Der Untergang hoher Kulturvölker

Aktuelle Themen aus Politik, Gesellschaft, Weltgeschehen.
Benutzeravatar
Lupus
Beiträge: 2701
Registriert: Samstag 13. September 2008, 13:48
Wohnort: Bad Waldsee

Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Lupus »

Sicher haben wir unter unseren Kreuzgang-Gesprächspartnern auch historisch Interessierte.
Angeregt durch so manche Diskussion in verschiedenen Gesprächsfäden, würde ich gern anregen, dass man sich einmal Gedanken darüber macht, was die Gründe dafür waren, dass so viele "Hochkulturen", die einst so prächtig blühten, alle untergegangen sind.
Nur einige Beispiele: Assyrer, Perser, Ägypter, Hellenen, Römer, Azteken etc.

+L.
Christus mein Leben, Maria meine Hoffnung, Don Bosco mein Ideal!

Benutzeravatar
Niels
Beiträge: 24027
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 11:13

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Niels »

"Dekadenz".
Iúdica me, Deus, et discérne causam meam de gente non sancta

Thomas_de_Austria
Beiträge: 1906
Registriert: Donnerstag 20. Mai 2010, 16:47

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Thomas_de_Austria »

Das ist schwer zu sagen. Eigentlich gehört das alles präzisiert: Welcher Abschnitt in der Geschichte des betreffenden Volkes/der Kultur, da diese Kulturen oft tausend Jahre und mehr bestanden. Auch lässt sich zu manchen Kulturen und gewissen Untergängen aufgrund der schlechten Quellensituation/Datenlage nicht viel wirklich Gehaltvolles, jenseits der Spekulation, sagen (die "klass." Maya z. B.).

Bei den Römern ist es aber ganz interessant, wenn man an so etwas, wie den Zug Geiserichs nach Nordafrika denkt, der mit seinen maximal 18.000 vandalischen Gestalten dort alles übernahm, obwohl ein vielfaches an zumindest theoretisch wehrfähiger, männlicher römischer bzw. romanisierter Bevölkerung dort lebte, der eigentlich nichts sonst einfiel, als sich mit Kind und Kegel hinter den Mauern ihrer Städte zu verbarrikadieren und die Sache – man möchte fast sagen – auszusitzen ...

Benutzeravatar
Niels
Beiträge: 24027
Registriert: Donnerstag 2. Oktober 2003, 11:13

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Niels »

Mein Eindruck war bislang, dass die Römer ihren Untergang damit endgültig eingeleitet haben, dass sie allen (freien?) Provinzialen das römische Bürgerrecht nachgeschmissen verliehen haben. Ich weiß, dass man da nicht nur monokausal herangehen kann ("Barbarenstürme", Wirtschaftskrisen etc.) . Aber ich denke, da ist was dran. Für eine Einschätzung kompetenter Althistoriker wäre ich sehr dankbar.
Iúdica me, Deus, et discérne causam meam de gente non sancta

al-Muschrik
Beiträge: 86
Registriert: Freitag 9. November 2012, 08:09
Wohnort: prospektiver Exulant von Kosmopolis

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von al-Muschrik »

Dekadenz war sicher eine Gemeinsamkeit, die all die von Lupus genannten Kulturen: Assyrer, Perser, Ägypter, Hellenen, Römer, Azteken etc. gen Ende ausgezeichnet hat. Aber war diese wirklich in allen Fällen der Grund für den Untergang? Schärfer noch, war sie es jemals? Dekadenz scheint mir eher die Form zu sein in der Kulturen untergehen, eher ein Symptom als der eigentliche Grund.
Nach Oswald Spengler, Untergang des Abendlandes wäre der Untergang einer jeden Kultur ein ganz natürlicher und unabwendbarer, allenfalls zu verzögernder, Prozeß. Auch der des christlichen Abendlandes. Das wäre in diesem Falle durchaus auch mit der christlichen Eschatologie zu verteinbaren, wenn wir uns denn in der Epoche des Katechon und des Antichristen befänden.
Im Übrigen scheint mir die allgemeine Frage eher mit einem Begriff wie der "Wohlstandsverwahrlosung" beantwortet werden zu können, wenn damit auch sicher nicht alles gesagt ist. Salopp formuliert: Der Mensch verträgt es nicht, wenn es ihm zu gut geht. Menschliche Gemeinschaften genausowenig.
Die Bibel drückt es so aus:
Pro 30:8 Falschheit und Lügenwort halt fern von mir; gib mir weder Armut noch Reichtum, nähr mich mit dem Brot, das mir nötig ist, 9 damit ich nicht, satt geworden, dich verleugne und sage: Wer ist denn der Herr?, damit ich nicht als Armer zum Dieb werde und mich am Namen meines Gottes vergreife.
níĝ-ge-na-da a-ba in-da-sá nam-ti ì-ù-tu
אין שלום לרשעים
πᾶν γὰρ ἑρπετὸν πληγῇ νέμεται
ad hoc sacramentum adacti sumus, ferre mortalia nec perturbari iis quae vitare non est nostrae potestatis. In regno nati sumus: deo parere libertas est.

Benutzeravatar
taddeo
Moderator
Beiträge: 19226
Registriert: Donnerstag 18. Januar 2007, 09:07

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von taddeo »

