Kein freier Wille → kein Verstand

Schriftexegese. Theologische & philosophische Disputationen. Die etwas spezielleren Fragen.

Bist Du mit freiem Willen begabt?

Ja, ich bin mit freiem Willen begabt.
17
68%
Ich will gegen die erste Antwortmöglichkeit opponieren.
2
8%
Umfrageergebnisse sind determiniert.
2
8%
Ich will an der Umfrage nicht teilnehmen.
4
16%
 
Insgesamt abgegebene Stimmen: 25

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Sempre
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Kein freier Wille → kein Verstand

Beitrag von Sempre »

Jürgen hat geschrieben:Wenn alles einen Grund hat, gibt es keinen Grund anzunehmen, daß es beim menschlichen Willen anders ist.
So denkt der Naturalist.


Wir beobachten, dass es Philosophen gab bzw. gibt, die unterschiedliche Auffassungen vertreten, was die Frage angeht, ob der Mensch einen freien Willen besitze.

Nun wollen wir herausfinden, welche der Auffassungen richtig ist.

Nehmen wir uns den ersten Philosophen vor. Er vertrete die naturalistische Auffassung, die Oberstübchen und Handlungen der Menschen seien kausal determiniert, der Mensch besitze keinen freien Willen. Angenommen, seine Auffassung träfe zu, dann wäre auch diese seine Auffassung zum Thema Willensfreiheit kausal determiniert.

Stellen wir uns nun vor, wir gelangten dazu, seine Auffassung zu übernehmen und die Auffassungen der anderen Philosophen zu verwerfen. Auch dieser geistige Prozess wäre dann - der Voraussetzung folgend - kausal determiniert.

Das wiederum implizierte, dass wir nicht mittels unseres Urteilsvermögens zu der Auffassung des ersten Philosophen gelangt wären. Unsere vermeintlichen Urteile wären tatsächlich keine Urteile sondern determiniert. Sofern wir überhaupt ein Urteilsvermögen besitzen, benutzten wir es gar nicht, wenn es darauf ankommt.

Mit dem Sparsamkeitsprinzip (Ockhams Rasiermesser) wäre zu folgern, dass wir über kein Urteilsvermögen, keine ratio, keinen Verstand verfügen.


Fazit:
  • Wäre der Mensch nicht mit freiem Willen begabt, dann auch nicht mit Verstand.
Niemals sei gesagt es werde je zugelassen, daß ein zum Leben prädestinierter Mensch sein Leben ohne das Sakrament des Mittlers beendet. (St. Augustin, Gegen Julian, V-4)

Pilgerer
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Pilgerer »

Ohne den "freien" Willen gäbe es keine Subjekte mehr. Die Behauptung des freien Willens bedeutet, dass es außerhalb der Kausalketten der Welt eine unabhängige Ursache gibt, die in die Welt eingreift. Es geht hier auch um die Frage, ob ein Teil der menschlichen Natur "transzendent" ist, der den Menschen zum Subjekt und willensfähigen Wesen macht.
10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. (Jesaja 35,10)

Raphael

Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Raphael »

Sempre hat geschrieben:
Jürgen hat geschrieben:Wenn alles einen Grund hat, gibt es keinen Grund anzunehmen, daß es beim menschlichen Willen anders ist.
So denkt der Naturalist.
*kopfkratz*

Inwiefern ist die zitierte Aussage einer naturalistischen Weltanschauung zuzuordnen?

Es wird doch lediglich ausgesagt, daß auch der freie Willen des Menschen einen (guten) Grund hat.
Diese Feststellung alleine ist jedoch eindeutig weltanschauungsneutral. Sogar ein Christ könnte sie von sich geben, ohne in Konflikt mit der christlichen Lehre zu geraten ...........

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Jarom1
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Jarom1 »

Ohne freien Willen gibt es weder einen Verstand noch eine Erlösung. Luthers Ablehnung des freien Willens war einer der wesentlichen Punkte, die mich an meiner "Herkunftskirche" zweifeln ließen.
Consciousness of sin, certainty of faith, and the testimony of the Holy Spirit

Pilgerer
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Pilgerer »

Jarom1 hat geschrieben:Ohne freien Willen gibt es weder einen Verstand noch eine Erlösung. Luthers Ablehnung des freien Willens war einer der wesentlichen Punkte, die mich an meiner "Herkunftskirche" zweifeln ließen.
ARTIKEL 18: VOM FREIEN WILLEN
Vom freien Willen wird so gelehrt, daß der Mensch in gewissem Maße einen freien Willen hat, äußerlich ehrbar zu leben und zu wählen unter den Dingen, die die Vernunft begreift. Aber ohne Gnade, Hilfe und Wirkung des Heiligen Geistes kann der Mensch Gott nicht gefallen, Gott nicht von Herzen fürchten oder an ihn glauben oder nicht die angeborenen, bösen Lüste aus dem Herzen werfen, sondern dies geschieht durch den Heiligen Geist, der durch Gottes Wort gegeben wird. Denn so spricht Paulus: "Der natürliche Mensch vernimmt nichts vom Geist Gottes" (1. Kor 2,14).2

Soweit ich es verstehe, hat Luther die Abhängigkeit des menschlichen Willens vom Heiligen Geist (Gott) gemeint. Ohne den Heiligen Geist verkümmert der christliche Glaube zum häretischen Glauben, der nominell richtig ist, aber nicht auf Gottes Macht steht. "Christlich" heißt letztlich auch, wie Christus mit dem Heiligen Geist gesalbt zu sein.
10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. (Jesaja 35,10)

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Robert Ketelhohn
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Robert Ketelhohn »

Sempre, sag „Vernunft“ statt „Verstand“.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

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Sempre
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Sempre »

Lies: ratio.
Niemals sei gesagt es werde je zugelassen, daß ein zum Leben prädestinierter Mensch sein Leben ohne das Sakrament des Mittlers beendet. (St. Augustin, Gegen Julian, V-4)

heinrich.harrer
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von heinrich.harrer »

Ob der Mensch einen freien Willen hat oder nicht, kann nicht bewiesen werden, das ist spätestens seit Kant die einhellige Meinung, dahinter gibt es kein Zurück. Jedoch muss diese Freiheit postuliert werden, ansonsten macht moralisches Handeln keinen Sinn. Somit ist es vernünftig, die Freiheit des Willens anzunehmen.

