnum Dei quam duos oculos habentem mitti in gehennam ignis, ubi vermis eorum non moritur et ignis non exstinguitur“. Non eum piguit uno loco eadem verba ter dicere. Quem non terreat ista repetitio et illius poenae commendatio tam vehemens ore divino?
Wie hätte wohl Augustin die Entscheidung der heutigen Schlauberger beurteilt, diese Verse aus der Heiligen Schrift hinauszuwerfen?
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Benedictus
Beiträge: 281
Registriert: Mittwoch 27. April 2005, 14:11
Wohnort: Bistum Münster

Beitrag von Benedictus »

Damit bestätigt sich dann mal wieder mein Verdacht, dass es sich bei der Einheitsübersetzung um ein auf Schmusekurs revidiertes Werk handelt, übertroffen wohl nur noch von der "Guten Nachricht".

Gruss, Benedictus

Benutzeravatar
Juergen
Beiträge: 26999
Registriert: Mittwoch 1. Oktober 2003, 21:43

Re: Gefälschte Bibel?

Beitrag von Juergen »

Robert Ketelhohn hat geschrieben:Man könnte einmal fragen, ob es – nach den Faustregeln der historischen Textkritik – denn wahrscheinlich sei, daß ein Vers derart verdreifacht werde. Liegt nich das umgekehrte näher, daß ein Abschreiber oder Redaktor die merkwürdige Wiederholung „glättet“, den Vers also zweimal wegläßt und bloß das letzte Mal stehen läßt?
Nun, wenn wie schon bei Fausregeln sind:
Die Fausregel besagt eigentlich, daß der kürzere Text in der Regel der ältere oder bessere ist (lectio brevior potior), da die Abschreiber - so wird argumentiert - viel zu viel Ehrfurcht vor dem Text hatten, als daß sie eigenmächtig etwas gestrichen hätten. Etwas doppelt abschreiben oder etwas hinzufügen traut man ihnen eher zu :roll:
Bekanntestes Beispiel ist der wohl aus lit. Tradition stammende Zusatz zum Vater unser: "denn Dein ist das Reich...."

Aber wie gesagt: es ist nur eine Faustregel.
Gruß Jürgen

Dieser Beitrag kann unter Umständen Spuren von Satire, Ironie und ähnlich schwer Verdaulichem enthalten. Er ist nicht für jedermann geeignet, insbesondere nicht für Humorallergiker. Das Lesen erfolgt auf eigene Gefahr.
- Offline -

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Jürgen hat geschrieben:Nun, wenn wie schon bei Faustregeln sind: Die Faustregel besagt eigentlich, daß der kürzere Text in der Regel der ältere oder bessere ist (lectio brevior potior), da die Abschreiber - so wird argumentiert - viel zu viel Ehrfurcht vor dem Text hatten, als daß sie eigenmächtig etwas gestrichen hätten. Etwas doppelt abschreiben oder etwas hinzufügen traut man ihnen eher zu. Bekanntestes Beispiel ist der wohl aus lit. Tradition stammende Zusatz zum Vater unser: "denn Dein ist das Reich...." Aber wie gesagt: es ist nur eine Faustregel.
Siehe deinen Beitrag vom 29. Nov 2003 und meine Antwort darauf.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Juergen
Beiträge: 26999
Registriert: Mittwoch 1. Oktober 2003, 21:43

Beitrag von Juergen »

Kloppen wir doch einfach die Exegese in die Tonne, und jeder macht was er beliebt. :D

Wir huldigen dem Ketelhohn:
Nestle, Aland, Tischendorf,
Westcott, Hort, und Soden
sind alles Idioden.

Ne, Robert, Du rennst hier gegen die anerkanntesten Schriftkundler an.
Aber es sei Dir gegönnt: Alle irren. Du hast Recht.


Teile deine Erkenntnisse bitte umgehend dem Neutestamentlichen Institut in Münster mit
intf@uni-muenster.de
http://www.uni-muenster.de/NTTextforschung/
Gruß Jürgen

Dieser Beitrag kann unter Umständen Spuren von Satire, Ironie und ähnlich schwer Verdaulichem enthalten. Er ist nicht für jedermann geeignet, insbesondere nicht für Humorallergiker. Das Lesen erfolgt auf eigene Gefahr.
- Offline -

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Jürgen hat geschrieben:Wir huldigen dem Ketelhohn
Nee, Jürgen, nicht Huldigung erwarte ich, sondern sachliche Argumente, möglichst auch Gegenargumente.

Bei Tischendorf, Westcott/Hort und im Anschluß auch Nestle/Aland geht es – unter Verwerfung des historisch vorliegenden, kirchlich anerkannten Textes – um die Suche nach dem vermeintlichen „Urtext“. Das ist prinzipiell sehr anfechtbar, erst recht aber die Grundsatzentscheidung, die vom Vaticanus und Sinaiticus repräsentierte Rezension im wesentlichen als diesen Urtext zu anzusetzen.

Soden – der, soweit ich’s beurteilen kann, kaum wirklich rezipiert wurde, vielleicht weil sein gigantisches Unternehmen zu anspruchsvoll ist – verwirft diese Entscheidung übrigens vollständig. Wenn er im obigen Fall (Mc 43-48) zum selben Ergebnis gelangt, dann aus ganz andern Gründen. Soden kann ich bis zu seiner Rekonstruktion dreier hauptsächlicher Rezensionen – der alexandrinischen (bei ihm H), der palästinischen (I) und der antiochenisch-byzantinischen oder „Koiné“ (K) – durchaus folgen. Er trifft sich darin übrigens – nach einem langen, anstrengenden Weg zahlloser Kollationen – mit der Lagebeschreibung des Hieronymus zur Zeit des Beginns der Arbeiten an der Vulgata.

Weiter wird es auch bei von Soden nach meinem Dafürhalten überaus vage und spekulativ. Für die Ansetzung seines „I-H-K“-Textes als mutmaßlicher Grundlage der drei Redaktionen trifft er Annahmen, die alles andere als zwingend sind und aufgrund derer er zahlreiche K-Varianten als Bearbeitungen oder Ergänzungen ausscheidet.

Um das Problem zu lösen, daß anderssprachige Übersetzungen, namentlich Afra, Itala und die syrischen Fassungen sowie auch die alten Kirchenschriftsteller oft K-Formen bieten, die es eigentlich – weil die K-Redigierung später erfolgte – noch gar nicht hätte geben dürfen, führt er Tatians Diatessaron als Schlüssel ein, das diese älteren Varianten ebenso wie jene der späteren K-Redaktion geliefert habe.

Mich überzeugt der durchaus interessante und diskutable Vorschlag nicht, weil er einerseits eine Rezeption Tatians durch Irenæus voraussetzt und weil anderseits die Quellenbasis bei den vor-tatianischen Schriftstellern, bei denen die „Tatianismen“, dann ja fehlen müßten, zu dünn ist, um aussagekräftig zu sein.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Aber ich wollte eigentlich nicht derart tief in die Fachprobleme einsteigen. Darum erst noch einmal ein anderes Beispiel:
Die Einheitsübersetzung hat geschrieben:Eph 4,6 ein Gott und Vater aller, der über allem und durch alles und in allem ist
Dagegen Luther:
Eph 4,6 ein Gott und Vater (unser) aller, der da ist über euch alle und durch euch alle und in euch allen
„Euch“ oder nicht „euch“, das ist hier die Frage. – Betrachten wir wieder die griechischen Versionen:
Nestle/Aland hat geschrieben:Eph 4,6 εἷς ϑεὸς καὶ πατὴρ πάντων, ὁ ἐπὶ πάντων καὶ διὰ πάντων καὶ ἐν πᾶσιν
Der [i]Textus receptus[/i] hat geschrieben:Eph 4,6 εἷς Θεὸς καὶ πατὴρ πάντων, ὁ ἐπὶ πάντων καὶ διὰ πάντων καὶ ἐν πᾶσιν ὑμῖν
Ich will hier nun nicht die einzelnen Codices herbeten, sondern kurz zusammenfassen. Das Bild entspricht in groben Zügen dem, daß ich oben für Mc 9,43-48 gezeichnet habe. Die kritischen Editionen stützen sich auf wenige Zeugen der alexandrinischen Rezension. Bei den übrigen überwiegt allerdings nicht das »ὑμῖν – euch« des Textus receptus in seinem „Endzustand“, sondern »ἡμῖν – uns«; so auch die Vulgata.

