Lilaimmerdieselbe hat geschrieben: ↑Freitag 22. September 2017, 07:40
Mindestens genauso wie vom "Dogma" hängt die Inkongruenz des deutschen Heimatbegriffs mit dem Nationalstaat auch mit der Geschichte dieses Staates zusammen, in der er lange nicht vorkam.
Mit dem "Staat" stimmt das wahrscheinlich auch nur bedingt, mit "Nation" auch nicht so richtig.
"Natio" ist lt. Kluge im 14. Jahrhundert erstmals ungefähr in der heutigen Bedeutung bekannt; damals ging es um eine
"Gemeinschaft von Menschen derselben Herkunft" und
"gleiche Kultur, Sprache". Was den Staat betrifft, waren sich die Menschen sicher bewusst, dass sie sich nach der Trennung von West- und Ostfranken nach Gründung des HRRDN unter dem jeweiligen HRRDN-Herrscher befanden; aus Adel und Klerus gibt es dafür zumindest zahlreiche Belege.
"Heimat" gibt es bereits im Ahd.
"heimoti" und bezeichnet wie später im Mhd. (
"heimuot") den eigenen "Stammsitz", also da, wo man herkommt. Sowohl
"Nation" als auch
"Heimat" sind also nicht völlig wesensfremde Begriffe, sondern belegen verschiedene hierarchische Stufen des Identitätsbewusstseins; ich würde auch heute nicht auf die Idee kommen, den Begriff
"Heimat" zwangsläufig mit der Identifikation mit einem Staat zu verbinden, mit einer
Nation aber schon, auch wenn der Begriff
"Volk" z.B. selbst zu frühen HRRDN-Zeiten allein wegen seiner ahd. Herkunft geläufiger gewesen sein dürfte und auch älter ist (8. Jh.), während
"Nation" von Anbeginn an ein Lehnwort aus dem Lateinischen war. Beides aber (nämlich
"Heimat" und
"Nation" in heutiger Bedeutung) aus einer gewissen politischen Korrektheit heraus nach später zu verlegen (vermutlich ins 19. Jh.), ist nicht nur eine unwahrscheinliche Mutmaßung, sondern schlichtweg falsch. Wenn man berücksichtigt, dass der Adel zur Gründerzeit des HRRDN nicht nur selten Latein sprach, sondern es auch geradezu verschmähte (im Gegensatz zum Klerus, durch welchen es immerhin einen Status als Gelehrten- u. Diplomatensprache erhielt), ist die Überlieferung des Wortgebrauchs von beiden Seiten (Adel und Klerus) geradezu eindeutig. Wo sich also die von dir vermuteten Inkongruenzen befinden sollten, weiß ich nicht.
Lilaimmerdieselbe hat geschrieben: ↑Freitag 22. September 2017, 07:40
Erkenntnis kann man durch negative Erfahrungen auch gegen seinen Willen aufgenötigt bekommen, solche Erkenntnisse sind oft besonders nachhaltig, hast Du sicher auch schon mal bemerkt.
Wenn ich von mir ausgehe, war ich in solchen Situationen zumindest dazu gezwungen, mich damit auseinanderzusetzen. Aber wahrscheinlich ist bei dir der Begriff des "Zwangs" problematisch belegt. Ich habe nichts gegen Zwang, wir unterliegen tagtäglich tausenden von Zwängen, gegen die sich meist sowieso nur diejenigen wehren, die ohne ihn auch nicht besser wüssten, was sie eigentlich wollen. Das kann aber ein jeweiliger Wesenszug sein, mit Widrigkeiten umzugehen; der pädagogische Begriff der Resilienz sagt dir ja bestimmt etwas; mit Sturheit würde ich ihn allerdings nicht verwechseln wollen.
Lilaimmerdieselbe hat geschrieben: ↑Freitag 22. September 2017, 07:40
Identifikation mit nationaler Geschichte und Nationalstaat muß auch nicht tausende von Jahren zurückgreifen.
