ar26 hat geschrieben:Man wird ja wohl noch erwähnen dürfen, daß für ein christliches Leben auch Umkehr von früheren Lebensweisen erforderlich ist.
Gewiß. Vor allem wenn man sich dabei selbst an die Brust schlägt und sich nicht zum Richter über andere setzt.
ar26 hat geschrieben:Aber, wenn eine Teilung der Ukraine kommen sollte (so ganz unmöglich scheint das ja nicht), dann wäre es wohl legitim und historisch plausibel, wenn die Westukraine sich nach Mittel- und Westeuropa orientiert. Schließlich gehört sie seit der frühen Neuzeit dahin (poln. Rzeczpospolita, später Doppeladler). Das gilt für die balt. Staaten unproblematisch genauso. Es kann letzlich nicht sein, daß Rußland unter Verweis auf die nationalen und kulturellen Bindungen der Bevölkerung im Osten und Süden des Landes versucht seine Einflußsphäre auf kulturell nicht-russische Territorien auszudehnen.
Frag mal die Westukrainer, was sie von ihrer „polnischen“ Zeit halten. Deren Nationalismus richtet sich gegen Polen ebenso wie gegen Rußland. Auf der andern Seite gehört die Ukraine, früher Kleinrußland genannt, natürlich zum ostkirchlichen-zyrillischen Kulturkreis. Kiew ist die Mutter, Nowgorod die Tochter und Moskau bestenfalls die Enkelin. Noch in der Neuzeit war Kiew für die russisch-orthodoxe Kirche zeitweise wichtiger als Moskau und eigentliches geistiges Zentrum. Denke nur an Petrus Mogilas.
Aber auch die österreichische Zeit hat natürlich im westlichen Teil prägend gewirkt, namentlich in Galizien. Durch die verschiedenen Schichten ihrer kulturellen Identität hat die Ukraine eigentlich zwei Möglichkeiten: Schlachtfeld oder Brücke zu sein. Ich bin entschieden für letztere. Deswegen ebenso entschieden gegen Julia Timoschenko, denn diese Frau verbreitet nur denselben Haß, von welchem sie selbst getrieben ist. – Aber wir schweifen ab, es ging um Rußland.
ar26 hat geschrieben:Was die Rechtsstaatlichkeit Russlands angeht, gehe ich soweit mit, daß in den westlichen Medien stark zum negativen überzeichnet wird. Mich würde allerdings interessieren, ob Chodorkowski, der ja meiner Erinnerung nach wegen einiger Delikte aus dem Bereich Wirtschaftskriminalität verurteilt worden ist, auch verurteilt worden wäre, wenn er sich Putin gegenüber loyal gezeigt hätte. Wenn dem nicht wo wäre, hätten wir selektive Strafverfolgung, die nicht rechtsstaatlich ist.
Als sicher können wir voraussetzen, daß auch zahlreiche weitere „Oligarchi“ nicht auf geraden Wegen an ihre ersten zehn, zwanzig oder hundert Millionen gekommen sind. Inwieweit den russischen Justizorganen dafür Beweise vorliegen oder von ihnen ermittelt werden könnten, kann natürlich keiner sagen.
Recht klar sind dagegen die strategischen Ziele der russischen Politik unter Wladimir Wladimirowitsch Putin:
a) Wahrung der nationalen Interessen Rußlands durch Kontrolle über die strategisch wichtigen Rohstoffe, generell Wahrung und Mehrung des Volkseigentums, Stopp der Verschleuderungspolitik,
b) politische und wirtschaftliche Stabilität,
c) Wiedergewinnung der militärischen und politischen Weltmachtgeltung (einschließlich der Unterstützung dieses strategischen Ziels durch Ausbau der Wirtschaftskraft),
d) innere Sicherheit (physisch und rechtlich),
e) Wohlstand auf breiter Basis, Abbau der Armut,
f) Umkehr des demographischen Verfalls.