»In uns allen« oder »in euch allen« (ob Paulus sich also rhetorisch miteinbezieht oder nicht, bzw. ob er „uns Gläubige“ generell anredet oder pars pro toto nur die Kirche von Ephesus) – das ist kein entscheidender Unterschied. Die eigentliche Frage ist: Ist πάντων und πᾶσιν Neutrum oder Maskulinum? Ist Gott in allem – oder in allen Gläubigen?

Luther legte solchen Wert darauf, daß alle Gläubigen gemeint seien, daß er das „euch“ zur Verdeutlichung gleich dreimal setzte. Recht hatte er, meine ich. Was aber bezwecken die modernen Editoren und Übersetzer?
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Juergen
Beiträge: 26999
Registriert: Mittwoch 1. Oktober 2003, 21:43

Beitrag von Juergen »

Robert Ketelhohn hat geschrieben:
Jürgen hat geschrieben:Wir huldigen dem Ketelhohn
Nee, Jürgen, nicht Huldigung erwarte ich, sondern sachliche Argumente, möglichst auch Gegenargumente.
...
...
Die Frage ist doch einfach: Was will und was kann eine Ausgabe wie Nestle/Aland leisten?

Sie will sicherlich dem am "Urtext" (ich schreib das Wort mal so lapidar, weil es sich eingebürgert hat) interessierten Leser eine Textgrundlage bieten.
Die Ausgabe trifft dabei notgedrungen mehrere Entscheidungen:
1) Für welchen Text entscheide ich mich im Zweifelsfall
2) Wie biete ich Abweichungen dar
3) Welche Abweichungen sind von Interesse.

In dieser Hinsicht macht m.E. der Nestle/Aland seine Arbeit nicht schlecht.
Man hat einen durchgehenden Text. Größere Abweichungen in den Fußnoten. Notfalls kann man noch einen Blick in den Anhang "Variae lectiones minores" werfen und auch zu anderen Editionen gibt er Hinweise "Editionum differentiae: Tischendorf, Wescott/Hort, Soden, Vogels, Merk, Bover und der 25. Auflage seiner selbst).

Aufgrund der dargebotenen Informationen kann sich der Leser in vielen (Zweifels)Fällen ein eigenes Bild machen. Vielleicht teilt er die Entscheidung von Nestle/Aland oder er teilt sie nicht.

Was will man mehr erwarten von einem dünnen Büchlein?

Natürlich kann man weitere Ansprüche stellen und weitere Anfragen, ob etwa die Zusammenfassung in Schriftfamilien immer gut ist - um nur eine Sache zu nennen.

Aber ich denke, wer "alles" haben will, der braucht kein "dünnes Büchlein", sondern eine Bibliothek. Zu nennen wäre z.B. die "Novum Testamentum Graecum. Editio critica maior"

Notfalls muß man dann doch den Weg in die nächste Bibliothek einschlagen und in Spezialwerken nach den gesuchten Informationen fahnden; oder auch mal direkt nach Münster fahren...


Den Nestle/Aland soll es demnächst auch auf CD-Rom geben. Vielleicht ist der da ausführlicher? :hmm:

Hast Du Dir mal folgende Seite angeguckt:
http://nestlealand.uni-muenster.de/AnaS ... +start.anv

Wenn es das mal für das gesamte NT geben würde, das wäre doch mal was - woll?
Zuletzt geändert von Juergen am Dienstag 2. August 2005, 11:43, insgesamt 1-mal geändert.
Gruß Jürgen

Dieser Beitrag kann unter Umständen Spuren von Satire, Ironie und ähnlich schwer Verdaulichem enthalten. Er ist nicht für jedermann geeignet, insbesondere nicht für Humorallergiker. Das Lesen erfolgt auf eigene Gefahr.
- Offline -

Benutzeravatar
Ewald Mrnka
Beiträge: 7001
Registriert: Dienstag 30. November 2004, 11:06

Beitrag von Ewald Mrnka »

Am besten ist es, wenn man möglichst viele verschiedene Bibelausgaben hat; ich konnte selbst auch schon Textvarianten erkennen, die den Inhalt ganz erheblich verändern. Der Zeitgeist und die political correctness wirken sich zu allen Zeiten aus. Ich habe gehört, daß man die ganze Bibel "geschlechtsneutral" umschreiben will. Ich bin gespannt, wann man das Johannesevangeluim "läutert".

Benutzeravatar
Juergen
Beiträge: 26999
Registriert: Mittwoch 1. Oktober 2003, 21:43

Beitrag von Juergen »

Ewald Mrnka hat geschrieben:Am besten ist es, wenn man möglichst viele verschiedene Bibelausgaben hat;...
Es ist natürlich schonmal gut, wenn verschiedene Übersetzungen zur Verfügung hat. Da kann man dann auch oft schon Abweichungen erkennen.
Aber damit weiß man naütlich nicht, welche Übersetzung jetzt die "richtige" ist.


Ich will mal etwas ausholen, da hier im Forum sich sicher der ein oder andere fragt:
"Worüber reden die eigentlich? Ich hab meine Bibel doch im Schrank stehen und da guck ich rein."


Der Nestle-Aland (Novum Testamentum Graece; 27. Aufl.) listet nicht weniger als
- 98 Papyri (P+Zahl) etwa bis ins 8. Jh.
- 301 Majuskeln (01, 02,...) etwa 4.-9. Jh.
- über 2800 Minuskeln (1,2,3...) etwa 9.-15 Jh
- sowie viele Lektionare
auf.

Und keine dieser Handschriften stimmt 100% mit einer anderen überein.

Es lassen sich aber im wesentlichen 3 (oder 4) Traditionsstränge ausmachen:

1) der sog. alexandrinische Texttyp. Er wird im wesentlichen vertreten durch Papyri P66 und P75, sowie die Codices B, א, A (Apg) und einige koptische Übersetzungen. Der Text ist meist kürzer als andere Texttypen.

2) der sog. westliche Texttyp. Er wird vertreten durch die Codices D, W (für Mk 1,1-5,30), die Papyri P38 und P48 und altlateinische Übersetzungen. Er ist auch bei einigen lat. Kirchenvätern/Kirchenschriftstellern belegt. Gerade Codex D ist nicht ganz unproblematisch. Er hat teils Paraphrasen, Umstellungen, Korrekturen.
Die Apostelgeschichte ist etwa insgesamt 10% länger als in anderen Handschriften.

3) der sog. byzantinische Texttyp. Der Texttyp wird oft einfach als Koine bezeichnet oder als Mehrheitstext. Er ist vielfach belegt etwa durch die Handschriften A (Evangelien), E, F, G, H, K, etc. etc.