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Sempre
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Sempre »

heinrich.harrer hat geschrieben:Ob der Mensch einen freien Willen hat oder nicht, kann nicht bewiesen werden, das ist spätestens seit Kant die einhellige Meinung, dahinter gibt es kein Zurück. Jedoch muss diese Freiheit postuliert werden, ansonsten macht moralisches Handeln keinen Sinn. Somit ist es vernünftig, die Freiheit des Willens anzunehmen.
Folgt man Kant, dann kann gar nichts bewiesen werden.

Kant ist verurteilt.
Niemals sei gesagt es werde je zugelassen, daß ein zum Leben prädestinierter Mensch sein Leben ohne das Sakrament des Mittlers beendet. (St. Augustin, Gegen Julian, V-4)

Pilgerer
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Pilgerer »

Voraussetzung für einen freien Willen oder auch nur die Ausübung des Willens an sich ist, dass man weiß, zwischen was sich der Wille entscheiden soll. Wenn der Mensch nicht weiß, was gut und böse ist, wie soll er sich dann vernünftig entscheiden können? Er muss erstmal die Ziele, für die er sich entscheiden kann, mit Inhalt füllen.
Das Problem des gottlosen Menschen der Neuzeit, der sein Wissen ohne die Bindung an Gott sucht, ist, dass ihm der Sinn der Dinge und seiner selbst entgleitet. Er weiß nicht mehr, wer/was er selbst ist noch was seine Mitmenschen sind. Wie soll er da erkennen können, welche Optionen sein Wille hat? Wie soll ein Blinder zwischen Farben wählen oder ein Gehörloser zwischen Melodien? Die Willensfreiheit ist in diesen Fällen potentiell vorhanden, aber sie kann nicht handeln.
Der gottlose Mensch kann nur zwischen Sünde und Sünde wählen, denn er kennt das Gegenteil nicht. Der Gott kennende Mensch kann dagegen zwischen gut und böse entscheiden, weil er den Unterschied kennt.
10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. (Jesaja 35,10)

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Jorge_
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Jorge_ »

Pilgerer hat geschrieben:Wenn der Mensch nicht weiß, was gut und böse ist, wie soll er sich dann vernünftig entscheiden können?
[...]
Der gottlose Mensch kann nur zwischen Sünde und Sünde wählen, denn er kennt das Gegenteil nicht. Der Gott kennende Mensch kann dagegen zwischen gut und böse entscheiden, weil er den Unterschied kennt.
Im Prinzip kennt jeder Mensch den Unterschied zwischen gut und böse. Wenn du mit „gottlos“ also einfach Nichtgläubige meinst, kann man das so nicht sagen.
Recht hast du aber natürlich in dem Sinn, dass Selbstvergötterung blind für die Erkenntnis des Guten und Richtigen macht und fortgesetzte Sünde abstumpfen und dazu führen kann, dass man gar nichts dabei findet und das Falsche für normal oder gar für richtig hält.
Joseph Ratzinger hat geschrieben:Es war die Kühnheit des heiligen Paulus, die Hörfähigkeit auf das Gewissen bei allen Menschen zu behaupten, die Heilsfrage so von der Erkenntnis und dem Einhalten der Thora zu lösen (...): »Wenn die Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur aus das tun, was im Gesetz gefordert ist, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. Sie zeigen damit, daß ihnen die Forderung des Gesetzes ins Herz geschrieben ist; ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab ...« (Röm 2,14f.). Paulus sagt nicht: Wenn Heiden sich an ihre Religion halten, ist es gut vor dem Gericht Gottes. Im Gegenteil, er verurteilt den Großteil der religiösen Praktiken jener Zeit. Er verweist auf eine andere Quelle – auf das, was allen ins Herz geschrieben ist, das eine Gute des einen Gottes.
(aus: Glaube, Wahrheit, Toleranz. S. 166 f.)
Insofern kann auch der gottlose Mensch zwischen Sünde und Rechtschaffenheit wählen, denn er kennt sie (mitunter) durchaus.
"El humor obscurece la verdad, endurece el corazón, y entorpece el entendimiento."

heinrich.harrer
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von heinrich.harrer »

Sempre hat geschrieben:
heinrich.harrer hat geschrieben:Ob der Mensch einen freien Willen hat oder nicht, kann nicht bewiesen werden, das ist spätestens seit Kant die einhellige Meinung, dahinter gibt es kein Zurück. Jedoch muss diese Freiheit postuliert werden, ansonsten macht moralisches Handeln keinen Sinn. Somit ist es vernünftig, die Freiheit des Willens anzunehmen.
Folgt man Kant, dann kann gar nichts bewiesen werden.

Kant ist verurteilt.
Gott kann nicht bewiesen werden, deswegen glaube ich ja. Kant sagte: [Ich musste] „das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu haben." Das ist doch ein schöner Gedanke.

Pilgerer
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Pilgerer »

Jorge_ hat geschrieben:
Pilgerer hat geschrieben:Wenn der Mensch nicht weiß, was gut und böse ist, wie soll er sich dann vernünftig entscheiden können?
[...]
Der gottlose Mensch kann nur zwischen Sünde und Sünde wählen, denn er kennt das Gegenteil nicht. Der Gott kennende Mensch kann dagegen zwischen gut und böse entscheiden, weil er den Unterschied kennt.
Im Prinzip kennt jeder Mensch den Unterschied zwischen gut und böse. Wenn du mit „gottlos“ also einfach Nichtgläubige meinst, kann man das so nicht sagen.
Recht hast du aber natürlich in dem Sinn, dass Selbstvergötterung blind für die Erkenntnis des Guten und Richtigen macht und fortgesetzte Sünde abstumpfen und dazu führen kann, dass man gar nichts dabei findet und das Falsche für normal oder gar für richtig hält.
Durch das Schmerzempfinden und andere Instinkte oder Erfahrungen kann der Mensch durchaus eine Ahnung davon bekommen, was im allgemeinen relativ gut oder böse ist. Wenn er für diese Erfahrungen offen ist, kann er dadurch auch ein Stück weit gerecht werden und nach dem Willen Gottes leben, der sich u.a. durch das Schmerzempfinden zeigt. Man muss nicht an Gott glauben, um nach dem Willen Gottes zu leben. Ein Atheist kann, obwohl er nicht an Gott glaubt, doch unbemerkt mit Gott leben.
Gottlosigkeit ist meiner Ansicht nach etwas anderes als Atheismus. Sie bezeichnet den Zustand eines Menschen, in dem dieser wirklich von Gott getrennt ist. Das kann bei einem Atheisten zutreffen, aber ebenso bei einem Monotheisten oder auch einem Christen. Ein Monotheist kann an Gott glauben, ohne mit ihm zu leben. Es kommt am Ende jedoch darauf an, mit Gott zu leben, um vor Gott bestehen zu können. Unbarmherzigkeit ist eine Form der Gottlosigkeit, wie folgender Spruch zeigt: "Spr 12,10 Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs; aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig." Wer zum Beispiel aus religiösem Fanatismus den Menschen heraus nicht mehr als Menschen sieht und sich des Mitgefühls entledigt, wird gottlos.