Niels hat geschrieben:Mein Eindruck war bislang, dass die Römer ihren Untergang damit endgültig eingeleitet haben, dass sie allen (freien?) Provinzialen das römische Bürgerrecht nachgeschmissen verliehen haben. Ich weiß, dass man da nicht nur monokausal herangehen kann ("Barbarenstürme", Wirtschaftskrisen etc.) . Aber ich denke, da ist was dran. Für eine Einschätzung kompetenter Althistoriker wäre ich sehr dankbar.
Ich denke eher, daß für den Untergang solcher Reiche immer eine Kombination äußerer Gründe mit solchen der "Moral" eines Volkes verantwortlich ist.
Die Maya etwa dürften als Hochkultur untergegangen bzw. von äußeren Feinden zerrieben worden sein, als sie sich wegen jahrzehntelanger Dürren nicht mehr ernähren konnten, wobei sie durch Abholzung selber daran mitschuld waren.
Die Azteken gingen einerseits an den Spaniern und andererseits an den von diesen eingeschleppten Pocken zugrunde, nachdem sie wegen ihrer grausamen Expansionspolitik bei ihren Nachbarn sowieso schon verhaßt waren und keinerlei Unterstützung zu erwarten hatten.
Ägypten war seit dem 7. Jh. v. Chr. nur noch Provinz ausländischer Mächte und blieb das, bis es im 7. Jh. n. Chr. islamisch wurde. Da war wohl die politische Schwäche der Regenten Schuld am Verlust der Selbständigkeit.
Das römische Reich erstickte einerseits an seiner eigenen Größe wie an Erbrochenem, andererseits machte zumindest seinem Westteil die Völkerwanderung, ausgelöst von Naturveränderungen (Kaltzeit mit Mißernten und Hunger) und Hunnenstürmen, zusammen mit Seuchen den Garaus - also eine Vielzahl von Ursachen, die irgendwo zusammenhängen.
Den Griechen ging es nicht viel besser, aber die hatten schon zuvor durch ihren Polis-Provinzialismus der Expansion des zentralistischen Römerimperiums nichts entgegensetzen können und waren wie die hellenistischen Ptolomäer in Ägypten einfach geschluckt worden (wenn auch nicht so spektakulär im Bett einer hübschen Pharaonin, sondern ganz schnöde auf dem Schlachtfeld).
Man könnte auch noch Rußland oder Österreich-Ungarn mit heranziehen, aber da kenn ich mich zuwenig aus.

Thomas_de_Austria
Beiträge: 1906
Registriert: Donnerstag 20. Mai 2010, 16:47

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Thomas_de_Austria »

Na ja, inwiefern das der endgültige Anfang vom Ende war, ist fraglich. So schlecht standen sie am Anfang des 4. Jh. dann eigentlich ja nicht da, aber der Einbürgerung aller Provinzialen ging auf der höchsten Ebene ja etwa auch die Diffusion des Kaisertums voraus:

1.) Iulii-Claudii (von Augustus bis Nero 68 n. Chr.) waren stadtröm. Patrizier
2.) Flavier (von 69 bis 96 n. Chr.) aus dem senatorischer Amtsadel aus Italien
3.) Adoptivkaiser (von 98 bis 192 n. Chr.) waren Munizipalaristokratie im Reichsdienst (hauptsächlich aus Spanien)
4.) Severer (von 192 bis 235 n. Chr.) Munizipalaristokratie aus Africa
5.) Soldatenkaiser und Tetrarchen (mit Maximinus Thrax 235 n. Chr.): Vorwiegend Illyrer (dorther bzw. vom Balkan, kamen die besten und praktisch einzigen wirklichen "röm." Militärs, oder was man halt so zu bezeichnen pflegt, der Spätantike, praktisch – Aëtius war gebürtig aus Durostorum in Moesia inferior gelegen), ansonsten aus allen Gebieten. Mit der Soldatenkaiserzeit gab es kaum mehr Kaiser aus der Senatsaristokratie (Gallienus wäre noch einer der Letzten aus der Nobilität gewesen); diese Schicht verlor gegenüber den Militärs zunehmend an Bedeutung.

Wenn man sich jetzt einmal so knapp wie möglich die Reichskrise bis zur Tetrarchie ansieht:

Was die Finanzen angeht, so blieb das Währungssystem stabil ungefähr bis Commodus, obwohl man vorher schon längst eine Inflation erkennen kann. Anhand der Soldzahlungen kann man das recht schön bestimmen. Die Soldaten bekamen immer denselben realen Wert, dieselbe Kaufkraft, um ihren Unterhalt zu decken, alles andere wäre höchst problematisch gewesen:

Denare pro Jahr:

*) Augustus: 225
*) Domitian: 300
*) Commodus: 375
*) Septimius Severus (†211 n. Chr.): 500
*) Caracalla (†217 n. Chr.): 750

Während der Reichskrise werden die Goldmünzen dann fast bzw. wirklich vollständig aus dem Verkehr gezogen und eingeschmolzen. Der Feingehalt an Silber bei Denaren nimmt fortlaufend ab:

*) Septimius Severus: 50%
*) Caracalla (Antoninian/Doppeldenar ab 214 n. Chr.): 46%
*) Decius: 40%
*) Aurelian 2% (auch Exemplare mit 0,06% Silber gefunden, rein versilberte Kupfermünzen)

Kupfermünzen inflationieren galoppierend, ab 275 n. Chr. gibt es keinen As mehr (Denar an Materialkosten schon billiger bei der Herstellung als der As).

Aus Ägypten haben wir von Papyrusfunden auch eine gewisse Vorstellungen von den Preissteigerungen zu dieser Zeit, obwohl die Provinz im Prinzip immer schon ihr eigenes ökonomisches "Mikroklima" hatte und nicht besonders stark von den Kriegen und sonstigen "Verwerfungen" dieser Zeit betroffen war, was heißt, dass es in den wirklich betroffenen Gebieten katastrophal gewesen sein muss:


Datum: - Ware: - Preis: - Preis unter Normalumständen:

279 n. Chr. - Pech - 20-fache von - Normalwert
289 n. Chr. - 1 Kamel - 16,5 Talente (24.730 Denare) - 4-800 Denare (um 200 n. Chr.)
292 n. Chr. - 1 Metretes Wein (39,4 l) - 8.064 Denare - 1-200 Denare
292 n. Chr. - 1 Artabe Weizen (ca. 35 l) - 300 Denare - 15 Denare
301 n. Chr. - Weizen - 200-fache von - Normalwert