Nö, aber sie kann. Im Fall der deutschen Geschichte tut sie das halt, dessen Beginn einige Historiker und Mediävisten auf die Trennung des West- und Ostfrankenreiches legen, die meisten von ihnen sehen hingegen den Beginn der deutschen Geschichte in den beiden Königswahlen von 911 (
Konrad I.) und 919 (
Heinrich I.). Das sind immerhin schon mehr als tausend Jahre. Natürlich kann man für sich beschließen, die deutsche Geschichte erst ab 1870 oder 1933 beginnen zu lassen, wenn ich das aber einen Fachkollegen z.B. vor der Klasse sagen hören würde, müsste ich an seiner fachlichen Kompetenz zweifeln.
Lilaimmerdieselbe hat geschrieben: ↑Freitag 22. September 2017, 07:40
Der aktuelle Staat hat immerhin auch schon eine Geschichte, deren Anfänge die meisten gar nicht selbst erlebt haben. In dieser Geschichte gibt es auch einiges, was man nicht vergessen sollte.
Auch im aktuellen Staat sehe ich Kontinuitäten zu den vorherigen Reichen, man denke nur an den Bundesadler. Ich habe noch nie verstanden, wie man die Bundesrepublik isoliert als eine völlig neue Staatsgründung sehen konnte; eine solche Betrachtung ist auch recht unhistorisch. Auch rechtlich steht die Bundesrepublik auf ihren staatlichen Vorgängern, von den kulturellen ganz zu schweigen. Selbst die DDR, die ja tatsächlich eine Republik ganz neuen Typus sein wollte, sah sich selbst in den 1848-er-Revolutionen und der Paulskirchenverfassung, in der DDR-Historikerzunft verstieg man sich sogar dazu, die Bundschuh- und Bauernaufstände des Mittelalters als eine Art frühsozialistischen Klassenkampf und damit ideellen DDR-Vorgänger auszumalen.
Lilaimmerdieselbe hat geschrieben: ↑Freitag 22. September 2017, 07:40
Ich habe Sippengeschichte nicht als Alternative zur Nationalgeschichte eingeführt
Na ja...
Lilaimmerdieselbe hat geschrieben: ↑Donnerstag 21. September 2017, 10:07
Die Geschichten der Nationen sind Abstraktionen, mit denen eine Identifikation nur durch Willen möglich ist. Aber die eigene und die Sippengeschichte findet ja in diesen Nationen statt und wurde von ihnen geprägt. Dazu kann es dann auch einen emotionalen Zugang geben genauso wie zur Heimat. Der ist aber dann mit dem öffentlichen Gedenken an historische Ereignisse nicht identisch, genauso wenig wie die Heimat mit dem Nationalstaat.
Ich fasse das doch richtig zusammen, wenn du die Nationalgeschichte als zu wenig greifbar beschreibst, die Biographien der Familien hingegen (du schreibst hier:
"Aber") schon. Dann ist doch die Sippen- oder Familiengeschichte deiner Meinung nach letzten Endes die Alternative zur Nationalgeschichte, weil Letztere doch deiner Meinung nach zu wenig greifbar ist.
Lilaimmerdieselbe hat geschrieben: ↑Freitag 22. September 2017, 07:40
nachdem andere ihre Erinnerungen als Rechtfertigung der Wehrmacht, ob so gemeint ist fraglich, eingebracht haben.
Ich finde es bedenklich, wenn man jede Institution einer Epoche einer homogenen Beurteilung unterzieht, ohne die Entscheidungen und Handlungen ihrer einzelnen Mitglieder zu betrachten. Die Wehrmacht war genauso verbrecherisch oder hat sich ordentlich verhalten wie jeder einzelne Soldat in ihr. Wehe dem, der mit dem Impetus eines Fegefeuers die damals Lebenden in Bausch und Bogen verdammt. Gar mancher, der sich heute als ach so aufgeklärter Demokrat gebärdet, wäre damals der glühendste Nazi gewesen. Politisch ist das gar nicht zu verstehen, die DDR hat gezeigt, wozu auch "linke" Weltverbesserer fähig sind.