Ein zentraler Punkt des Evangeliums ist, dass wir durch Jesus Christus Gott erkennen und durch die Gotterkenntnis den Menschen erkennen. Diese Gott-und-Menschen-Erkenntnis führt dazu, dass wir perfekt gut und böse kennen können. Das christliche Europa war durch die Gotteserfahrung (z.B. in der Messe) auf dem Weg zu einer wachsenden Gotteserkenntnis und somit auch Gerechtigkeit. Dieser Prozess wurde durch die sogenannte Aufklärung unterbrochen, die den Blick vom Angesicht Gottes (in Christo) weg in die Welt hinein wandte.
10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. (Jesaja 35,10)

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ChrisCross
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von ChrisCross »

heinrich.harrer hat geschrieben:
Sempre hat geschrieben:
heinrich.harrer hat geschrieben:Ob der Mensch einen freien Willen hat oder nicht, kann nicht bewiesen werden, das ist spätestens seit Kant die einhellige Meinung, dahinter gibt es kein Zurück. Jedoch muss diese Freiheit postuliert werden, ansonsten macht moralisches Handeln keinen Sinn. Somit ist es vernünftig, die Freiheit des Willens anzunehmen.
Folgt man Kant, dann kann gar nichts bewiesen werden.

Kant ist verurteilt.
Gott kann nicht bewiesen werden, deswegen glaube ich ja. Kant sagte: [Ich musste] „das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu haben." Das ist doch ein schöner Gedanke.
Willst du ernsthaft einem Mann in philosophischen Fragen vertrauen, der entgegen dem gesunden Menschenvestand und aller Erfahrung den Kausalsatz leugnet und erst so zur Ablehnung der Beweisbarkeit Gottes gelangt? Willst du nicht lieber der heiligen Kirche und der heiligen Scrift glauben, die beide unfehlbar die Beweisbarkeit Gottes lehren?

Der Glaube ist im Übrigen willentliche Zustimmung zur Offenbarung um der Autorität Gottes willen. Das schließt das Wissen nicht aus.
Buch der Weisheit, Kapitel 13, hat geschrieben:1 Töricht waren von Natur alle Menschen, denen die Gotteserkenntnis fehlte. Sie hatten die Welt in ihrer Vollkommenheit vor Augen, ohne den wahrhaft Seienden erkennen zu können. Beim Anblick der Werke erkannten sie den Meister nicht,
2 sondern hielten das Feuer, den Wind, die flüchtige Luft, den Kreis der Gestirne, die gewaltige Flut oder die Himmelsleuchten für weltbeherrschende Götter.
3 Wenn sie diese, entzückt über ihre Schönheit, als Götter ansahen, dann hätten sie auch erkennen sollen, wie viel besser ihr Gebieter ist; denn der Urheber der Schönheit hat sie geschaffen.
4 Und wenn sie über ihre Macht und ihre Kraft in Staunen gerieten, dann hätten sie auch erkennen sollen, wie viel mächtiger jener ist, der sie geschaffen hat;
5 denn von der Größe und Schönheit der Geschöpfe lässt sich auf ihren Schöpfer schließen.
6 Dennoch verdienen jene nur geringen Tadel. Vielleicht suchen sie Gott und wollen ihn finden, gehen aber dabei in die Irre.
7 Sie verweilen bei der Erforschung seiner Werke und lassen sich durch den Augenschein täuschen; denn schön ist, was sie schauen.
8 Doch auch sie sind unentschuldbar:
9 Wenn sie durch ihren Verstand schon fähig waren, die Welt zu erforschen, warum fanden sie dann nicht eher den Herrn der Welt?
10 Unselig aber sind jene, die auf Totes ihre Hoffnung setzen und Werke von Menschenhand als Götter bezeichnen, Gold und Silber, kunstvolle Gebilde und Tiergestalten oder einen nutzlosen Stein, ein Werk uralter Herkunft.
11 Da sägte ein Holzschnitzer einen geeigneten Baum ab, entrindete ihn ringsum geschickt, bearbeitete ihn sorgfältig und machte daraus ein nützliches Gerät für den täglichen Gebrauch.
12 Die Abfälle seiner Arbeit verwendete er, um sich die Nahrung zu bereiten, und aß sich satt.
13 Was dann noch übrig blieb und zu nichts brauchbar war, ein krummes, knotiges Stück Holz, das nahm er, schnitzte daran so eifrig und fachgemäß, wie man es tut, wenn man am Abend von der Arbeit abgespannt ist, formte es zum Bild eines Menschen
14 oder machte es einem armseligen Tier ähnlich, beschmierte es mit Mennig und roter Schminke, überstrich alle schadhaften Stellen,
15 machte ihm eine würdige Wohnstatt, stellte es an der Wand auf und befestigte es mit Eisen.
16 So sorgte er dafür, dass es nicht herunterfiel, wusste er doch, dass es sich nicht helfen kann; es ist ein Bild und braucht Hilfe.
17 Aber wenn er um Besitz, Ehe und Kinder betet, dann schämt er sich nicht, das Leblose anzureden. Um Gesundheit ruft er das Kraftlose an,
18 Leben begehrt er vom Toten. Hilfe erfleht er vom ganz Hilflosen und gute Reise von dem, was nicht einmal den Fuß bewegen kann.
19 Für seine Arbeit, für Gewinn und Erfolg seines Handwerks bittet er um Kraft von einem, dessen Hände völlig kraftlos sind.
Apostel Paulus, Römerbrief, 1. Kapitel, hat geschrieben:20 Seit Erschaffung der Welt wird seine unsichtbare Wirklichkeit an den Werken der Schöpfung mit der Vernunft wahrgenommen, seine ewige Macht und Gottheit. Daher sind sie unentschuldbar.
21 Denn sie haben Gott erkannt, ihn aber nicht als Gott geehrt und ihm nicht gedankt. Sie verfielen in ihrem Denken der Nichtigkeit und ihr unverständiges Herz wurde verfinstert.
22 Sie behaupteten, weise zu sein, und wurden zu Toren.
Tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.
Augustinus Conf. I. 1

