Berolinensis hat geschrieben:Wie schon gesagt kann ich diese seit fünfzig Jahren gebetsmühlenartig vorgetragene Kritik nur sehr bedingt nachvollziehen. Natürlich ist das andächtige, wohlverständige, über den Tag verteilte etc. Beten ideal; das setze ich voraus und sage es im folgenden nicht jedes Mal dazu. Aber warum muß hier mit Voltaire le mieux l'ennemi du bien sein? Warum muß ich beim Breviergebet alles bis ins letzte verstehen - sträuben wir uns bei den lateinischen Lesungen der alten Messe nicht auch gegen diesen Anspruch der Reformer? Ist nicht auch das Breviergebet in erster Linie Anbetung und Eintauchen in den Gebetsstrom der Kirche, den Liebesgesang der Braut, bei dem ich nicht allem immer rationalistisch bis in die letzte Verästelung nachgehen muß?
Stärker, als man das heute (zu Recht) betrachtet, galt das Brevier vor dem Konzil als Standesgebet der Kleriker. Das heißt, diese Gruppe unterschied sich (damals und unter anderem) in zweierlei Hinsicht von den Laien:
- Sie hatten eine meistens fundierte Lateinausbildung (keine unüberwindlichen Verständnishürden)
- sie mußten ihren Tag nicht nach der Stechuhr einrichten.
Natürlich mußten sie nicht jede lateinische Konstruktion perfekt auflösen - aber ein einfaches Verständnis beim Lesen, notfalls beim zweiten Lesen eines Verses konnte man ihnen schon zutrauen und zumuten. Der Anspruch des Breviers, den Tag zu strukturieren und zu durchdringen, konnte von diesen Klerikern nicht als unbillig zurückgewiesen werden.
Wenn das trotzdem oft genug geschah, dann eben deshalb, weil tatsächlich seit dem Beginn der Moderne im Weltklerus das Bewußtsein für "Dem Gottesdienst soll nichts vorgezogen werden" stark geschwunden war.
Man muß da zwischen Anspruch und Wirklichkeit unterscheiden, und natürlich generalisiere ich im folgenden schamlos
Auch die oft wenig gebildeten "Leutepriester" und Dorfpfarrer des ausgehenden Mittelalters brachten erst Ihre Kuh oder ihre Pflaumen inSsicherheit, wenn das Wetter das nahelegte, und ließen dafür die fällige Hore ausfallen. Aber sie hatten dabei ein schlechtes Gewissen und rationalisierten das nicht weg. Der Anspruch, den sie an sich hatten, stimmte, auch wenn die Wirklichkeit dem nicht immer entsprach. Und sie entdeckten so auch als Weltpriester die gute mönchische Einsicht, daß man auch dann beten und fromm sein kann, wenn man ein widerspenstiges Rindviech hinter sich herziehen oder ähnlich ungelegenes erledigen muß.
Mit der Neuzeit verlor sich das: Der Tag war nicht länger etwas, das einem jede Stunde von Gott geschenkt oder besser gesagt nur geliehen wurde, sondern ein Besitz, mit dem zu arbeiten galt. Natürlich immer zum Nutzen der Kirche, vesteht sich. Das Breviergebet wurde von der inneren Stütze des Tages zu etwas, was man außen drauf setzte.
Seit dem 16. Jh. steckte das Breviergebet daher in einer Dauerkrise, und die Reformen folgten in hektischer Folge aufeinander. Akzeptiert wurde von der Masse des Klerus eigentlich immer nur die Reformen, die die Ansprüche senkten - man denke an das später wieder verbotene Brevier von Quignonez (frühes 16. Jh), das übrigens viel zur neuen Liturgia Horarum beigesteuert hat.
Soll heißen: einen Teil der Probleme, die uns heute als offene Kirchenkrise entgegentreten, gibt es schon seit vielen hundert Jahren - und das Brevier bzw. ein unzureichender Umgang damit (sowohl von seiten der einfachen Priester als auch von Seiten der kirchlichen Autorität) spielt dabei eine bedeutende Rolle.