4) Manche Forscher meinen es gäbe noch einen 4. Texttyp: Der sog. Texttyp von Caesarea wird vertreten durch Papyrus P45 und die Handschriften Θ und W (Mk 5,31-16,20)


Der byzantinische Texttyp - Robert nennt ihn hier im Thread immer "textus receptus" - ist jener Text, der in der gr. Kirche auch für die Liturgie verwandt wird (soweit ich weiß). Er ist gut belegt und wenn man aus dem Griechischen übersetzt, dann ist es oft ratsam auch mal einen Blick in den Text zu werfen.

So könnte man meinen: alles klar! Nehmen wir doch einfach den Text.
Das hat man auch getan. Bis ins 18. Jh. hinein. Es gab auch einige textkritische Ausgaben etwa won Bengel (1734) oder Wettstein (1751). Wettsteins Ausgabe wurde 1962 sogar nochmals gedruckt.

Aber dann hat uns die Textforschung ein Problem bereitet. Ein Problem, daß auf gewissen Entscheidungen beruht, die man im Nachhinein durchaus als zumindest zweifelhaft ansehen kann.

Ich will jetzt nicht auf die ganze Textgeschichte und die Anfänge der Textkritik etc. eingehen. Nur ganz kurz zu dem Thema.
Man könnte sich ja die Frage stellen, warum sucht man eigentlich nach dem "Urtext"?
Die Antwort ist m.E. eng mit der Reformation verbunden. Wenn man davon ausgeht, daß es ein "sola scriptura" Prinzip gibt, und man sogar von einer "wörtlichen Inspiration" ausgeht, dann MUSS man einfach versuchen, den Urtext zu finden, denn nur dieser ist dann ja "wörtlich inspiriert".
So machten sich also die Gelehrten auf die Suche nach alten und ältesten Texten, und sie wuden fündig.

Und so gab es im 19. Jh eine schwerwiegende Entscheidung: Tischendorf fand im Katharinenkloster am Sinai eine uralte Handschrift (den sog. Codex Siniaticus, abgekürzt mit א). Der Text gehört zum alexandrinischen Texttyp. Er hielt die Handschrift, welche aus dem 4. Jh. stammt für so authentisch, daß er diesen Text als Grundlage nahm, seine textkritische NT-Ausgabe danach auszurichten. Er nahm insgesamt einige Tausend "Verbesserungen" am Textus receptus vor.

Diese Entscheidung war so weitreichent, daß auch heute noch vieles auf dem Codex Siniaticus beruht, selbst wenn man inzwischen weiß, daß es nicht an allen Punkten der beste Text ist.

Aber genau dies spiegeld wieder, was Robert anfangs schrieb. In Zweifelsfällen beruft man sich gerne auf den alex. Texttyp. -- Ob's freilich gut ist, ist eine andere Frage.
Gruß Jürgen

Dieser Beitrag kann unter Umständen Spuren von Satire, Ironie und ähnlich schwer Verdaulichem enthalten. Er ist nicht für jedermann geeignet, insbesondere nicht für Humorallergiker. Das Lesen erfolgt auf eigene Gefahr.
- Offline -

Benutzeravatar
Ewald Mrnka
Beiträge: 7001
Registriert: Dienstag 30. November 2004, 11:06

Beitrag von Ewald Mrnka »

Ich lese gern die Texte der Lutherbibel von 1913. Die Sprache ist schön; sie spricht mich mehr an als die Sprache der Einheitsübersetzung.

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Ich bringe mal noch ein Beispiel:
Die Einheitsübersetzung hat geschrieben:Lc 4,17 reichte man ihm das Buch des Propheten Jesaja. Er schlug das Buch auf und fand die Stelle, wo es heißt:
18 Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze
19 und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe.
Franz Eugen Schlachter übersetzte dagegen noch:
Schlachter hat geschrieben:Lc 4,17 Und es wurde ihm das Buch des Propheten Jesaja gegeben; und als er das Buch auftat, fand er die Stelle, wo geschrieben steht:
18 «Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat; er hat mich gesandt, den Armen frohe Botschaft zu verkünden, zu heilen, die zerbrochenen Herzens sind, Gefangenen Befreiung zu predigen und den Blinden, daß sie wieder sehend werden, Zerschlagene in Freiheit zu setzen;
19 zu predigen das angenehme Jahr des Herrn.»
So auch Martin Luther:
Luther hat geschrieben:17 Da ward ihm das Buch des Propheten Jesaja gereicht. Und da er das Buch herumwarf, fand er den Ort, da geschrieben stehet:
18 Der Geist des Herrn ist bei mir, derhalben er mich gesalbet hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu heilen die zerstoßenen Herzen, zu predigen den Gefangenen, daß sie los sein sollen, und den Blinden das Gesicht und den Zerschlagenen, daß sie frei und ledig sein sollen,
19 und zu predigen das angenehme Jahr des Herrn.
Aus dem revidierten Luthertext hat man die Heilung der gebrochenen Herzen ebenso entfernt wie aus der Einheitsübersetzung. In der Elberfelder Bibel fehlten sie gar schon in der unrevidierten Fassung.

Das Prinzip ist dasselbe wie bei den vorigen Beispielen. Man folgt den Auslassungen der Codices Sinaiticus und Vaticanus gegen die breite Überlieferung. Wiederum meint man, die kürzere Lesart müsse die bessere sein. Aber weshalb hätte Jesus (oder Lucas) einen Teil des Isaias-Zitats auslassen sollen? Lucas konnte ja in den Text der LXX schauen, falls er’s nicht im Kopf hatte.

Was aber haben die modernen Editoren im Kopf, wenn sie uns verschweigen, das Jesus gebrochene Herzen heilt?
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Juergen
Beiträge: 26999
Registriert: Mittwoch 1. Oktober 2003, 21:43

Beitrag von Juergen »

Robert Ketelhohn hat geschrieben:Das Prinzip ist dasselbe wie bei den vorigen Beispielen. Man folgt den Auslassungen der Codices Sinaiticus und Vaticanus gegen die breite Überlieferung. Wiederum meint man, die kürzere Lesart müsse die bessere sein. Aber weshalb hätte Jesus (oder Lucas) einen Teil des Isaias-Zitats auslassen sollen? Lucas konnte ja in den Text der LXX schauen, falls er’s nicht im Kopf hatte.

Was aber haben die modernen Editoren im Kopf, wenn sie uns verschweigen, das Jesus gebrochene Herzen heilt?
Du hast vielleicht eine Begründung des dort angewandten Prinzips, daß die kürzere Fassung die "bessere" ist, schon beantwortet.

Es kann ja genausogut sein, daß eben der Kopist das gesamte Zitat im Kopf hatte und dann auswendig hingeschrieben hat. Die Kopisten waren ja meist keine "Buchstabenabmaler", sondern Mönche oder ähnliches, die viel mit dem Text umgingen und viel im Kopf hatten.

Oder er hatte in anderen Fällen vielleicht eine längere Matthäusfassung im Kopf und fügt dann beim kürzeren Markustext einen Teil der Matthäusfassung mit ein.
Oder er hat einen Text im Kopf (z.B. aus der Liturgie) und fügt beim Vater unser den Text "Denn dein ist das Reich..." an.

Freilich, ob generell annehmen kann, daß die kürzere Fassung die bessere ist, ist fraglich. Aber vielleicht gibt es gute Gründe für die Annahme.