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Jorge_
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Jorge_ »

Pilgerer hat geschrieben:Durch das Schmerzempfinden und andere Instinkte oder Erfahrungen kann der Mensch durchaus eine Ahnung davon bekommen, was im allgemeinen relativ gut oder böse ist.
(...)
Gottlosigkeit ist meiner Ansicht nach etwas anderes als Atheismus. Sie bezeichnet den Zustand eines Menschen, in dem dieser wirklich von Gott getrennt ist. Das kann bei einem Atheisten zutreffen, aber ebenso bei einem Monotheisten oder auch einem Christen. Ein Monotheist kann an Gott glauben, ohne mit ihm zu leben. Es kommt am Ende jedoch darauf an, mit Gott zu leben, um vor Gott bestehen zu können. Unbarmherzigkeit ist eine Form der Gottlosigkeit, wie folgender Spruch zeigt: "Spr 12,10 Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs; aber das Herz der Gottlosen ist unbarmherzig." Wer zum Beispiel aus religiösem Fanatismus den Menschen heraus nicht mehr als Menschen sieht und sich des Mitgefühls entledigt, wird gottlos.
Ja, das hast du gut auf den Punkt gebracht, darauf wollte ich hinaus.
Allerdings ist es sicherlich nicht nur Schmerzempfinden, das dem Menschen die Unterscheidung von gut und böse ermöglicht, auch Heiden sind vernunftbegabte und moralische Wesen (vielleicht übersiehst du da etwas aufgrund deines aufklärungsfeindlichen Impetus).

Die Position des Erasmus (der seinerseits die kath. Tradition vertritt) zu der Frage fasst Schockenhoff ganz gut zusammen:
Eberhard Schockenhoff hat geschrieben:Das allen Menschen ins Herz eingeschriebene Gesetz der Vernunft enthält die Goldene Regel als Zusammenfassung aller göttlichen Gebote, doch ist dieses Gesetz zu schwach, um zum wirksamen Tun der Liebe anzuspornen. Gleichwohl ist das natürliche Licht der Vernunft, dessen Erkenntniskraft durch die Sünde geschwächt ist, nicht gänzlich erloschen; immerhin erkennen mit seiner Hilfe auch die heidnischen Philosophen das natürliche Gesetz des Guten. Es entfacht sogar eine natürliche Neigung zum sittlich Guten (naturalem appetitum honesti) im Menschen, »die, mag sie auch in uns verschüttet sein, doch nicht ausgelöscht ist« (Erasmus, Hyperaspistes I-IV, 611; vgl. IV, 623.). Daher muss das Gesetz des Glaubens dem Gesetz der Vernunft zu Hilfe kommen, es unterstützen und der natürlichen Erkenntnis des Guten aufhelfen, damit diese sich im Tun der Liebe vollenden kann.

Aus: Das Netz ist zerissen. Freiheit im Licht des Glaubens. Eine systematisch-theologische Skizze. Communio 37 (2008), S. 122. [Unterstreichung von mir]
Pilgerer hat geschrieben:Ein zentraler Punkt des Evangeliums ist, dass wir durch Jesus Christus Gott erkennen und durch die Gotterkenntnis den Menschen erkennen.
Absolut!
Pilgerer hat geschrieben:Diese Gott-und-Menschen-Erkenntnis führt dazu, dass wir perfekt gut und böse kennen können.
Perfekt? Nun ja, indem wir Christus immer ähnlicher werden sicherlich irgendwann und punktuell auch beinahe perfekt. Du sagst ja auch bewusst „können“. Doch, ich stimme dir zu.
Pilgerer hat geschrieben:Das christliche Europa war durch die Gotteserfahrung (z.B. in der Messe) auf dem Weg zu einer wachsenden Gotteserkenntnis und somit auch Gerechtigkeit. Dieser Prozess wurde durch die sogenannte Aufklärung unterbrochen, die den Blick vom Angesicht Gottes (in Christo) weg in die Welt hinein wandte.
Gut, das ist jetzt eine private Weltdeutung. Andere fangen mit ihrer Dekadenztheorie schon beim Humanismus oder bei William of Ockham oder bei der Konstantinischen Wende an. Die Protestanten praktisch direkt nach Paulus, da haben dann schon manche Kirchenväter Christus angeblich aus dem Blick verloren. Dekadenztheorien sind gut, insoweit sie gewisse Missverständnisse und Reformbedarf („Rückkehr zu den Wurzeln“) aufzeigen können, aber man darf sie nicht verabsolutieren.

Vielleicht näherst du dich auch gerade wegen dieses Generalverdachts gegenüber der „gottabgewandten“ Vernunft und Emanzipation in der Frage der Willensfreiheit und Prädestination der lutherischen Position an, indem du den freien Willen zum Guten quasi denjenigen vorbehältst, die von Gott die Gnade des Glaubens erhalten haben (ist nur mein Eindruck).

Ein Pastor (zufällig im Internet gefunden) erwähnt übrigens ein interessantes Bild, das Luther verwendet:
Der ev. Prediger Dietmar Kehlbreier hat geschrieben:Luther hat das Bild vom Ross und Reiter aufgenommen, als er mit dem Humanisten Erasmus um den freien Willen stritt: Hinsichtlich seines Willens kann sich der Mensch gar nicht frei bewegen, sondern ist immer wie ein Reiter auf einem Reittier. Entscheidend ist allein, ob das Tier, das er reitet, Gott ist oder der Teufel.