Die Einbürgerung aller Provinzialen mit der „Constitutio Antoniniana“ war ein Symptom, nicht so sehr Ursache für irgendwas. Man brauchte, wie man zu dieser Zeit schon sah, Geld, sehr viel Geld bzw. dann eigentlich für das Heer nur noch Naturalien. Man musste das Heer weiter finanzieren, denn man hatte zur selben, schon an sich belasteten Zeit, mit großen Schwierigkeiten an den Grenzen zu kämpfen. 224 n. Chr. war es mit der Herrschaft der Arsakiden-Dynastie in Persien zu Ende. Ardaschir I. begründete mit dem Sieg über Artabanos IV. das Sas(s)anidenreich. Diese Perser hatten es sich zum Ziel gesetzt, das alte achämenidisch-makedonische Reich wiederzuerrichten. Šapur I. (Regierungszeit: 240-270 n. Chr.), der „Šah von Eran und Aneran“, eroberte bspw. Antiochia (eventuell 253 oder 256 n. Chr. und dann noch einmal 260 n. Chr. gefallen), Gindaros (253 n. Chr. gefallen) und Dura-Europos (256 n. Chr. gefallen), er fiel in Kilikien und Kappadokien ein und nahm 260 n. Chr. Kaiser Valerian gefangen.
Gleichzeitig wurde es an der Rhein- und Donaufront immer unruhiger. Schon die Markomannenkriege (die Kampfgebiete waren Noricum, Raetia, Pannonia, Moesia, Dacia, wobei Aquileia und viele kleinere Städte, im heutigen Österreich auf dem Weg dorthin gelegen, zerstört wurden; Moesia inferior, Thracia und Macedonia wurden verwüstet, die Bastarnen kamen gar bis nach Eleusis) zeigten gewisse strukturelle Schwächen in der röm. Heeres- und Verwaltungsorganisation. Mehrfrontenkriege waren nur schwer zu führen, eigentlich musste der Kaiser immer selbst persönlich anwesend sein, wenn er "bevollmächtigte Stellvertreter" sandte, hatte er unter Umständen, falls sie erfolgreich waren, das Problem, sich mit einer Usurpation herumschlagen zu müssen, falls sie es nicht waren, blieb das Problem weiter bestehen. Diese ganzen Kriege fanden praktisch immer auf Reichsgebiet statt und verheerten die betroffenen Gebiete auch in einem nicht unerheblichen Ausmaß, was sich wiederum auf die Steuerleistungen auswirkte, mit denen man die Verwaltung und v. a. auch das Heer bezahlte, dass ohne Zahlungen natürlich nicht gegen die Barbaren eingesetzt werden konnte – ein Teufelskreis.
Die Germanen hatte seit Augusti Zeiten auch dazugelernt, sowohl technologisch, als auch politisch. Dazu hat sicherlich auch das Imperium selbst eher ungewollt beigetragen: Der Handel und wirtschaftliche Austausch mit dem Reich "pushte" die Wirtschaft der german. Stämme bis rauf zur Ostsee, sie lernten Eisen besser zu verarbeiten, die Waffen hatten eine höhere Qualität und – auch sehr wichtig – im Streit um den neuen Wohlstand begannen sich neue Einheiten zu bilden. Kriegergruppen rangen um die Kontrolle über Handelsrouten, über die Förderung von Metallen, die Bernsteingewinnung an der Ostsee etc. Es kam zu kämpfen, manche setzten sich durch und vereinigten immer weitere Gruppen unter ihrer Führung, wie erfolgreiche Anführer auch neue Krieger anzogen. Die ehemals kleinteiligen Stämme schlossen sich zu größeren und großen Verbünden zusammen (der Stammesname der Alemannen sagt ja bereits alles aus, er ist ja im Prinzip eine Sammelbezeichnung für einen großen Haufen Männer) und die german. Bevölkerungszahl stieg wohl an. Zusammen mit einer starken, kriegerischen Gesinnung führte das dann zu dem, was die Römer dann erlebten:

*) 213 n. Chr. ging Caracalla eigentlich präventiv gegen die Alemannen und Juthungen vor.
*) Unter Alexander Severus kam es 233 n. Chr. zum Einbruch der Alemannen in die „agri decumates“, diese wurden 260 n. Chr. endgültig aufgegeben (was für die Grenzverteidigung eigentlich große Probleme bedeutete, da die Grenze auf diese Art wesentlich ungünstiger lief und sich verlängerte, damit auch eigentlich mehr Truppen zu ihrer Überwachung benötigte).
*) 240 n. Chr. fielen die Goten über die untere Donauch nach Dacia, Moesia und Thracia ein. Decius selbst fiel ja bekanntlich 251 bei Abrittus in der Dobrudscha, wo die Goten siegten. Sein Opfergebot ist auch im Zusammenhang mit der Krise zu sehen.
*) 257 n. Chr. wird der Stammesverband der Franken erstmals erwähnt.
*) 259 n. Chr., praktisch zugleich mit der Eroberung des Dekumatlandes, überqueren die Franken den Rhein und plündern sich quer durch ganz Gallien bis nach Hispanien hinunter und hinterließen eine Schneise der Verwüstung. Erst Gallienus (†268) sichert dann wieder den Rheinübergang. Nebenbei entstand ein gallisches Sonderreich, da sie sich die Leute in Gallien nicht anders zu helfen wussten, das auch erst wieder niedergekämpft und integriert werden musste.
*) Valerian (in Gefangenschaft geraten 260 n. Chr.) zieht Truppen von der Rheinfront ab, um sie gegen die Alemannen einzusetzen.
*) 271 n. Chr. sieht sich Aurelian gezwungen, aufgrund fortgesetzter Angriffe, die Provinz Dacia endgültig aufzugeben und sich hinter die Donau zurückzuziehen.
*) 268 n. Chr. schlägt Claudius Gothicus die Goten bei Naissus; 257 n. Chr. durchfuhren die Goten erstmals den Bosporus und plünderten eine Reihe von Städten im heutigen Kleinasien, 268 n. Chr. kam die zweite Welle zu Land und zur See, die die Dardanellen durchquerte und den Peloponnes plünderte.
*) Hinzu kamen auch noch kleinere Überfälle von Sarmaten an der mittleren Donau, dann die üblichen, eher kleineren Angriffe der Pikten und keltischer Plünderer in Schottland und von Berberstämmen in Afrika.