Ich will und kann das nicht entscheiden. Vielleicht muß man dazu tatsächlich alle zur Verfügung stehenden Texte nebst der Sekundärtexte (Kirchenväter) vergleichen und kann sich dann ein Bild machen.
Aber ich bin kein Textforscher, wie die wenigsten von uns. Wir können hier nur mutmaßen. Der eine tendiert eher zu der einen Fassung (mit guten Gründen) der andere zu der anderen (mit ebensoguten Gründen).
Gruß Jürgen

Dieser Beitrag kann unter Umständen Spuren von Satire, Ironie und ähnlich schwer Verdaulichem enthalten. Er ist nicht für jedermann geeignet, insbesondere nicht für Humorallergiker. Das Lesen erfolgt auf eigene Gefahr.
- Offline -

Benutzeravatar
Juergen
Beiträge: 26999
Registriert: Mittwoch 1. Oktober 2003, 21:43

Beitrag von Juergen »

Ein Fast-Schlußwort meinerseits (vielleicht hat Robert noch mehr): ;-)

Ich denke, wir kommen hier nicht viel weiter. Wie können verschiedene Traditionsstränge herausarbeiten. Vielleicht auch Gründe für die eine oder andere Textüberlieferung finden, aber entscheiden, was nun der "richtige" Text ist, können wir nur schwerlich oder gar nicht.
Gruß Jürgen

Dieser Beitrag kann unter Umständen Spuren von Satire, Ironie und ähnlich schwer Verdaulichem enthalten. Er ist nicht für jedermann geeignet, insbesondere nicht für Humorallergiker. Das Lesen erfolgt auf eigene Gefahr.
- Offline -

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Neulich wurde ich anderswo mit der Behauptung konfrontiert, der
Epheserbrief stamme keineswegs aus der Feder Pauli. Das kam nun
nicht etwa von Kirchenfeinden, sondern aus gut katholischen Kreisen
konservativen Gepräges.

Es sei, so sagte man, egal, ob Paulus oder einer seiner Schülersschüler
diesen oder jenen Brief geschrieben habe, wichtig sei nur, daß die Kir-
che bezeuge, daß dieser Text Heilige Schrift sei.

Vielleicht ist das auch hier von Interesse; darum skizziere ich einmal
die wichtigsten Argumentationspunkte. – Zunächst wandte ich ein,
diese Haltung, die paulinische Authentizität als unerheblich abzutun,
sei doch reichlich kurzsichtig. Immerhin gebe der Verfasser sich sehr
klar als der Apostel Paulus aus.

Wäre das unwahr, folgerte ich, wäre der Autor ein Lügner und die
Kirche auf ihn hereingefallen. Kurz, vom Glauben her stehe und falle
damit die ganze Kirche, sofern sie nicht irgendein Verein unter andern,
sondern der Weg, die Wahrheit und das Leben sein solle.

Soweit die Argumente aus Glaubenssicht. Wissenschaftlich und text-
kritisch, schloß ich, dieses Feld zunächst bloß streifend, seien die Ar-
gumente gegen eine Verfasserschaft Pauli auch Unfug. Würden Alt-
philologen und Historiker mit denselben ideologischen Präsumptio-
nen an die profanen Texte der alten Römer und Griechen gehen, blie-
be von Cicero, Horaz oder Sophocles nicht viel übrig. – Soweit die er-
ste Runde der Debatte.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

So, zweiter Teil. – Es wurden Abschnitte aus dem Kommentar der
Einheitsübersetzung angeführt, um die Nicht-Authentizität des
Epheserbriefs zu untermauern:
Einheitsübersetzung hat geschrieben:
Beim Epheserbrief handelt es sich wohl um einen Rundbrief,
da die Erwähnung von „Ephesus“ (1,1) in zahlreichen Hand-
schriften fehlt. Die Empfänger sind sehr wahrscheinlich die
Christen Kleinasiens oder eines noch größeren Gebiets. Als
Abfassungsort kommt Ephesus in Frage.
Das Schreiben ist zwar wie ein Brief gestaltet, stellt aber nach
Stil und Inhalt eher eine feierliche Predigt dar. … Manche
Forscher nehmen daher an, daß dieses Schreiben von einem
Paulusschüler verfaßt wurde, der im Namen des Apostels
schrieb.
Ein bestimmter Anlaß für die Entstehung des Schreibens ist
nicht erkennbar. Das zentrale Thema des Briefs ist die Kir-
che, und zwar die weltweite Kirche. … Der Epheserbrief ent-
hält die bedeutendsten theologischen Aussagen im Neuen
Testament über die Kirche.
Die Erwähnung von Ephesus (die Worte ἐν ᾽Εϕέσῳ) fehlen nicht »in
zahlreichen Handschriften«, sondern in einer kleinen Minderheit der
Handschriften, darunter allerdings im Codex Sinaiticus und im Codex
Vaticanus
, die seit Tischendorf, jedoch ohne stichhaltigen Grund, ge-
meinsam mit dem Alexandrinus meist als die für den vermeintlichen
Urtext bedeutendsten angesehen werden. Beide, Sinaiticus und Vati-
canus
, überschreiben den Brief dennoch als Πρὸς Ἐϕεσίους („an
die Epheser“) und reihen ihn an der üblichen Stelle unter den Briefen
Pauli ein.

Auch Origines und Basilius dem Großen lag der Text des Epheserbriefs
übrigens ohne das ἐν ᾽Εϕέσῳ vor. Der Wortlaut ist so an der fraglichen
Stelle aber ohne Zweifel korrupt, wenn nicht ἐν ᾽Εϕέσῳ, dann müßte
da etwas anderes stehen. Origenes hat den Text allerdings so korrum-
piert, wie er ihm vorlag, hingenommen und mit tiefschürfenden Gedan-
ken einen Tiefensinn hineinzulesen versucht.

Die einfachere und überaus naheliegende Erklärung ist dagegen natür-
lich, daß hier bei irgendeiner Rezension zwei Wörter ausgefallen sind
und dies sich in einem Teil wohl des alexandrinischen Überlieferungs-
strang zunächst fortgepflanzt hat, bis infolge stärkeren Einflusses der
Constantinopolitaner Rezension allmählich die Abschreiber auch die
Exemplare abweichender Rezension korrigierten.

Die Erklärung, daß hier die Fassung mit den Wörtern ἐν ᾽Εϕέσῳ den
ursprünglichen Text darstellt, ist also ganz eindeutig. Denn wo diese
beiden Wörter fehlen, fehlt dem Text jedenfalls irgendetwas, um syn-
taktisch korrekt und inhaltlich sinnvoll zu sein. Es gibt aber keinen
Zeugen, der dort eine andere Alternative bietet als eben ἐν ᾽Εϕέσῳ.

Die Vermutung des Kommentars zur Einheitsübersetzung, Ephesus
könne der Abfassungsort sein, ist völlig willkürlich und durch nichts zu
belegen. Ebenso grundlos ist die Behauptung, der Brief – daß er formal
ein solcher ist, wird wenigstens nicht bestritten – stelle »nach Stil und
Inhalt eher eine feierliche Predigt dar«. Natürlich kann man, was Paulus
dort darlegt, auch persönlich vortragen. Für die theologischen Darle-
gungen etwa des Römerbriefs gälte das eher nicht. Aber wenn ich nicht
vor Ort bin, kann ich das, was ich sonst vielleicht mündlich vortrüge,
auch aufschreiben und als Mahnschreiben verschicken.