Ist es Gott, der den Menschen lenkt, will der Mensch und geht der Mensch, wohin Gott will. Der Christ wird dann gar nicht anders können. Modern gesagt: Er wird sein Gewissen nicht steuern können, weil es an Gott gebunden ist.
Auf den ersten Blick scheint dieses doch ziemlich geniale Bild im Hinblick auf Luthers Postulat „einer gänzlichen Wirkungslosigkeit des Willens in jeglicher Hinsicht (simpliciter non posse)“ (Schockenhoff ebda.) daran zu kranken, dass der Reiter dem Willen des Reittiers nach Luther völlig ausgeliefert erscheint und offenbar keinen Zügel besitzt, um es seinem Willen entsprechend zu lenken. Das mag bei einem Teufelsrappen ohnehin schwierig bis unmöglich sein, aber wenn Gott einem in seiner Gnade ein gutes Pferd aussucht, wird sich der Reiter doch erfahrungsgemäß trotzdem nicht einfach dorthin tragen lassen, wo das Tier hin will, sondern versuchen, es selbst zu lenken. Damit hinge es weiterhin von seinem Willen ab, wo die Reise hingeht.

Ins Unreine gesprochen würde ich daher sagen: Luther macht den Fehler, dass er das Pferd für Gott (oder den Teufel) hält; wir würden eher meinen, dass Gott das Pferd aussucht und dem Reiter auch noch eine Reitgarnitur und ein paar Grundkenntnisse darüber mitgibt, wie man es richtig führen kann. Entscheiden, ob er auf dem Weg Gottes reiten will, muss der Reiter aber dann selber.
"El humor obscurece la verdad, endurece el corazón, y entorpece el entendimiento."

Pilgerer
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Pilgerer »

Jorge hat geschrieben:Ja, das hast du gut auf den Punkt gebracht, darauf wollte ich hinaus.
Allerdings ist es sicherlich nicht nur Schmerzempfinden, das dem Menschen die Unterscheidung von gut und böse ermöglicht, auch Heiden sind vernunftbegabte und moralische Wesen (vielleicht übersiehst du da etwas aufgrund deines aufklärungsfeindlichen Impetus).
Zu dem Schmerzempfinden kommt sicher auch das Leidenempfinden und die Fähigkeit zum Mitfühlen hinzu. Letzteres zeigt sich zum Beispiel bei der Beobachtung des Schicksals anderer Menschen (z.B. in Theater, Film, Literatur). Natürlicherweise tendieren Menschen dazu, ihre Beobachtungen in ihren eigenen Gefühlen zu spiegeln. Ebenso können sie wohl die Vernunft gebrauchen. Das bleibt jedoch begrenzt, solange sie ohne Gott ihre Vernunft gebrauchen. Die Aufklärung hatte wohl gute Ideale, aber ihr Fehler war es, Gott nicht mehr zu fragen und die menschliche Erkenntnisfähigkeit zu verabsolutieren und zu stark auf sie zu vertrauen. Immer dann, wenn etwas Gutes vergötzt wird, das selbst nicht der lebendige Gott ist, entsteht daraus Unheil.
Jorge hat geschrieben:Perfekt? Nun ja, indem wir Christus immer ähnlicher werden sicherlich irgendwann und punktuell auch beinahe perfekt. Du sagst ja auch bewusst „können“. Doch, ich stimme dir zu.
Das Potential ist da, aber es kann nur so weit verwirklicht werden, wie Christus in uns Gestalt annimmt. Weil es jetzt, wo wir Jesus Christus nicht von Angesicht zu Angesicht schauen können, schwer fällt, bleibt bis zum Ende selbst bei den Heiligsten der Heiligen noch ein Rest Unvollkommenheit. Trotzdem können wir das eine oder andere Stück der Vollkommenheit erkennen, was ohne den dreieinigen Gott unzugänglich ist. Gott hat als Gott das Vorrecht, das Gute und alle guten Begriffe zu definieren. Gut ist, was Gott gut nennt. Liebe ist, was Gott Liebe nennt. Gerechtigkeit ist, was Gott Gerechtigkeit nennt usw. Das Lernen und Werden hängt für Christen zusammen, d.h. je mehr wir von Gott lernen, was "richtig" ist, desto mehr werden wir auch, wie Gott uns will. Es lässt sich nicht völlig trennen.
Jorge hat geschrieben:Vielleicht näherst du dich auch gerade wegen dieses Generalverdachts gegenüber der „gottabgewandten“ Vernunft und Emanzipation in der Frage der Willensfreiheit und Prädestination der lutherischen Position an, indem du den freien Willen zum Guten quasi denjenigen vorbehältst, die von Gott die Gnade des Glaubens erhalten haben (ist nur mein Eindruck).
Vielleicht ist es besser, es so zu formulieren: Jeder Mensch hat grundsätzlich einen freien Willen. Die Ausübung/Praktizierung des freien Willens hängt vom Spektrum der Möglichkeiten ab, zwischen denen der Wille wählen kann. Was die Vernunft nicht kennt, kann der Wille nicht wählen. Zusätzlich kann die Gefangenschaft von Leidenschaften die Umsetzung des freien Willen erschweren (eher eine Frage der Handlungs- als der Willensfreiheit). Der freie Wille ist da, hat aber bestimmte Grenzen.
Gott hat das Monopol auf das Gute und insofern hängt die Erkenntnis Gottes mit der Erkenntnis des Guten zusammen. Das bedeutet: Gott --> Gutes und Gutes --> Gott. Wenn jemand wie Gandhi nicht an Jesus Christus glaubt, aber sich an der Ethik der Bergpredigt orientiert, nähert er sich Gott an. Jedoch bleibt Jesus Christus der "Königsweg" für Gott --> Gutes, weil dies der beste Weg zu Gott ist.
Jorge hat geschrieben:Ins Unreine gesprochen würde ich daher sagen: Luther macht den Fehler, dass er das Pferd für Gott (oder den Teufel) hält; wir würden eher meinen, dass Gott das Pferd aussucht und dem Reiter auch noch eine Reitgarnitur und ein paar Grundkenntnisse darüber mitgibt, wie man es richtig führen kann. Entscheiden, ob er auf dem Weg Gottes reiten will, muss der Reiter aber dann selber.
Luther denkt hier einfach zu sehr schwarz-weiß. Es gibt nur ganz wenige Menschen ("Erzbösewichte" nach Sprüche 24,8), die sich so sehr vom Teufel reiten lassen, dass sie nur böse sind. Die meisten sind auf der Suche nach dem Glück, was schonmal ein positives Streben ist. Sie können auch frei wählen, ob sie einem Armen einen Groschen geben oder nicht. Solange sie nicht über Jesus den Weg zu Gott finden, werden jedoch einige Optionen fehlen, die sie wählen könnten. Sie werden nicht wissen, was die "Liebe Gottes" oder der "Friede Gottes" ist. Wo die persönliche Erfahrung fehlt, fehlt auch die nötige Assoziation mit diesen Begriffen. Wie soll jemand sich für oder gegen etwas entscheiden, das ihm unbekannt ist?
10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. (Jesaja 35,10)