Dass das alles (generelle Instabilität des Staates und Umwandlung des Finanz-, Verwaltungs- und Heeressystems, die Transformation der Monarchie insgesamt, der steigende Einfluss der Militärs durch die Krise, wie auch die ökonomischen Schwierigkeiten die daraus resultierten, die Abnahme der Bevölkerungszahl (von der ja schon einige Zeit zuvor bspw. Plutarch für Griechenland berichtete, diese wurde also nicht erst dadurch ausgelöst) und die kriegerischen Auseinandersetzungen mit Barbaren, Usurpatoren, Sonderreichen etc.) überhaupt noch einmal unter Kontrolle gebracht werden konnte, möchte man fast als ein Wunder ansehen. Aber es funktionierte irgendwie (sogar die Wirtschaftsleistung nahm im 4. Jh. zu, wie man inzwischen weiß, die Provinzen erholten sich auch z. T.), wenn auch unter einer kompletten Neugestaltung der Strukturen des Imperiums. Dennoch hielten sich gewisse Problemfaktoren innerhalb des Reiches bis zu seinem Untergang, wie z. B. der Bevölkerungsschwund, und die Wehrunwilligkeit, auch kochten die Provinzen ab einer gewissen Zeit jeweils alle ihr eigenes Süppchen, man identifizierte sich immer weniger mit dem Kaiser bzw. dem Gesamtstaat. Für das Heer galt dasselbe, schon in der Soldatenkaiserzeit und darüber hinaus. Das mangelnde Gemeinschaftsbewusstsein beim Heer darf einen dann ohnehin nicht mehr wundern: In der Schlacht auf den Katalaunischen Feldern 451 n. Chr. bestand das Heer (von „römisch“ will ich dabei gar nicht sprechen) des Aëtius z. B. zur einen Hälfte aus den Westgoten, zur andern Hälfte aus einem zusammengewürfelten Haufen aus german. Föderaten, darunter Franken und Burgunder, und dem römischen Teilen, dessen Soldaten vielfach wohl auch aus den finstersten und wildesten Löchern des Westreichs gestammt haben dürften, also v. a. quasi aus irgendwelchen Schluchten zwischen den Bergen des Balkan usw.

Benutzeravatar
Jarom1
Beiträge: 887
Registriert: Freitag 5. August 2011, 20:15

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Jarom1 »

Ich denke, dass mehrere Faktoren zum Niedergang beitragen:

- Dekadenz (nach Nietzsche das "Vorziehen dessen, was einem schadet")
- Damit verbunden ein Realitätsverlust und das Vorziehen von "Spassthemen" (das Wagenrennen in der Arena wird wichtiger als die Barbaren an der Grenze) - oft gepaart mit einem falschen Gefühl der Sicherheit durch den Glauben an die Überlegenheit der eigenen Kultur
- Eine gewisse kulturelle Erschöpfung: Die Kultur wird zu kompliziert; die "Teilhabe" an der Kultur wird sehr zeitaufwändig. Dies kann auch zu Zweifeln an und Ablehnung der eigenen Kultur führen

Diese Faktoren führen dann zu Symptomen wie Kinderlosigkeit, kultureller Relativierung sowie Mangel an Durchsetzungsfähigkeit und -wille, die eine Abwärtsspirale auslösen.
Consciousness of sin, certainty of faith, and the testimony of the Holy Spirit

Benutzeravatar
Linus
Beiträge: 15072
Registriert: Donnerstag 25. Dezember 2003, 10:57
Wohnort: 4121 Hühnergeschrei

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Linus »

Niels hat geschrieben:"Dekadenz".
http://www.youtube.com/watch?v=q1KcvxUrfoI
"Katholizismus ist ein dickes Steak, ein kühles Dunkles und eine gute Zigarre." G. K. Chesterton
"Black holes are where God divided by zero. - Einstein

Benutzeravatar
Lupus
Beiträge: 2701
Registriert: Samstag 13. September 2008, 13:48
Wohnort: Bad Waldsee

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Lupus »

Linus hat geschrieben:
Niels hat geschrieben:"Dekadenz".
http://www.youtube.com/watch?v=q1KcvxUrfoI
Österreicher müsste man sein! :achselzuck:

+L.
Christus mein Leben, Maria meine Hoffnung, Don Bosco mein Ideal!

Benutzeravatar
martin v. tours
Beiträge: 3497
Registriert: Sonntag 2. November 2008, 21:30

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von martin v. tours »

Hallo Lupus
Du musst kein Österreicher sein :blinker:
Den Text des Liedes hast Du gleich unterhalb des Video´s zu mitlesen.

Ein spannendes Thema hast Du hier aufgemacht, allerdings fehlt mir das Fachwissen, das einige Teilnehmer hier an den Tag legen (Oswald Spenger habe ich nicht geschafft zu lesen).
Wenn Du mir den (unzulässigen?) Vergleich der westlichen Kultur mit dem römischen Reich erlaubst, wo stehen wir dann, deiner Meinung nach, im Moment ?

im Jahr 250,350 oder 450 ?