Die Punkte d) bis f), sicher die schwierigsten, sind keineswegs auch nur annähernd befriedigend gelöst (und auch für c) bleibt noch viel zu tun). Das Bemühen darum wird aber zunehmend deutlich, und erste Erfolge sind ohne Zweifel auch bereits sichtbar. Priorität hatten aber, als Fundament alles weiteren, die Punkte a) und b).
Die Ziele der Kontrolle über die strategischen Rohstoffe und der inneren Stabilität haben ohne Zweifel die Haltung der Regierung gegenüber den Oligarchen bestimmt. Man wollte neue Revolutionen, Umstürze, Putsche vermeiden. Darum auch das generelle Rückgängigmachen der Jelzinschen Schleuder-Privatisierungen. Bedingung war aber, daß die Oligarchen sich mit ihrem Konzernen dem nationalen Interesse Rußlands unterordneten. Man bindet sie ein und nimmt ihnen wirtschaftlich und rechtlich die Möglichkeit, ausländischen oder internationalen Interessenten maßgeblichen Einfluß zu gewähren.
Dazu bedarf es in der Regel keiner Maßnahmen wie im Falle Chordorkowskijs. Als etwa der russische Fast-Monopolist für Titan, WSMPO-Awisma, seine Aktien an die Londoner Börse bringen wollte, untersagte dies die russische Finanzaufsicht ganz einfach. Das Geschrei in London und Neujork war groß, aber erfolglos.
Vielleicht nahm man Chodorkowskijs schmutzige Vergangenheit unter die Lupe, weil der Mann offenen Konfrontationskurs steuerte und sich von den Fusionsplänen mit transatlantischen Finanzinstituten nicht abbringen lassen wollte. Vielleicht auch nur, weil der Schmutz gar zu offensichtlich war und schlimmer als bei den andern stank. In jedem Fall kann man sicher sein, daß Rußland unter Putin oder einem Nachfolger derselben strategischen Ausrichtung unter keinen Umständen zulassen wird, daß internationale „Investoren“ Kontrolle über strategische Rohstoffe Rußlands erlangen. In Teilbereichen, wo solche Kontrolle bereits besteht, wird sie Zug um Zug zurückgedrängt.
Die Betroffenen und ihre Medien mögen über die mitunter trickreichen Methoden lauthals klagen und von fehlender Rechtssicherheit reden. Wenn man aber bedenkt, wie die Situation am Ende der Regierung Jelzins aussah und wie es dazu kam, der wird feststellen, dazu Putin lediglich die Rechtlosigkeit beendet hat und ganz langsam und gemach entstandene Unrechtszustände korrigiert oder wenigstens einstweilen reguliert, und zwar hübsch evolutionär, nicht revolutionär.
ar26 hat geschrieben:Zur Abtreibung will ich mal festhalten, daß eine Trendwende in Rußland erfreulich ist. Allerdings sind die Zahlen dort auf enorm hohem Niveau. In D auch, ich weiß. Was mich interessieren würde, wäre, in wieweit die russ.-orth. Würdenträger ihre Stimme dagegen erheben, oder ob sie eher die Lehmann-Variante wählen.
Die reden schon klar und nicht lehmännisch. Die Trendwende ist allerdings wirklich noch nicht viel mehr als eine Trendwende, und auch die ist noch längst nicht überall angekomen. Die Situation ist nach wie vor bedrückend. Das muß man ungeschminkt sagen. Man muß aber auch wissen, daß das nicht von heute auf morgen geändert werden kann. Selbst noch unter einem Kaiser Justinian, das bedenke man, war nicht bloß Ehescheidung weiter statthaft, sondern sogar auch die Aussetzung neugeborener Kinder. Aber das Umdenken ist in Rußland erkennbar. Eine Eva Herman würde dort zur Zeit viel Gehör finden. Bei uns macht man sie mundtot.