Thomas_de_Austria
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Re: Kein freier Wille => Kein Verstand

Beitrag von Thomas_de_Austria »

Eine von mir dargestellte Version von Sempres Gedankengang (der wohl im Sinne des Threaderöffners sein dürfte) und ein paar weitere An- und Bemerkungen:
Man kann davon ausgehen, dass sich aufgeklärte Deterministen selbst als vernünftig betrachten bzw. zumindest von irgendeinem Menschen annehmen, dass er vernünftig ist, da ansonsten das Vernünftigkeitspathos, das sehr viele von ihnen an den Tag legen und das sich bei genügend von ihnen daraus ergebende Überlegenheitsgefühl gegenüber allen, die nicht ihrer Ansicht sind (wie z. B. gläubigen Katholiken), ad absurdum führen würde, sodass also für sie gilt:
(*) Es gibt zumindest einen Mensch der vernünftig ist.
(*) ∃x (M¹x ∧ V¹x)


Zusätzlich nehmen sie an, dass alle Menschen vollständig*) kausal determiniert**) sind. Dazu dann Folgendes:

(1) Für jeden Menschen gilt, dass er vollständig kausal determiniert ist.
(2) Für jeden Menschen gilt, dass wenn er vollständig kausal determiniert ist, sich dann nicht tatsächlich entscheiden kann.
(3) Für jeden Menschen gilt, nur wenn er sich tatsächlich entscheiden kann, kann er alleine auf Grund eines rational gerechtfertigten Urteils***) eine Ansicht übernehmen.
(4) c. Kein Mensch kann alleine auf Grund eines rational gerechtfertigten Urteils eine Ansicht übernehmen.
(5) Für jeden Menschen gilt, nur wenn er alleine auf Grund eines rational gerechtfertigten Urteils eine Ansicht übernehmen kann, ist er vernünftig.
(6) c. Kein Mensch ist vernünftig.

(1) ∀x (M¹x --> D¹x)
(2) ∀x (M¹x --> (D¹x --> ~E¹x))
(3) ∀x ((M¹x ∧ U¹x) --> E¹x)
(4) c. ∀x (M¹x --> ~U¹x) aus 1., 2. & 3.
(5) ∀x ((M¹x ∧ V¹x) --> U¹x)
(6) c. ∀x (M¹x --> ~V¹x) aus 4. & 5.

D1 = … ist vollständig kausal determiniert
E1 = … kann sich tatsächlich entscheiden
M1 = … ist ein Mensch
V1 = … ist vernünftig
U1 = … kann alleine auf Grund eines rational gerechtfertigten Urteils eine Ansicht übernehmen

(6) steht in Widerspruch zu (*).


Was leistet so ein Argument?

Gegen den Hume’schen Irrationalismus, der sich aus seinem Radikalempirismus und Skeptizismus ergibt, wie auch gegen wirklich umfassende, konsequente Arten des Skeptizismus’ überhaupt nichts; ebenso nichts gegen diverse Irrationalismen im Gefolge der sog. „Lebensphilosophie“ (s. hierfür auch in gewisser Weise Friedrich Nietzsche) oder einen „Pragmatismus“ à la Richard Rorty. Dafür ist es allerdings auch nicht gedacht: Vertreter dessen bezweifeln oder bestreiten auch ganz offen, dass wir in irgendeiner Form rational sind/handeln bzw. uns das auch überhaupt im eigentlichen Sinne möglich ist.

Interessanter wird es, bei nicht umfassenden bzw. inkonsequenten Formen des Skeptizismus und eventuell bei so etwas wie dem „kritischen Rationalismus“. Also bei allen Anhängern einer philos. Anschauungen, die für sich so etwas wie Rationalität beanspruchen. Diese werden (3) bestreiten, d. h. sie werden letztlich ein anderes Verständnis von Rationalität einführen müssen, das mit ihrem Determinismus kompatibel ist. Andere, wie z. B. der Determinist Ted Honderich, versuchen dbzgl. allerdings gar nichts und preisen z. B. eine Art Lebensphilosophie an (s. T. Honderich, Wie frei sind wir? Das Determinismus-Problem, Reclam, Abschnitt 9). Und bei Norbert Hoerster klingt das alles so:
N. Hoerster, [i]Die Frage nach Gott[/i], Beck, S. 109 hat geschrieben:Ganz unbestreitbar hat der Mensch in dem Sinn des Wortes eine Willensfreiheit, daß er eine Vielzahl von Handlungen tatsächlich ausführen kann und daß er außerdem bei der Entscheidung für die Ausführung dieser Handlungen Alternativen auf der Basis seiner Bedürfnisse, (egoistischen wie altruistischen) Präferenzen sowie moralischen Ideale auf rationale Weise gegeneinander abwägen kann. Und zwar ist diese Form der menschlichen Willensfreiheit vorhanden, ganz unabhängig davon, inwieweit der Mensch in seinem Verhalten letztlich naturgesetzlich determiniert ist.
Bei Michael Schmidt-Salomon (um auch ihn hier 'mal zu zitieren) so:
M. Schmidt-Salomon, [i]Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind[/i], Piper, S. 175 hat geschrieben:Der Mensch ist nach der Aufhebung der Willensfreiheitsunterstellung keine Maschine, sondern ein Lebewesen. Lebewesen unterscheiden sich von Maschinen, Steinen, Gebirgen oder Tischen dadurch, dass sie von einem Prinzip geprägt sind, das Nicht-Lebewesen völlig fremd ist: nämlich dem Prinzip Eigennutz. Der Unterschied zwischen einem Menschen und einer Maschine besteht also nicht darin, dass der Mensch im Gegensatz zur Maschine über einen »freien Willen« verfügt, sondern darin, dass der Mensch überhaupt über einen Willen verfügt! Wie wir im ersten Kapitel gesehen haben, haben lebende Systeme Interessen, sie suchen angenehme Reize auf und vermeiden unangenehme.
Und das ist es dann im Prinzip. Wieso nun aber kein Fatalismus?
M. Schmidt-Salomon, [i]Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind[/i], Piper, S. 175 hat geschrieben:Inwiefern nun steht das Eigennutzprinzip der fatalistischen Vorstellung entgegen […]? Antwort: Weil eigennützige Systeme per se unberechenbar sind.
Und die irgendwie intersubjektiv ausgehandelten Interessen sollen dann dem Relativismus entgegenstehen ...