Ist der "Untergang hoher Kulturvölker" überhaupt verhinderbar ? (meiner Meinung nach nicht)
Verzögerbar ? Wenn ja, gibt es Beispiele ?

martin v. tours
Nach dem sie nicht erreicht hat, daß die Menschen praktizieren, was sie lehrt, hat die gegenwärtige Kirche beschlossen, zu lehren, was sie praktizieren.
Nicolás Gómez Dávila

Benutzeravatar
Jarom1
Beiträge: 887
Registriert: Freitag 5. August 2011, 20:15

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Jarom1 »

martin v. tours hat geschrieben: Wenn Du mir den (unzulässigen?) Vergleich der westlichen Kultur mit dem römischen Reich erlaubst, wo stehen wir dann, deiner Meinung nach, im Moment ?

im Jahr 250,350 oder 450 ?
Um 200. Irgendwo zwischen Marc Aurel und Elagabal
martin v. tours hat geschrieben: Ist der "Untergang hoher Kulturvölker" überhaupt verhinderbar ? (meiner Meinung nach nicht)
Verzögerbar ? Wenn ja, gibt es Beispiele ?

martin v. tours
Verzögerbar. Siehe die Reformation :breitgrins:
Consciousness of sin, certainty of faith, and the testimony of the Holy Spirit

Benutzeravatar
Lupus
Beiträge: 2701
Registriert: Samstag 13. September 2008, 13:48
Wohnort: Bad Waldsee

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Lupus »

Als an der Geschichte stets sehr interessierter Mensch habe ich, Folge meines Theologiestudiums?, immer wieder beim Studium der alten Kulturen weniger an den militärischen oder wirtschaftlichen Erfolgen oder Misserfolgen der jeweiligen kulturtragenden Völker Interesse gezeigt, sondern ich habe mehr auf das Leben der Menschen geschaut und da fiel mir immer wieder auf, - ausgehend von der enorm günstigen Schilderung der Sittenstrenge der Germanen durch Tacitus, dass im Laufe der Geschichte eines Volkes, man nehme meinetwegen auch die Sittenstrenge eines Cato und anderer bei den Römern der Vorkaiserzeit, dass, je höher der äußere Glanz strahlte, die Sitten der Völker rapid abglitten.
Die Assyrer mit ihrem "hieros Gammos" auf und um ihren Zikurats (Stufenpyramiden), die Hellenen durch ihre zunehmende Sittenlosigkeit (Gymnasien), die Paulus apostrophiert, die Römer, die belehrt durch das Vor-Leben vieler ihrer Cäsaren (Nero), die Ehe und Sitten immer mehr für überflüssig hielten, etc. sie alle gingen daran zu Grunde.

Nichts Neues unter der Sonne, könnte man meinen und sollte daraus eigentlich Schlüsse ziehen für das eigene Leben und das seines eigenen Volkes. Wo stehen wir heute?

+L.
Christus mein Leben, Maria meine Hoffnung, Don Bosco mein Ideal!

Thomas_de_Austria
Beiträge: 1906
Registriert: Donnerstag 20. Mai 2010, 16:47

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Thomas_de_Austria »

Jarom1 hat geschrieben: […] das Vorziehen von "Spassthemen" (das Wagenrennen in der Arena wird wichtiger als die Barbaren an der Grenze) – oft gepaart mit einem falschen Gefühl der Sicherheit […]
Das haben die weder im Westen, noch im Osten vergessen, das ganze 3. und 4. Jh. hindurch und im 5. Jh. schon gar nicht. Von ein paar geplünderten Städten schrieb ich bereits oben. Die Alemannen griffen seit 213 n. Chr. den obergermanischen Limes an, 233 n. Chr. brachen sie dort dann ein, endgültig wurde er aufgegeben bis 260 n. Chr. Wir haben aus dieser Zeit zahlreiche vergrabene Münzschätze aus diesem Gebiet. Die reicheren Provinzialen dort mussten ihr Hab und Gut offenbar schnell verstecken, konnten es aber dann nicht mehr holen.
Die Alemannen kamen (wie auch die Franken) bis nach Aquitanien, sie suchten also Gallien, Raetien und Oberitalien heim, alles jenseits von Mainz ging in den 260er Jahren des 3. Jh. verloren. Zu dieser Zeit bekamen Verona, Mailand u. a. Städte neue, anständige Mauern. Die Aurelianische Mauer (Aurelian regiert: 270-275 n. Chr.; unter Probus, der von 276-282 n. Chr. regierte, fertig gestellt) um Rom ließ man auch nicht von ungefähr errichten. Die Alemannen kamen recht nahe an Rom heran.

An der mittleren Donau griffen sog. „Wohnwagenvölker“ an (Sarmaten, Iazygen etc.), an der unteren Donau und übers Schwarze Meer die Goten u. a. Germanen. Diese plünderten auch die Küsten Kleinasiens, kamen teilweise bis Griechenland.
So ganz nebenbei ließen sich – u. a. wegen der Unfähigkeit der Zentralregierung bzw. der legitimen Kaiser – am laufenden Band Gegenkaiser ausrufen und entstanden Sonderreiche, die auch alle erst niedergekämpft werden mussten. Halbwegs verschont blieben nur die spanischen Provinzen, Süditalien Afrika und Ägypten, obwohl es in diesen Gebieten auch zu gewissen Vorfällen kam. So werden bei Eutrop für 285 n. Chr. die Sachsen erwähnt und das Wehr- und Sicherungssystem des „Litus Saxonicum“, mit gewaltigen Forts und den Flottenstützpunkten der „Classis Britannica“, wurde wohl schon von Probus in Auftrag gegeben, der Südbritannien gegen Seeräuber und Plünderer sichern wollte, die man dann als Franken und Sachsen identifizierte. Auch Syracus wurde von Franken geplündert, die – faszinierend und irritierend genug – von Probus am Schwarzen Meer angesiedelt worden waren (um seine Ruhe vor ihnen zu haben; wenn sie dort wären, so dachte man, hätte man am Rhein weniger Franken, die Schwierigkeiten machen), sich aber Schiffe besorgten und irgendwann nach den Plünderungen durch die Säulen des Herakles wieder munter heimwärts zum Rhein fuhren (die Flotte und der Seekrieg hatten in der Spätantike ohnehin keine echte Bedeutung mehr). Der Panegyriker spricht von „incredibilis audacia et indigna felicitas“ francorum … Im Osten war das alles auch nicht wesentlich besser, dort wurde auch die Militärgrenze zu den Sas(s)aniden systematisch ausgebaut und erweitert, es entstanden, nach den ersten Misserfolgen gegen Šapur I. auch Sonderreiche (Septimia Zenobia von Palmyra kennt man ja, sie war die Frau von Septimius Odaenathus, der „corrector totius Orientis“, der sich 260 n. Chr., nach der Niederlage von Edessa, den Römern anschloss, die Ostgrenze für den Kaiser wieder halbwegs unter Kontrolle brachte, indem er die Perser zwei Mal besiegte (262/3 und 267/8 n. Chr.) und sogar bis Ktesiphon vorstieß, wie auch den Usurpator Quietus und Ballista beseitigte; er wurde 267/8 n. Chr. ermordet, man weiß nicht exakt, wann).