Spezifischen Predigtstil vermag ich überhaupt nicht zu entdecken. Es
müßte sich denn um eine hoch stilisierte Predigt handeln. Aber auch
dieser fehlten die Kennzeichen, die solche stilisierten (nicht wirklich
gehaltenen oder nachträglich bearbeiteten) Predigten üblicherweise
tragen, namentlich jeder Bezug auf anwesende Zuhörer. Aber wie auch:
ist der Text doch offensichtlich nach allen formalen Regeln als Brief ge-
schrieben und will nichts anderes sein. Schließlich weicht auch die Spra-
che des Epheserbriefs, also die Verwendung des Griechischen – anders
als beim Hebräerbrief – nicht wesentlich von dem ab, was wir sonst von
Paulus kennen.

Damit erweist sich das ganze als uralter Hut, ohne jegliche neue Sub-
stanz, aufgehängt lediglich an dem Fehlen zweier Wörtlein in einigen
Handschriften. Darüber war schon Origines vor einem und einem drei-
viertel Jahrtausend einmal gestolpert. Auch Hieronymus hat das durch-
gekaut. Und an dieser uralten Ladenhüter knüpfen unsere neunmalklu-
gen, ach so modernen Exegeten nun weitestreichende Schlußfolgerun-
gen! Lebten wir nicht in Zeiten, wo man den Menschen den dümmsten
Mist mühelos unterjubeln kann, wäre es keinen müden Lacher wert.

So viel zunächst zum Epheserbrief. – Im selben Atemzug wurde dann
auch gleich noch, als Argument hinsichtlich des Epheserbriefs offenbar,
der Hebräerbrief ins Feld geführt, als handele es sich bei dessen Proble-
matik nicht um eine völlig andere Sache. Wieder kam man mit dem
Kommentar zur Einheitsübersetzung:
Einheitsübersetzung hat geschrieben:
Beim Epheserbrief handelt es sich wohl um einen Rundbrief,
… [Es wurde] früher vermutet, .. [der Hebräerbrief] stamme,
wenn nicht von Paulus selbst, von einem Mitarbeiter des
Paulus, etwa von Barnabas oder Apollos. Dies läßt sich je-
doch nicht nachweisen. Wegen des ausgezeichneten griechi-
schen Stils, der eingehenden Kenntnis des Alten Testaments
und der jüdisch beeinflußten Denk- und Darstellungsweise
ist als Verfasser ein griechisch gebildeter Judenchrist anzu-
nehmen, der von paulinischen Gedanken beeinflußt ist.
Den Hebräerbrief unterschiedet von den übrigen Paulinen zunächst
einmal, daß der Brieftext den Verfasser nicht nennt. Überhaupt fehlen
wesentliche Merkmale eines Briefs, auch die Adressaten. Erst am Ende
kommen wenigstens kurze Mahn- und Grußformeln. Der zweite große
Unterschied besteht darin, daß das Griechisch, in welchem der Text ab-
gefaßt ist, sich deutlich von der eher unbeholfenen Ausdrucksweise
Pauli abhebt.

Beides sind aber keine neuen Entdeckungen, sondern wurde schon zur
Väterzeit ausführlich diskutiert. Trotz dieser Diskussionen und man-
cher Einwendung – eben aus den genannten Gründen – schrieb die
Überlieferung den Hebräerbrief, soweit rückverfolgbar, von Anfang an
dem Heidenapostel zu. Auch der berühmte Codex Sinaiticus übrigens.
Er setzt ihn zwischen Thessalonicher- und Timotheusbriefe.

So uralt wie die Einwendungen gegen eine Autorschaft Pauli am Hebrä-
erbriefe sind auch die Gegenargumente, etwa von Hieronymus: Erstens
war Paulus bei vielen Judenchristen als „Zerstörer des Gesetzes“ ver-
schrien, was plausibel macht, daß entweder Paulus selbst sich gegen-
über den Judenchristen Palästinas nicht als Absender zu erkennen ge-
ben wollte oder – noch wahrscheinlicher – daß die dortigen Verantwort-
lichen den Brief ohne den „Briefkopf“ verteilten.

Zweitens schrieb der Verfasser eben an seine israelitischen Landsleute.
Weshalb hätte er sich da nicht des Aramäischen (oder vielleicht auch
des Hebräischen) bedienen sollen, was ja auch als Ursprache des Mat-
thæusevangeliums überliefert ist? – Wir hätten es also mit einer Überset-
zung zu tun, die ein Mitarbeiter Pauli angefertigt haben könnte – der
Grieche Lucas käme in Betracht –, aber auch ein hellenistischer Juden-
christ im Heiligen Land. Daß der vorliegende griechische Wortlaut des
Hebräerbriefs von Paulus stamme, hat die Kirche nie gelehrt, ebensowe-
nig wie sie lehrt, der griechische Wortlaut des Matthæusevangeliums
stamme von Matthæus. Beides sind mit hoher Wahrscheinlichkeit früh-
kirchliche Übersetzungen.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Sachliche Erwiderungen kamen erwartungsgemäß nicht. Vielmehr er-
neut die Frage, was denn um Himmels willen überhaupt so schlimm
daran sei, wenn wirklich nicht alle Paulus-Briefe tatsächlich von Paulus
stammten; es seien darum doch keine Fälschungen.

Eigentlich ist es für jedes Kind zu verstehen. Aber für den, der erst ein-
mal an unsern theologischen Fakultäten studiert hat, scheint es unend-
lich schwer zu begreifen zu sein.

Selbstverständlich handelte es sich um eine Fälschung, und zwar um
eine ziemlich üble. Denn der Verfasser gibt sich ja ausdrücklich als Apo-
stel Paulus zu ernennen. Es geht hier nicht um Pseudepigraphie – ein
quer durch die Überlieferungsgeschichte immer wieder begegnendes,
bekanntes Phänomen –, sondern um den Text des Briefes selbst. Wenn
der Brief gefälscht wäre, dann wäre er als Lügengespinst mehr als nur
wertlos. Die Kirche hätte jahrtausendelang die Lüge verbreitet. Dann
wäre alles unter dem Verdacht der Lüge.

Daran kann sich nur der nicht stoßen, dem es bei unserm Glauben und
unserer Errettung nicht um knallharte Fakten geht, sondern um esoteri-
sches Gedöns, das seinem Ego schmeichelt. Kurz, daran kann sich nur
der Gnostiker nicht stoßen.

Doch Gott sei Lob gälte das nur, wenn der Epheserbrief tatsächlich nicht
vom Apostel stammte. Wie oben erläutert, sind bereits die Grundannah-
men der gnostischen Historizitätsfeinde, historisch-kritisch durchleuchtet,
ohne jede Grundlage.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Nächste Runde: Es wurde ins Feld geführt, man könne deshalb nicht
von einer Fälschungsabsicht eines sich Paulus nennenden, aber von
Paulus verschiedenen Autors reden, weil es damals üblich gewesen sei,
daß sich Schüler eines großen Gelehrten mit dem Namen ihres Lehrers
schmückten, so daß es überhaupt nichts Ehrenrühriges gewesen sei,
wenn ein Schüler des Paulus sich als Paulus ausgegeben habe.

Das ist so eine typische Exegetenlegende. Sie taucht in den einschlägigen
Diskussionen so sicher auf wie das Amen in der Kirche. Dennoch ist es
hanebüchener Unfug. Bei jener Gelegenheit, von welcher ich berichte,
erzählten gleich mehrere Theologen mit wichtigem Gelehrtengestus die
Legende.

Auf mehrfache Aufforderung hin, wenigstens einen einzigen Beleg für
die Behauptung zu bringen, kam erwartungsgemäß nichts. Es gibt keine
Belege, denn jene Legende beleidigt nicht nur den gesunden Menschen-
verstand, sie ist auch historisch nachweislich falsch.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Statt nun also die aufgestellten Behauptungen zu belegen, verschanz-
te man sich hinter einem respektgebietenden Fremdwort: der „Pseudo-
epigraphie“.