Beeindruckend ist das allerdings nicht wirklich, sondern vielmehr hochgradig problematisch. Denn mit den besten Gründen jemanden im gewöhnlichen Sinne zu überzeugen hätte in diesem Szenario nicht wirklich einen Sinn, da ohnehin jeder nach seiner kausalen Determination handelt (zu der dann eventuell auch die geäußerten Gründe einen kleinen Beitrag liefern, aber natürlich nicht im herkömmlichen Sinne). "Überzeugen" hieße hier einzig, gemäß der eigenen Determination an den kausalen Stellschrauben anderer drehen, also letztlich ein gegenseitiges Manipulieren. Eine Entscheidung zwischen zwei Ansichten, von denen z. B. eine durch gültige Argumente gerechtfertigt ist und die andere nicht, erfolgt nicht und kann gar nicht erfolgen, da im Falle vollständiger kausaler Determination alles bereits feststeht. Es wird also irgendeine der Ansichten (u. U. eben auch die ungerechtfertigte bzw. gar falsche), durch irgendwelche Ursachen bedingt, einfach übernommen und nie alleine aufgrund eines rational gerechtfertigten Urteils, sondern wegen irgendwelcher Kausalfaktoren. Ob man so etwas als rational bezeichnen kann, ist recht fraglich …

Das alles ist natürlich kein Beweis der Willensfreiheit, da es nur auf Grund dessen immer noch möglich ist, dass alle Menschen vollständig kausal determiniert und in weiterer Folge eventuell auch vernunftlos sind. Dass das anzunehmen nicht besonders plausibel oder vernünftig ist, unter "Normalumständen", mit einem gewöhnlichen Rationalitätsverständnis, wird allerdings gezeigt.
---
Anm.:

*) Dass Menschen in irgendeiner Hinsicht, nur eben nicht vollständig, kausal bedingt sind, dürfte einleuchten – es hat sich ja bspw. auch kein Mensch selbst zur Existenz gebracht, sondern für jeden Menschen gibt es eine Ursache seiner Existenz, die er nicht selbst sein kann.

**) Es besteht m. E. doch ein gewisser Unterschied zwischen dem „Satz vom zureichenden Grunde“, zumindest in manchen Interpretationen, und dem vollständigen Determinismus. Ein Grund für eine Handlung scheint mir persönlich auch nicht unbedingt dasselbe wie eine (Wirk-)Ursache zu sein. Dass sich Gründe einfach auf derartige Ursachen reduzieren ließen, wurde u. a. von Elizabeth Anscombe bestritten; Kurt Baier argumentierte auch dafür, dass Gründe nicht dasselbe wie (einfach wirkursächliche) Motive seien (s. K. Baier, Der Standpunkt der Moral. Eine rationale Grundlegung der Ethik, Patmos, Kapitel 6). Ursprünglich hatte die Sache ja auch nicht diese Bedeutung. Zur Bedeutungsverschiebung:

J. Ritter (Hrsg.), [i]Historisches Wörterbuch der Philosophie[/i], Band 3: G - H, Schwabe & Co., S. 904 hat geschrieben:Den Ansatzpunkt für die Bedeutungsverschiebung von ‹G.› zu ‹causa› sieht H. Kunisch im Taulerschen «sobeschaffenen G.». Nach der Beschaffenheit des G., nach dem, was in ihm ist – demuetkeit, hofart … – richtet sich nicht nur die Möglichkeit zur Einswerdung mit Gott, sondern auch das sittliche Verhalten des Menschen. (G. als habitus primorum principiorum operabilium). Über Bedeutung «Beweg-G.» führt G. als «Bestimmung des Willens» [15] zu G. als causa. «Ist Gott der grunt des Menschen, so kommen aus ihm Werke, die gerecht sind. Gott ist der grunt solcher Werke» [16]. Er ist Ursache im Sinne von «grunt» und «sache»: «Von allen disen lúten so enthalt Got einen trahen nút … der ennimet er sich nút an, wan er enist der grunt nút, wan si sint es selber das der werke sache ist» [17].


Weiters zum Satz vom zureichenden Grund:

P. B. Kälin OSB, [i]Lehrbuch der Philosophie[/i], editiones scholasticae, S. 75 hat geschrieben:86 Prinzip des zureichenden Grundes. Jedes Ding hat seinen zureichenden Grund, oder: Nichts ist ohne hinreichenden Grund. Erst Leibniz hat es formell als Prinzip angesprochen. Es kann ontologisch und logisch gefaßt werden. Auf das Sosein bezogen, hat es den Sinn: Jedes Ding hat seinen hinreichenden Grund in seinem Wesen. In bezug aufs Dasein: Jedes Ding hat seinen hinreichenden Daseinsgrund in sich (wenn es ungeworden ist, wie Gott) oder in einem andern (alles Gewordene). In dieser Bedeutung leitet es über zum Kausalitätsprinzip. Auf Erkenntnisordnung angewandt, heißt es: Jede Erkenntnis hat einen hinreichenden Grund, entweder in sich (Wenn sie unmittelbar evident ist) oder in einer andern (wenn sie nicht durch sich evident ist).
So verstanden, lässt sich der Begriff des Grundes ohnehin nicht einfach auf z. B. die Wirkursache reduzieren, da Wirkursächlichkeit auf Gott angewendet überhaupt keinen Sinn ergibt.
Problematisch ist auch die Alternative – ich stelle das einmal so in den Raum –, nämlich völlig grundlose Entscheidungen so oder so zu handeln. Was ist in so einem Fall noch der Unterschied zum bloßen Zufall und inwiefern kann man so etwas überhaupt als etwas von einer Person Vollzogenes ansehen?

***) Zum besseren Verständnis: Im Sinne eines Behauptungssatzes und der damit verbundenen Proposition (oder wie auch immer man das bezeichnen möchte).
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Kirchenjahr
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Re: Kein freier Wille → kein Verstand

Beitrag von Kirchenjahr »

Schwarz-Weiß, digital, Gut oder Böse.