Ab dem 3. Jh. belasteten Aushebungen, der Steuerdruck (wozu man noch einiges sagen müsste), Seuchen und Räuber die „plebs rustica“ überall. Die Bevölkerung nahm dadurch sicherlich weiter ab, es kam zur Landflucht (dem man dann mit der Bodenbindung und weiteren Maßnahmen begegnete etc.).
Seit Marcus Aurelius war man in der Defensive. Die spätere Heeresreform Diocletians (und die kleineren Versuche von manchen Soldatenkaisern) stellte das Heer eigentlich komplett auf den Verteidigungsmodus um.
Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Römer bzw. v. a. die Bevölkerung im Westen diese Probleme jemals wieder ignoriert haben sollten. Viele zerstörten Städte wurden erst im 4. Jh. wieder ganz hübsch aufgebaut, nur um dann im 5. Jh. wieder zerstört zu werden, je nach Region auch schon wieder in der zweiten Hälfte des 4. Jh.
Jarom1 hat geschrieben:[…] durch den Glauben an die Überlegenheit der eigenen Kultur […]
Natürlich glaubten die Römer an ihre überlegene Kultur, die Germanen glaubten auch daran (nur die Perser nicht unbedingt). Ihre Kultur war ja auch recht weit überlegen. Diese Horden wussten ja über weite Strecken noch nicht einmal wirklich, was sie eigentlich mit den besetzten Gebieten der Römer anfangen sollten und gingen dann z. T. auch irgendwann freiwillig so etwas wie Föderaten-Verträge (nur unter weit besseren Bedingungen als bei den ersten derartigen Verträgen mit Germanen) ein. Bei Orosius, glaube ich, gibt es so eine Stelle, in der das nach seinen Angaben (von Hieronymus, der es von einem Senator, der mit dem betreffenden Germanenkönig Umgang hatte, gehört haben will) auch explizit ausgesprochen wird. Man erkennt dann auch schon die Idee, der Weiterführung des Imperiums durch die Germanen, wie sie dann im Mittelalter voll durchschlägt.
Jarom1 hat geschrieben:Die Kultur wird zu kompliziert; die "Teilhabe" an der Kultur wird sehr zeitaufwändig.
Das ist ein wichtiger Punkt, den man eigentlich gesondert besprechen muss.
martin v. tours hat geschrieben:Wenn Du mir den (unzulässigen?) Vergleich der westlichen Kultur mit dem römischen Reich erlaubst, wo stehen wir dann, deiner Meinung nach, im Moment ?

im Jahr 250,350 oder 450 ?
Jarom1 hat geschrieben:Um 200. Irgendwo zwischen Marc Aurel und Elagabal
Das ist natürlich alles so eine Sache, da so etwas nie völlig gleich abläuft, aber wenn schon, würde ich das auch so ähnlich sehen. Weil hier Elagabal steht: In diesem Zusammenhang müsste man eigentlich auch das, was Spengler die „zweite Religiosität“ genannt hatte, näher beleuchten (vllt. auch im Zusammenhang mit dem, was heute so unter der Bezeichnung „Wiederkehr der Religion(en)“ firmiert).
martin v. tours hat geschrieben:Verzögerbar ? Wenn ja, gibt es Beispiele ?
Das Imperium könnte man eventuell als ein Beispiel für eine solche Verzögerung nennen, aber für den Westen konnte man den Zusammenbruch nicht lange aufhalten, keine 200 Jahre eigentlich.
Lupus hat geschrieben:Österreicher müsste man sein!
Tja … ;D

Benutzeravatar
Lupus
Beiträge: 2701
Registriert: Samstag 13. September 2008, 13:48
Wohnort: Bad Waldsee

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Lupus »

Ein Trostpflästerchen für mich:

Wichtige Teile meiner Vorfahren stammten aus dem Pongau, von wo aus sie einer meiner Vorfahren, Ferdinand Hofer als Anführer der von Fürstbischof Leopold Anton von Firmian durch sein Emigrationspatent vom 31.10.1731 des Landes verwiesenen Protestanten, nach Sachsen und bis nach Ostpreußen geleitete. Ich stand einmal an seiner, Firmians, Gedenktafel im Salzburger Dom (vorne links) und habe ihm gedankt, denn sonst wäre ich heute, wie alle jene Vorfahren auch nur noch "gottgläubig", jenem "Religionsmerkmal" im "Dritten Reich".

+L.
Christus mein Leben, Maria meine Hoffnung, Don Bosco mein Ideal!

Pilgerer
Beiträge: 2697
Registriert: Freitag 3. Juni 2011, 00:45

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Pilgerer »

Ein Problem der alten Imperien war die fehlende dichte Verwaltung, die den Zusammenhalt längere Zeit ermöglichen konnte. Es gab eine relativ große Instabilität, die insbesondere in der Zeit der Thronwechsel zu regelmäßigen Reichskrisen führte. Im Römischen Kaiserreich war das besonders stark der Fall, wo der "Kaiser" kein klassischer Erbmonarch war, sondern eine Art charismatischer Herrscher.
Jarom1 hat geschrieben:Ich denke, dass mehrere Faktoren zum Niedergang beitragen:

- Dekadenz (nach Nietzsche das "Vorziehen dessen, was einem schadet")
- Damit verbunden ein Realitätsverlust und das Vorziehen von "Spassthemen" (das Wagenrennen in der Arena wird wichtiger als die Barbaren an der Grenze) - oft gepaart mit einem falschen Gefühl der Sicherheit durch den Glauben an die Überlegenheit der eigenen Kultur
- Eine gewisse kulturelle Erschöpfung: Die Kultur wird zu kompliziert; die "Teilhabe" an der Kultur wird sehr zeitaufwändig. Dies kann auch zu Zweifeln an und Ablehnung der eigenen Kultur führen