Weil das ein beliebter Nebelwerfer ist, durch den sich mancher ins
Bockshorn jagen läßt, auch dazu eine kurze Klarstellung:

Erstens ist Pseudepigraphie – also die falsche Zuweisung eines Textes
zu einem Autor durch redaktionelle Überschrift o. ä. – zum weitaus
größten Teil eine Sache der Textüberlieferung, nicht der Verfasser-
schaft.

Zweitens begegnet das Phänomen dort, wo die Textüberlieferung
stattfindet, zeitlich also schwerpunktmäßig im sogenannten „Mittel-
alter“. Die direkt aus der „Antike“ auf uns gekommene Überliefe-
rung ist insgesamt eher geringen Umfangs. Vereinzelt läßt sich be-
reits bei spätantiken Handschriften Pseudepigraphie feststellen, bei
manchen späteren Manuskripten kann man vermuten, daß die fal-
sche Autorenangabe bereits „spätantik“ ist. Die Masse der Pseudo-
epigraphen kommt aber beim Redigieren, Zusammenstellen und
Abschreiben der Manuskripte zustande.

Drittens. Das Phänomen zieht sich durch alle Textgattungen. Es
betrifft auch profane und heidnische Texte, und zwar anteilsmäßig
nicht geringer. Nur der absoluten Zahl nach dürften sich da weni-
ger Fälle finden lassen: ganz einfach, weil der Gesamtumfang die-
ser Litteratur viel geringer ist, nach überlieferten Handschriften ge-
rechnet.

Viertens. Die Pseudepigraphie kommt in aller Regel durch Versehen
zustande. Gelegentlich lassen sich Fälle absichtlich falscher Zuwei-
sung (oder mindestens das Risiko der Falschzuweisung bewußt ein-
gehende) durch einen Redaktor vermuten, kaum wirklich sicher be-
weisen. Am seltensten sind Fälle, in denen die falsche Zuweisung be-
reits dem Autor selber wenn nicht nachgewiesen, so doch mit großer
Wahrscheinlichkeit zugeordnet werden kann.

Fünftens. Einige solcher Fälle finden wir immerhin bereits im heid-
nisch-philosophischen Spektrum der „Spätantike“. Ich nenne als
eines der bekanntesten Beispiele – wiewohl nicht unumstritten – das
platonische Briefcorpus.

Sechstens. Beim Epheserbrief ginge es – wäre er unecht – primär
nicht um Pseudepigraphie – das käme höchstens unter ferner liefen
noch hinzu –, sondern um bewußte und freche Fälschung eines gan-
zen Briefs, samt Absender- und Adressatenangaben, Grußformeln
und mannigfachen Bezügen im laufenden Text selbst.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Schließlich verwies man – mangels eigener Argumente – pauschal auf
die bekannte Internetpräsenz des Pfarrers Dr. Jörg Sieger:
Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Hinter der Bezeichnung "Epheserbrief" steckt schon die erste Schwierigkeit. Das ἐν ᾽Εϕέσῳ ["en Ephéso"] aus Eph 1,1 ist nämlich textkritisch unsicher und fehlt in einer ganzen Reihe von Handschriften.
Dazu habe ich oben bereits Stellung genommen.
Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Aufmerken läßt auch die Bemerkung in Eph 1,15. Dort bringt Paulus zum Ausdruck, daß er vom Glauben der Adressaten lediglich gehört habe.
Nun, das „lediglich“ steht jedenfalls nicht im Text. Schon beim ersten
Blick in jede beliebige Übersetzung kann man und wird jedermann
bei Anwendung des gesunden Menschenverstands das so verstehen,
daß Paulus in seiner römischen Gefangenschaft – aus welcher er ja
nach eigener Angabe schreibt – Berichte aus der Kirche von Ephesus
erhalten hatte, auf welche er sich hier bezieht, unbeschadet seiner
früheren Kenntnis der Ephesiner. Daran ist überhaupt nichts Merk-
würdiges.

Aber schauen wir noch einmal in den Text. Da heißt es: »… ἀκούσας
τὴν καϑ' ὑμᾶς πίστιν … οὐ παύομαι εὐχαριστῶν ὑπὲρ ὑμῶν μνείαν
ποιούμενος ἐπὶ τῶν προσευχῶν μου«.

Ich versuche das zunächst einmal ganz wörtlich:

»… vernehmend [oder: vernommen habend; beides ist möglich, da
der Aorist nur die Aktionsart ausdrückt, nicht das Zeitverhältnis
] den
bei euch Glauben …, [ich] nicht aufhöre danksagend [oder: die
Eucharistie feiernd] über euch Gedächtnis tuend in meinen Gebeten.«

Etwas deutscher:

»Weil ich ‹jetzt eben› den Glauben bei euch vernehme, höre ich nicht
auf, wenn ich Dank sage [die Eucharistie feiere], eurer in meinen Ge-
beten zu gedenken.«

Oder:

»Weil ich ‹einmal› den Glauben bei euch angehört habe, höre ich nicht
auf, wenn ich Dank sage [die Eucharistie feiere], eurer in meinen Gebe-
ten zu gedenken.«

Der Text gibt beide Möglichkeiten her. Da es keinen expliziten Hin-
weis auf einen aktuellen Bericht gibt, die frühere Anwesenheit Pauli
in Ephesus jedenfalls aber zum Verständnishintergrund jedes Lesers
gehört, liegt die zweite Deutung näher.
Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Und in Eph 3,2 erweckt er den Eindruck, als haben die Adressaten vielleicht von seinem Amt gehört. Solche Aussagen sind in Bezug auf Ephesus, wo Paulus so lange gewirkt hat, eigentlich undenkbar.
Von „vielleicht“ steht an der angegebenen Stelle nichts. Die fragli-
chen Wörter – εἴ γε – bedeuten nicht „wenn vielleicht“, sondern
„wenn nämlich, wenn eben, wenn nun“ o. ä. Ferner heißt es nicht,
die Epheser hätten mal was über Pauli „Verwaltung“ (οἰκονομία,
dispensatio) gehört, sondern diese direkt vernommen. Das kann
sich – muß aber nicht – auch auf ein Vernehmen aus dem Munde
des Apostels selbst beziehen.

Eph 3,2 gibt also für Siegers Argumentation gar nichts her. Besser
hätte er, wenn schon, Eph 3,3-4 angeführt, wo Paulus sich nur auf
das von ihm zuvor Geschriebene bezieht, nicht aber auf seine Auf-
enthalte in Ephesus Jahre zuvor. Ja, hierüber mag man sich tatsäch-
lich ein wenig wundern. Um daraus aber zu schließen, Paulus sei
nicht der Autor, sondern ein unbekannter Fälscher, dazu ist’s doch
gar zu dünne.

Denn erstens ist in Ephesus viel passiert seit Paulus zuletzt dort war,
und viele kannten ihn eben nicht mehr persönlich. Andererseits soll-
te man einen Fälscher, der sich so angelegentlich als Paulus ausgibt,
für klug genug halten zu wissen, was allgemein bekannt war: daß
Paulus nämlich selbst in Ephesus gewesen war. Nichts wäre für den
Fälscher leichter gewesen, als sich darauf zu berufen.
Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Diesen Merkwürdigkeiten korrespondiert, daß Markion, der um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. den ersten Kanon der heiligen Schriften zusammenzustellen versucht hat, diesen Brief offensichtlich als Brief nach Laodicea kennt. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass in Kol 4,16 ein Brief nach Laodicea erwähnt wird. Meint der Kolosserbrief hier etwa unseren Epheserbrief, der dann eigentlich ein Laodiceabrief wäre? Dann hätte Markion noch die ursprünglichen Adressanten gekannt und der Brief wäre tatsächlich zunächst nach Laodicea gerichtet gewesen.