Pilgerer hat geschrieben: ↑Freitag 22. September 2017, 16:10
Eigentlich war das "Erste Reich" ein übernationales Reich. Es war ein übernationaler Verband vieler Nationen, ähnlich wie das Kaiserreich Österreich 1804 bis 1918 (ab 1867 Ö-Ungarn). Das war durchaus ein übernationaler Gegenentwurf zur heutigen antichristlichen EU. Es war ein christliches Reich, in dessen Grenzen die christliche Frömmigkeit in verschiedenen Varianten gefördert wurde und selbstverständlich war. In diesem Reich gab es Deutsche, aber auch Slawen aller Art (Tschechen, Slowenen) und den italienischen Reichsteil. Lange Zeit auch Burgund und andere Teile des heutigen Ostfrankreichs.
Das HRRDN war nicht übernational. Auch das ist eine moderne Deutung, s.o. bei
"natio"; keineswegs waren alle darin lebenden Völker (zu Beginn des HRRDN, also zur Zeit Heinrichs I., gab es gar keine Slawen darin, das ist schon durch die damaligen Grenzen ausgeschlossen) gleichberechtigt. Das ist schon deshalb unsinnig, weil es die Bevorzugung eines Volkes gar nicht gab (was nicht heißt, dass es kein Bewusstsein eines Volks gab, s.o.), sondern die Herrschaft von Feudalherren, die, mit Ausnahme des deutschen Wahlkönigtums (später Kaiser) erblich war.
Pilgerer hat geschrieben: ↑Freitag 22. September 2017, 16:10
Das Heilige Römische Reich bewahrte die Deutschen größtenteils auch vor dem extremen Absolutismus, der in Frankreich, Spanien oder England zeitweilig herrschte. Hier gab es durchweg eine Art förderative und konstitutionelle Monarchie.
Wenn du mit "föderativer" und "konstitutioneller Monarchie" ein Staatsverfassungskonstrukt im heutigen Sinne meinst (und nichts anderes bedeutet ja "konstitutionell", nämlich durch eine Verfassung geregelt), stimmt auch das nicht, denn der deutsche König bzw. Kaiser musste sich seine jeweiligen Mehrheiten unter den Fürsten zusammensuchen. Es gehört viel Phantasie dazu, diese Umstände mit heutigen konstitutionellen Monarchien gleichzusetzen. Auch die Habsburger KuK-Monarchie als Analogie auf das HRRDN ist recht unglücklich gewählt, weil die Gleichberechtigung der Völker eben darin bestand, im Vergleich zu heute eben überhaupt recht wenig Rechte zu haben; übrigens wurden im KuK erst recht spät die Nationalsprachen der übrigen Länder als gleichberechtigt anerkannt, bis 1867 gab es ja nur das "Kaisertum Österreich"; in der österr. Armee war übrigens bis zum Ende der Monarchie Deutsch alleinige Kommandosprache.
Pilgerer hat geschrieben: ↑Freitag 22. September 2017, 16:10
Möglicherweise setzte die Zerschlagung dieses Reiches durch Napoleon eine schleichende Kettenreaktion in Gang, die zu jenem Gegenpol des Hitler-Reiches hinführte. Denn die Haltlosigkeit des Kapitalismus und Materialismus des 19. Jahrhunderts führten zu einem ethischen Nihilismus und Sozialdarwinismus, der die Ideologie und Politik Hitlers deutlich mit begründete.
Nein, ich halte mittlerweile das Festhalten
Bismarcks an der kleindeutschen Lösung für die eigentliche Ursache der Katastrophe. Das gilt auch übrigens für die meisten Historiker, es sei denn, es handelt sich um solche, die bei monarchischen Begriffen nervöse Zuckungen bekommen.
Und was hat das alles mit der AfD zu tun? Ich denke, dass ihr Aufkommen zeigt, dass eine größere Selbstverständlichkeit im Umgang mit der eigenen Nation und ihrer Geschichte dringend notwendig ist. Das gerade zeigt ja der etwas verkrampfte Umgang mit allen Begriffen, die in irgendeiner Weise mit unserem nationalen Bewusstsein zu tun haben. Jetzt noch zu glauben, dass allein eine Art "Verfassungspatriotismus" ein Ersatz für die offenbar sehr tief liegenden Identitätsbedürfnisse der Bevölkerung sein kann, endet eben mit dem Erfolg einer solchen Partei.