Diese Faktoren führen dann zu Symptomen wie Kinderlosigkeit, kultureller Relativierung sowie Mangel an Durchsetzungsfähigkeit und -wille, die eine Abwärtsspirale auslösen.
Das Modell wird im Kleinen auch im israelitischen Reich sichtbar: David erkämpft mit Entbehrungen, starker persönlicher Moral und Disziplin ein israelitisches Reich. Dieses Reich kommt unter seinem Sohn Salomo, der von Anfang an im Frieden lebt, zur kulturellen Blüte und großem Reichtum. Doch kurz nach dieser hohen Blüte kommen die ersten Versuchungen. In Überflusszeiten haben Versuchungen einen großen Spielraum. Dementsprechend können die schlechten Tugenden der Menschen sich voll ausleben. Es kommt zur Dekadenz, die erst noch harmlos aussieht, und die man tolerieren könnte. Doch im Lauf der Zeit finden sich Verbrechen, Machtgier, Habgier etc. ein, die die Wurzel für Machtkämpfe und unmenschliche Herrschaftspraktiken bereiten.
Dieser Zyklus besteht aus den Stufen: 1. tugendhafte Errichtung des Großreiches, 2. Reichtum, Hochkultur und Macht, 3. Dekadenz, Untugend, 4. Gewalt, Unruhen und Niedergang
10 Die Erlösten des HERRN werden wiederkommen und nach Zion kommen mit Jauchzen; ewige Freude wird über ihrem Haupte sein; Freude und Wonne werden sie ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. (Jesaja 35,10)

Thomas_de_Austria
Beiträge: 1906
Registriert: Donnerstag 20. Mai 2010, 16:47

Re: Der Untergang hoher Kulturvölker

Beitrag von Thomas_de_Austria »

Belastungen Privater, sog. „indictiones/intributiones“: Requirierung bzw. Zwangsaufkauf durch das Heer zu Zwangspreisen; Zwangsunterbringung bei der Bevölkerung (mit der Zeit wurden zwar regulierende Vorschriften hierzu erlassen, aber …).* Dann die „annona“, Zuschlag in Naturalien zu den Steuern in Geld, später wurden die Naturalien üblich, da das Geld als Folge der Inflation fast nichts mehr wert war (völlig wertlos, wie unser derzeitiges Altpapier und die Spieljetons, konnte es natürlich nicht werden, da hier ja immer zumindest etwas Metall mit einem gewissen Wert vorlag). Dann der „cursus publicus“, für dessen Bestückung mit Pferden, Futter für die Pferde, Erhaltung der „stationes“, Personal etc. von den Curialen bereitzustellen war, zusätzlich Transportleistungen für den Staat (darauf geht wohl Mt V,41 zurück: „Et quicumque te angariaverit mille passus, vade cum illo alia duo.“) und weitere Leistungen für den Staat/"die Öffentlichkeit" (s. „munera“). Als man dann wegen der Landflucht und des Bevölkerungsschwundes nach und nach die Land- und Berufsbindung einführte, die v. a. für die Nahrungsmittelversorgung und für das Militär wichtige Berufszweige betraf (außer Bauern, auch Bäcker, Müller, Bogner etc.). Curialenpflichten, die zuvor noch ehrenhalber von reichen Stadtbürgern übernommen wurden, wurden immer unbeliebter, da sie das Vermögen der Leute aufzehrten. Man reagierte darauf, indem man regelmäßig bestimmte Leute auswählte und zum Curialendienst zwangsverpflichtete. Diese Verpflichtung wurde zwar immer wieder missachtet, was die oftmalige Wiederholung der einschlägigen Verordnungen bezeugt, auch stiegen Personen aus den untersten Schichten über Heer, Verwaltung und Klerus bis ganz oben auf, dennoch war die Situation für die Unterschicht drückend. Während die Oberschicht heterogen und gespalten blieb – u. a. misstraute und verachtete der alte Senatsadel den Aufsteigern aus dem Militär und umgekehrt –, kann man bei den Unterschichten eine Homogenisierung und Nivellierung ihrer Stellungen im Vergleich zur späten Republik und zur frühen Kaiserzeit feststellen. Die Unterschiede zwischen freien Landpächtern, die ins Kolonat, das später auch rechtlich in seiner bekannten, ausgeprägten Form fixiert wurde, obwohl ein großer Teil der Bestimmungen schon aus dem 3. Jh. stammte, abrutschten, und Sklaven, überhaupt zwischen Freien, Freigelassenen und Sklaven wurden praktisch marginalisiert. Kleine und mittelgroße Landgüter verfielen, der Besitz konzentrierte sich zunehmend bei einigen Großgrundbesitzern. Die Verbreitung des Latifundiensystems in den meisten Regionen des Imperiums bewirkte die Ausbreitung des Kolonats. Für die riesigen Landgüter wurden Massen an abhängigen Arbeitskräften benötigt und die Sklaven blieben aus, so dass man die freie Landbevölkerung an die Scholle binden musste. Diese hatten mit den immer höher werdenden Abgaben an den Staat, von dem man sich im Gegenzug immer weniger erwarten konnte (bzgl. Schutz vor Barbaren etc.), natürlich große Probleme und versuchten sich, diesen zu entziehen. Um die Abgaben überhaupt zu bekommen bzw. den Nachschub an Nahrungsmitteln, Gebrauchsgütern, Waffen etc. zu gewährleisten, bot der Staat seinen ganzen Apparat an Sicherheitskräften und Beamten auf. Wir haben haufenweise Beschwerden aus allen Gegenden, die sich über die oftmals brutalen Übergriffe berechtigterweise aufregten. Pächtern wurden z. T. Soldaten auf den Hals gehetzt oder auch Schlägertrupps. Erpressung, Willkür, Korruption und Brutalität waren verbreitet. Es nimmt daher nicht wunder, dass sich auch genügend entlaufende Sklaven, Pächter etc. auf das Verbrechertum verlegten und sich z. B. in Räuberbanden organisierten, die die staatlichen Transporte von Steuerleistungen abfingen, weswegen man auch für deren Schutz Soldaten bereitstellen musste. Es war nicht in allen Gegenden zu allen Zeiten gleich schlimm bzw. traten nicht immer in einer Gegend alle Katastrophen und Schwierigkeiten zugleich ein, alles in allem waren die Zustände aber höchst unangenehm bis katastrophal.