Es kann natürlich auch möglich sein, daß der Brief ursprünglich gar keine Gemeinde ausdrücklich nannte. Vielleicht hatte Markion den Brief ohne Adresse vorliegen. Er hätte dann angesichts der Verwandtschaft des Epheserbriefes mit dem Kolosserbrief und aus Kol 4,16 auf Laodicea als Bestimmungsort geschlossen.
Das ist nun kein kirchliches Zeugnis. Sich auf die Schriften einer
außerhalb stehenden, gnostischen Parallel- und Gegenkirche zu
berufen ist recht kühn.

Marcion hat nicht »den ersten Kanon der heiligen Schriften zusam-
menzustellen versucht«, sondern nach seiner Exkommunikation eine
Parallelhierarchie gegründet und für diese autoritativ einen „Gegen-
kanon“ geschaffen, wobei er das gesamte Alte Testament und den
Großteil des Neuen Testaments verwarf. Er ließ nur das Lucasevan-
gelium und zehn Briefe Pauli gelten. Auch diesen Rest bearbeitete
und „säuberte“ er aber ausgiebig.

Zutreffend dürfte dennoch Siegers Vermutung sein, Marcion habe
den Brief in jener Variante ohne Adreßangabe vorzuliegen gehabt
und im Zuge seiner Bearbeitungen aus dem Colosserbrief Laodicæa
als Bestimmungsort ergänzt. Eigenen Quellenwert hat dies hinsicht-
lich des Originalbriefs nicht, da Marcion bekanntermaßen die Texte
bearbeitet hat, während andererseits ein orthodoxer Zeuge wie Ire-
næus nur wenige Jahre später den Brief selbstverständlich als Brief
Pauli an die Epheser kennt (vgl. z. B. adv. hær. V,8,1).
Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Wenn wir uns den Brief nun genauer ansehen, dann stellen wir fest, dass er eigentlich auch gar kein richtiger Brief ist. Ein brieflicher Rahmen liegt eigentlich nur in Eph 1,1ff und am Ende in Eph 6,21-24 vor. Offensichtlich wurde hier der Versuch unternommen eine theologische Abhandlung in Form eines Briefes vorzulegen.
Ach ja? Und was ist der Römerbrief, wenn du die Einleitung und
die abschließenden Mahnungen und Grüße wegläßt?
Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Auffallend sind auch die starken Übereinstimmungen zwischen dem Epheserbrief und dem Kolosserbrief. Nicht nur dass Tychikus auch im Epheserbrief als Briefüberbringer genannt wird. Über weite Abschnitte hinweg finden sich im Epheserbrief ganz ähnliche Formulierungen und sogar mehr oder minder gleichlautende Abschnitte.
Ja, selbstverständlich. Das ist nun gar nichts Neues. Theologisch
richten sich beide Briefe gegen den Einfluß einer gnostisierenden
Richtung des Judentums.
Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Diese Fülle von auffälligen Übereinstimmungen führt zu dem Schluß, daß der Autor des Epheserbriefes den Kolosserbrief offenbar als literarische Vorlage benutzt hat. Er verfaßt sein Schreiben wohl anhand des ihm vorliegenden Kolosserbriefes.
Ach je. Könnte wohl auch sein, daß derselbe Autor beide Briefe
auf einmal verfaßt hat, oder?

Historisch gehört zu diesen beiden übrigens auch noch der Brief an
Philemon, mit welchem Paulus den Onesimus aus Rom zu Phile-
mon zurücksandte. Eine detailliertere Untersuchung würde noch
viele interessante Details zutage fördern, historische Details, was ich
hier bloß andeuten will.

So ist der eigentliche Überbringer der Briefe an Philemon und an die
Kirchen zu Colossæ und zu Ephesus ein gewisser Tychicus, der aus
Asia (vgl. Act 20,4), vielleicht Ephesus, stammt (vgl. II Tim 4,12; Eph
6,21; Col 4,7.9; Tit 3,12). Sodann begegnen wir Epaphras, dem Phi-
lipper. Interessant auch Archippus: Er war Diakon im Hause des Phi-
lemon. Bei Paulus finden wir eine ganze Mannschaft: Timotheus, Ari-
starchus, Jesus Justus, Demas sowie Marcus und Lucas, die Evangeli-
sten. Ein Nymphas aus Laodicea wird erwähnt, womit zugleich noch
einmal das berühmte Problem des Laodicenerbriefs angeschnitten ist.

Doch lassen wir’s bei diesen Andeutungen. Lest das einmal nach. Wie
sich alles historisch fügt. Welche komplexen Verhältnisse hätte ein
Fälscher da erfinden müssen!
Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Wenn wir nach dem Verfasser fragen, dann müssen wir ähnlich argumentieren wie beim Kolosserbrief. Der Brief gibt zwar vor, von Paulus zu stammen, doch dürfte dies kaum zutreffend sein. Wortschatz und Stil sind wichtige Indizien dafür, dass das Schreiben eigentlich nicht aus der Feder des Paulus stammen kann. Der Stil ist äußerst pathetisch und weicht noch stärker vom paulinischen Stil ab, als dies schon im Kolosserbrief der Fall gewesen ist. Auch das Paulusbild, das der Epheserbrief zeichnet, und die theologischen Argumente sind nicht mit dem vergleichbar, was uns aus den authentischen Paulusbriefen bekannt ist.
Dazu möchte ich bloß Heinrich Schlier zitieren:

Heinrich Schlier hat geschrieben:Schließlich entscheidet sich die Frage der Echtheit daran, wieviel Variationsfähigkeit man dem Apostel Paulus in sprachlicher und theologischer Hinsicht zutraut.
Anders gesagt, mit denselben Argumenten könnte man auch den
in vielerlei Hinsicht ganz exzeptionellen Römerbrief aus dem Kanon
kegeln. Manche tun das sogar, ja sie leugnen sogar die Historizität
Pauli selber. Das scheint den meisten doch wohl gar zu verstiegen,
aber die Methode, argumentativ dahin zu gelangen, ist keine ande-
re als die, welche den Epheserbrief für unpaulinisch erklären will.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
holzi
Beiträge: 7882
Registriert: Montag 28. November 2005, 15:00
Wohnort: Regensburg

Beitrag von holzi »

Ich frage mich, ob es denn etwas ausmacht, Paulus als Verfasser anzusehen, auch wenn er diese Briefe nicht unbedingt eigenhändig zu Papier gebracht hat? Ich halte es für eher wahrscheinlich, dass er in Rom genügend Leute zur Verfügung hatte, denen er diktierte und die dann dieses Diktat in eine bessere griechische Form brachten, als der Apostel selbst das gekonnt hätte.

Sag mal Robert, gibt's irgendwo Kurse für Koinégriechisch? Ich wollte das schon einige Zeit mal lernen, aber nur mit dem Buch zuhause geht das nicht, da kann ich nicht dabeibleiben. Weisst du da was? Mir wurde auch schon angeboten, an den Kursen im Priesterseminar - als "Externer" sozusagen - teilzunehmen, das geht aber nicht, weil ich tagsüber auch noch was arbeiten muss.

