Sempre hat geschrieben: ↑Mittwoch 24. November 2021, 01:13
Soweit ich Dich verstehe, würdest Du als der Apotheker in meinem Beispiel oben Deine Flaschen verkaufen.
Ja, jedenfalls unter der Annahme von der Alternativlosigkeit der Handlung (entweder, oder, aber nichts sonst). Wenn der Apotheker einfach einen monetären Verlust erfährt aber neue Medizin in den Laden kriegen kann bevor die Leute sterben, dann ist es nicht statthaft. Falls der Apotheker die Flaschen schnell genug testen kann, um das Gift auzusortieren, dann ist es nicht statthaft. Usw. usf. Nur falls er die restriktive Wahl hat entweder jetzt zu verteilen, oder nicht, und sonst nichts - dann ergibt sich Dein moralisches Dilemma.
Erstens kann im Prinzip der Doppelwirkung auch der (ungewollte) Tod von Unschuldigen aufgewogen werden, nämlich durch das Leben eines Unschuldigen. Das Standardbeispiel für das Prinzip der Doppelwirkung in katholischer Morallehre involviert ja gerade den Tod eines Unschuldigen: in einer Extrauteringravidität darf der Eileiter herausgeschnitten werden, der das befruchtete Ei enthält. Das Resultat ist der ungewollte Tod dieses offensichtlich komplett unschuldigen Kindes, zum Preise der Erhaltung des Lebens der (jedenfalls hier) unschuldigen Mutter. Und wenn Du denkst das sei neuzeitliche Korruption, dann sei erneut auf die alte Idee des gerechten Krieges verwiesen. Auch in den Kriegen des Mittelalters kamen selbstverständlich Unschuldige um (mal ganz abgesehen von anderen Schäden), und dies wurde in Kauf genommen. Es ist nicht strikt unmöglich den Tod eines Unschuldigen in die moralische Waagschale zu werfen.
Zweitens ist obiges Beispiel letztlich eine geschickte aber irreführende Zuspitzung der Situation. Es externalisiert die Zufälligkeit um uns zu verwirren, weil wir es instinktiv ablehen jemandem praktisch Gift zu geben. Man muß nun einen Extraschritt nachdenken um zu sehen, daß der Apotheker hier nicht wirklich gewollt "Gift gibt" als Handlung, auch wenn er es der Umstände halber praktisch tut. Die Situation die wir eigentlich diskutierten ist hingegen einfacher zu durchdenken, weil die Zufälligkeit nur in der Konsequenz steckt, nicht im Mittel. Es ist offensichtlich, daß der Arzt einfach nur Medizin gibt, auch wenn die Medizin dann mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit wie Gift wirkt.
Drittens sei betont (nicht für Dich sondern für andere Leser), daß wir hier nicht über das Prinzip reden, daß man nicht Schlechtes tun darf um Gutes zu erreichen. Wenn ein Tyrann dem Apotheker sagt, daß er nur neun Flaschen Medizin austeilen kann, falls er einem Patienten eine Flasche Gift gibt, dann muß der Apotheker das in der Tat ablehnen, auch wenn dann neun zusätzliche Unschuldige sterben. Der Unterschied ist hier daß in obigen Beispielen eben keine gewollte moralische verwerfliche Handlung im Spiel ist. Ich vertrete hier also durchaus
nicht einen Utilitarismus.
Viertens hat sich mit der Akzeptanz meiner Beispiele die Diskussion erledigt. Du hast mir bereits zugestimmt, Du hast nur die Konsequenzen nicht durchdacht. Du sagst "Du aber verwechselst vorhersehbare kausale Konsequenzen einer Handlung mit statistischen Korrelationen." Aber dem ist nicht so. Wir reden hier eben von Statistiken
über kausale Konsequenzen. Der Dachdecker stürzt vom Dach und stirbt. Das ist eine kausale Konsequenz seiner Arbeit als Dachdecker, denn ohne diese Arbeit wäre er erst garnicht auf dem Dach und könnte nicht stürzen. Wie wahrscheinlich ist diese Konsequenz? Um das Einzufangen betreiben wir Statistik, frequentistisch zählen wir die Anzahl der tödlichen Stürze über der Anzahl der Dachdeckereinsätze. Dem Dachdecker wird diese Statistik mitgeteilt (oder jedenfalls kennt er eine ungefähre Abschätzung derselben aus der Erfahrung seiner Kollegen!). Er geht trotzdem auf das Dach um zu arbeiten. Ohne jeden Zweifel nimmt er dann die mögliche kausale Konsequenz eines tödlichen Sturzes in Kauf. Das ist moralisch statthaft. Du stimmst zu, und damit widersprichst Du Dir einfach selber.
Deine Beispiele bemühen sich übrigens auch uns über die Abwägung (
prudentia) zu einer falschen prinzipiellen Antwort zu verführen. Es ist kein Zufall, daß Du hier kleine Zahlen bemühst (also etwa zehn Flaschen) und die Dringlichkeit herunterspielst. Wenn bei jeder zehnten Dachdeckerarbeit jemand zu Tode stürzt, würden wir das instinktiv verbieten wollen. Aber das liegt an der Abwägung, daß es das "nicht wert" ist. Andererseits würde niemand sagen, daß es unmoralisch war als die Leute in den oberen Stockwerken des World Trade Center aus dem Fenster sprangen um sich vor dem Feuer zu retten. Offensichtlich waren ihre Chancen den Sprung zu überleben so gut wie null. Aber der Feuertod war ihnen sicher. In diesen Umständen ist ein Sprung kein Selbstmord, sondern ein letzter verzweifelter Versuch. Wenn wir von Medizin reden die einen mit 10% Wahrscheinlichkeit umbringt, dann müssen wir eben eher über solche verzweifelten Versuche reden. Also, bei einem Schulausflug sitzt der Sportlehrer mit 10 Kindern in einer Gondel. Die beginnt über einer tiefe Schlucht abzustürzen - aber die Gondel schwebt nur vier Meter weg von einem Fels. Der Sportlehrer weiß so gut wie sicher, daß nicht alle Kinder einen vier Meter Sprung schaffen werden, auch nicht mit der Hilfestellung die er geben kann. Aber einige sicher schon. Darf der Sportlehrer den Kindern befehlen den Sprung zu versuchen? Oder müssen sie alle zusammen in der Gondel zu Tode stürzen?