Zunächst einmal müsste man die Begrifflichkeiten definieren. Roberts Ansatz mit der Vernunft war da sehr gut.

Die Deterministen und Antideterministen sind doch nur die extremen Randströme in der Philosophie. Es gibt auch noch die Vielleicht-(Anti-)Deterministen, die den Terminismus in Gänze oder teilweise für möglich halten. Bestärkt werden diese Sorte Philosphen sogar von Theologen, die zwar den freien Willen und die Vernunft predigen, aber immer dann, wenn jeder Vernünftige feststellt, dass gar kein freier Wille oder gar die Vernuft zu gewissen Tatsachen geführt haben können, von der gefallenen menschlichen Natur samt verdunkelter Vernunft plaudern.

Ich musste diese Zeilen tippen, ich konnte nicht anders :D

Thomas_de_Austria
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Re: Kein freier Wille → kein Verstand

Beitrag von Thomas_de_Austria »

Die Deterministen und Antideterministen sind doch nur die extremen Randströme in der Philosophie.
"Randströme"? Deterministen, Indeterministen und Kompatibilisten, das gibt es, mehr kann es gar nicht geben. Manche, wie Honderich, lehnen den Kompatibilismus ab, andere vertreten ihn (darunter auch ein paar ganz berühmte Namen), aber so am Rande bzw. selten sehe ich bspw. Deterministen in der Philosophie nicht unbedingt.

Was man allerdings wirklich selten sieht, sind "starke" Indeterministen, nach deren Ansicht die feie Willensentscheidung absolut "grund-los", in jeglicher Hinsicht, ist. Das habe ich noch nicht oft gesehen (z. B. Peter van Inwagen hat stark was davon, Christian Weidemann vertritt so etwas recht offen).

Ansonsten ist es natürlich wichtig, zu schauen, was man unter Rationalität sinnvollerweise verstehen kann und was nicht, das wäre an der obigen Sachen, wie bereits oben gesagt, wohl sicher einer der Streitpunkte.

Was Gott (und auch den Sündenfall in diesem Zusammenhang) betrifft, liegt die Sache wahrscheinlich etwas komplizierter, dazu fand ich persönlich ja immer St. Thomas ganz interessant ...
Zuletzt geändert von Thomas_de_Austria am Donnerstag 26. Juli 2012, 01:03, insgesamt 2-mal geändert.

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ChrisCross
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Re: Kein freier Wille → kein Verstand

Beitrag von ChrisCross »

Als ich mir die Frage nach der Ursache der Freiehit des Willens gestellt habe, bin ich über ein paar Lexikon-Artikel (W.Brugger S.J., Philosophisches Wörterbuch und das berühmt berüchtigte Kirchenlexikon) letztendlich, weil ich mehr auf den thomistischen Ansatz als auf Molinas, wie es der Autor des Artikle anmerkt, teilweise Aushebelung der Kausalität hielt, zu Banez gelangt. Das war freilich nicht ganz leicht zu verstehen und so ganz habe ich es sicher noch immer nicht verstanden und sicher ist es auch nicht ganz leicht zu schlucken, aber es erklärt die Sache meines Erachtens sehr gut und vor allem in Übereinstimmung mit mancher mir zuvor unklarer Schriftstelle. Ich nehme an, dass Banez sich ausgezeichnet mit dem Aquinaten deckt, oder irre ich da?
Tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te et inquietum est cor nostrum, donec requiescat in te.
Augustinus Conf. I. 1

Thomas_de_Austria
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Re: Kein freier Wille → kein Verstand

Beitrag von Thomas_de_Austria »

ChrisCross hat geschrieben: Ich nehme an, dass Banez sich ausgezeichnet mit dem Aquinaten deckt, oder irre ich da?
Das kann man schon so sagen. Dort wurde das dann alles noch weiter ausgebaut und durchdacht, aber generell ist das so ein Fass, das man eigentlich nicht aufmachen möchte, schon alleine, wegen der Implikationen im Bereich Gnadenlehre etc. Man streitet ja bereits seit fast 500 Jahren herum, auch hier im Forum teils schon grob, ohne ein wirkliches Ergebnis …

Pilgerer
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Re: Kein freier Wille → kein Verstand

Beitrag von Pilgerer »

Die Voraussetzung für die Existenz eines eigenen Willens eines Objekts ist die Eigenschaft des Objekts als Subjekt. Die entscheidende Frage ist also: Gibt es Subjekte, d.h. Wesen die Quelle von Ereignissen (=Taten, Verben) werden können? Wenn ein Mensch nicht seinem eigenen Willen folgt, sondern dem Willen eines anderen oder eines Triebes, dann handelt er nicht als Subjekt. Der eigene Wille eines Menschen ist dann auch ein "freier Wille".

Aus der biblischen Schöpfungsperspektive leitet sich das Subjekt des Menschen von dem Gottes ab. Ebenso leitet sich der freie Wille des Menschen vom freien Willen Gottes ab. Daraus folgt, dass der Wille des Menschen dann - und nur dann - wirklich frei ist, wenn er seinem Schöpfer folgt. Wenn er dagegen von seinem Schöpfer und Vorbild getrennt ist, entfremdet sich der Mensch von seinem wahren Wesen. Er verlernt den freien Willen und gerät in die "babylonische Gefangenschaft". Wie kam der Mensch in diese babylonische Gefangenschaft? Durch den Ungehorsam Adams. Ausgerechnet der Versuch Adams, seinen Willen wahrhaft zu befreien durch den Ungerhorsam gegenüber Gott, führte in diese Knechtschaft. Daraus ergibt sich die Regel: Gehorche Gott und du bekommst den freien Willen; sei Gott ungehorsam und du verlierst den freien Willen.
10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. (Jesaja 35,10)

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Ewald Mrnka
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Re: Kein freier Wille → kein Verstand

Beitrag von Ewald Mrnka »

Paßt vielleicht nicht ganz zum Thema, ist aber ein guter, klarer Beitrag zum Thema freier Wille:
http://eleisonkommentar.blogspot.de/
Wer die wirklichen Herrschenden identifizieren will, braucht sich nur zwei Fragen zu stellen:
WEN und WAS darfst Du NICHT kritisieren?
WESSEN INTERESSEN verfolgt das System?

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