Raphael

Beitrag von Raphael »

Hallo Robert,
vielen Dank für Deine Mühe, die Du einerseits in die philologische Darstellung der Texte und andererseits in die Herstellung der historischen Bezüge gesteckt hast.
Das ist alles sehr [Punkt] :jump:

Vergelt's Gott
Raphael

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

holzi hat geschrieben:Ich frage mich, ob es denn etwas ausmacht, Paulus als Verfasser anzusehen, auch wenn er diese Briefe nicht unbedingt eigenhändig zu Papier gebracht hat? Ich halte es für eher wahrscheinlich, dass er in Rom genügend Leute zur Verfügung hatte, denen er diktierte und die dann dieses Diktat in eine bessere griechische Form brachten, als der Apostel selbst das gekonnt hätte.
Daß Paulus Schreiber hatte, geht ja aus seinen Briefen selber hervor.
I Cor 16,21 z. B. beginnt der Apostel ausdrücklich seinen Gruß von
eigener Hand; alles davor hatte also ein Gehilfe geschrieben. Ganz
ebenso Col 4,18; II Thess 3,17; Philem 19. Rm 16,22 gibt sich der
Schreiber selbst als ein gewisser Tertius zu erkennen.

Auch Petrus hatte übrigens Schreiber: I Pt 5,12 nennt er Silvanus.
holzi hat geschrieben:Sag mal Robert, gibt's irgendwo Kurse für Koinégriechisch? Ich wollte das schon einige Zeit mal lernen, aber nur mit dem Buch zuhause geht das nicht, da kann ich nicht dabeibleiben. Weisst du da was? Mir wurde auch schon angeboten, an den Kursen im Priesterseminar - als "Externer" sozusagen - teilzunehmen, das geht aber nicht, weil ich tagsüber auch noch was arbeiten muss.
Siehe nebenan.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Robert Ketelhohn
Beiträge: 26021
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 09:26
Wohnort: Velten in der Mark
Kontaktdaten:

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

Benutzeravatar
Marion
Beiträge: 8701
Registriert: Donnerstag 21. Mai 2009, 18:51
Kontaktdaten:

Re: Gefälschte Bibel?

Beitrag von Marion »

Isaia Cap 3.12
Bedrücker berauben mein Volk, und Weiber herrschen darüber. Mein Volk! die dich selig preisen, betrügen dich, und verderben den Weg, den du wandeln sollst.

In der Einheitsübersetzung steht da folgendes:
Mein Volk - seine Herrscher sind voller Willkür, / Wucherer beherrschen das Volk. Mein Volk, deine Führer führen dich in die Irre, / sie bringen dich ab vom richtigen Weg.
Christus vincit - Christus regnat - Christus imperat

Benutzeravatar
anneke6
Beiträge: 8493
Registriert: Montag 19. September 2005, 12:27

Re: Gefälschte Bibel? - Texte im NT

Beitrag von anneke6 »

Jesaja ist ja nun nicht unbedingt Neues Testament…aber trotzdem:
In den meisten heutigen Bibelübersetzungen steht Frauen/Weiber. Im Hebräischen macht den Unterschied nur ein Vokal aus:
noschim sind Wucherer, naschim sind Frauen.
???

Benutzeravatar
taddeo
Moderator
Beiträge: 19226
Registriert: Donnerstag 18. Januar 2007, 09:07

Re: Gefälschte Bibel?

Beitrag von taddeo »

noiram hat geschrieben:Isaia Cap 3.12
Bedrücker berauben mein Volk, und Weiber herrschen darüber. Mein Volk! die dich selig preisen, betrügen dich, und verderben den Weg, den du wandeln sollst.

In der Einheitsübersetzung steht da folgendes:
Mein Volk - seine Herrscher sind voller Willkür, / Wucherer beherrschen das Volk. Mein Volk, deine Führer führen dich in die Irre, / sie bringen dich ab vom richtigen Weg.
Wo ist denn da das Problem? Stimmt doch beides. Schau Dir nur mal die deutsche Regierung an, und die Protagonisten der Finanzlobby. :motz:

Benutzeravatar
Leguan
Altmoderator
Beiträge: 1924
Registriert: Samstag 4. März 2006, 14:30

Re: Gefälschte Bibel?

Beitrag von Leguan »

noiram hat geschrieben:Isaia Cap 3.12
Bedrücker berauben mein Volk, und Weiber herrschen darüber. Mein Volk! die dich selig preisen, betrügen dich, und verderben den Weg, den du wandeln sollst.

In der Einheitsübersetzung steht da folgendes:
Mein Volk - seine Herrscher sind voller Willkür, / Wucherer beherrschen das Volk. Mein Volk, deine Führer führen dich in die Irre, / sie bringen dich ab vom richtigen Weg.
Es gab darüber bereits hier eine Diskussion (bis sie vom Gnostiker ad absurdum geführt wurde).
If any stupid priest or bishop in Nigeria feels he wants to copy the American model, then there is something wrong with his head. --Olubunmi Anthony Kardinal Okogie

Benutzeravatar
Marion
Beiträge: 8701
Registriert: Donnerstag 21. Mai 2009, 18:51
Kontaktdaten:

Re: Gefälschte Bibel? - Texte im NT

Beitrag von Marion »

:kugel:

ich danke euch :)
Christus vincit - Christus regnat - Christus imperat

Ralf

Re: Gefälschte Bibel?

Beitrag von Ralf »

Leguan hat geschrieben: (bis sie vom Gnostiker ad absurdum geführt wurde).
(Ich würde da "absurd" und "gnostisch" tauschen wollen ...)

Benutzeravatar
overkott
Beiträge: 19634
Registriert: Donnerstag 8. Juni 2006, 11:25

Re: Gefälschte Bibel? - Texte im NT

Beitrag von overkott »

Ich fürchte, die Einheitsübersetzung wird sich nicht wesentlich ändern.

Benutzeravatar
ad-fontes
Beiträge: 9523
Registriert: Sonntag 28. Juni 2009, 12:34

Re: Gefälschte Bibel? - Texte im NT

Beitrag von ad-fontes »

Im Lobgesang des Simeon ist mir folgendes aufgefallen:
Lk 2, 32 hat geschrieben:φῶς εἰς ἀποκάλυψιν ἐθνῶν
Vulgata hat geschrieben:lumen ad revelationem gentium
Einheitsübersetzung hat geschrieben:ein Licht, das die Heiden erleuchtet.
Nun steht da aber nicht: lux ad illuminandum gentium, sondern revelationem, demnach müßte es heißen: "ein Licht zur Offenbarung der Heiden" oder besser: "ein Licht als Offenbarung für die Heiden".

Das Licht leuchtet zwar denen, die in Dunkelheit sind (vgl. Lk 1, 79), aber hier ist doch etwas anderes gemeint: Gott offenbart sich durch dieses Licht - IHS XPS - auch den Heiden; durch ihn wird der Zugang zu Gott Vater denen, denen zuvor die wahre Gotteserkenntnis verschlossen war, grundsätzlich, d. h. abhängig von der eigenen Annahme, ermöglicht.

Die Übersetzung "ein Licht, das die Heiden erleuchtet" erinnert mich an das falsch übersetze Kelchwort "das für alle vergossen wird".

Liegt auch hier ein Fall von Allerlösungslehre vor? Oder ist meine Interpretation überspannt?
Christi vero ecclesia, sedula et cauta depositorum apud se dogmatum custos, nihil in his umquam permutat, nihil minuit, nihil addit; non amputat necessaria, non adponit superflua; non amittit sua, non usurpat aliena. (Vincentius Lerinensis, Com. 23, 16)

Antworten Vorheriges ThemaNächstes Thema