Von den Zuständen der Zeit zeichnen heidnische (z. B. Herodian) wie christliche Quellen (z. B. St. Cyprian) ein düsteres Bild:
[i]Ad Demetrianum[/i] I,3 hat geschrieben:Du hast behauptet, w i r hätten die Schuld und uns müsse all das zugerechnet werden, was jetzt die Welt erschüttert und bedrängt, weil eure Götter von uns nicht verehrt würden. In dieser Beziehung mußt du, der du von göttlicher Erkenntnis keine Ahnung hast und der Wahrheit ferne stehst, in erster Linie wissen, daß die Welt bereits alt geworden ist, daß sie nicht mehr in ihrer früheren Kraft steht und sich nicht mehr derselben Frische und Stärke erfreut, in der sie ehemals prangte. Auch wenn wir schweigen und keine Belege aus den heiligen Schriften und den göttlichen Verkündigungen beibringen, so redet schon die Welt selbst eine deutliche Sprache, und sie bezeugt ihren eigenen Untergang durch den sichtlichen Verfall aller Dinge1 . Nicht mehr reicht im Winter des Regens Fülle aus, um die Samen zu nähren, nicht mehr stellt sich im Sommer die gewohnte Hitze ein, um das Getreide zur Reife zu bringen, nicht mehr kann sich der Frühling seiner früheren Milde rühmen, und auch der Herbst spendet uns die Früchte der Bäume nicht mehr in so reicher Menge. Weniger wird aus den durchwühlten und erschöpften Bergen an Marmorplatten gewonnen, weniger Schätze an Silber und Gold liefern die bereits ausgebeuteten Bergwerke, und die ärmlichen Adern versiegen noch mehr von Tag zu Tag. Mehr und mehr erlahmt und ermattet auf den Fluren der Landmann, auf dem Meere der Schiffer, im Felde der Soldat; es schwindet die Uneigennützigkeit auf dem Markte, die Gerechtigkeit vor Gericht, in der Freundschaft die Eintracht, in den Künsten die Fertigkeit, in den Sitten die Zucht. Glaubst du denn, etwas Alterndes könne wieder solch kräftiges Wesen annehmen, wie es früher in seiner noch frischen und üppigen Jugend zu blühen vermochte? Abnehmen muß alles, was seinem Ende schon ganz nahe ist und dem Untergang und Abschlüsse sich zuneigt. So sendet die Sonne bei ihrem Untergang Strahlen mit weniger hellem und feurigem Glänze aus, so wird des Mondes Scheibe wieder dünner, wenn sich sein Lauf dem Ende nähert und seine Hörner verblichen sind, und der Baum, der einst grün und ertragreich gewesen, wird später, wenn seine Äste verdorren, unfruchtbar und durch das Alter entstellt, und auch die Quelle, die ehedem aus überströmenden Adern reichlich hervorsprudelte, wird altersschwach und versiegt und läßt kaum mehr in kleinen Tropfen ihr Naß heraussickern. Das ist der Grundsatz, der für die Welt aufgestellt ist Das ist Gottes Gesetz, daß alles, was entstanden ist wieder vergeht, und alles, was gewachsen ist, altert, daß das Starke schwach, das Große klein wird und, wenn es dann schwach und klein geworden ist, sein Ende nimmt.
[i]Ad Demetrianum[/i] II,17 hat geschrieben:Um von den alten Zeiten ganz zu schweigen und auf die oftmals wiederholten Strafgerichte zum Schutze der Verehrer Gottes mit gar keinem rühmenden Wort zurückzukommen, so kann schon ein Ereignis der jüngsten Vergangenheit als Beweis genügen. Erst vor kurzem ist so schnell und bei aller Schnelligkeit doch so nachdrücklich die Rache für uns vollzogen worden durch den Zusammensturz des Reiches, durch die Einbuße an Macht, durch die Opfer an Kriegern und durch die Verluste an Heerlagern.


Genauere Kenntnisse der Umstände sind hilfreich, die Krise und ihre Ursachen zu bestimmen bzw. wie die Abwärtsspirale später noch einmal abgefangen wurde. Man muss angeben, was genau man mit Dekadenz und was man mit Krise meint. Gerade der Dekadenzbegriff ist vergleichsweise weit und unbestimmt und kann u. U. in ganz unterschiedlichen Kontexten (andere Kultur, Gesellschaftsstruktur und Zeit) und unter anderen zugrunde liegenden Wertungen (die besten Beispiele sind die Differenzen zwischen Anhängern Gibbons und Nietzsches und christl. Dekadenztheoretikern) jeweils komplett unterschiedliche Phänomene einschließen. Wenn man möglichst allgemeine, zeitübergreifende Begriffsmerkmale angibt, die auf alle Kulturen zutreffen können, sind diese notwendigerweise inhaltsärmer, abstrakt und formal.**
Es wurde schon auf Nietzsche verwiesen und Dekadenz als das Wählen dessen, „was einem schadet“ bestimmt. Für sich genommen ist das einfach etwas vage und es ist fraglich, inwieweit es wirklich Völker und Kulturen gibt, die systematisch, vllt. sogar noch ausschließlich das wählen, was ihnen schadet. Bei Nietzsche steht allerdings noch mehr:
[i]Ecce homo[/i], 6 & 7 hat geschrieben:
6.
Die Freiheit vom Ressentiment, die Aufklärung über das Ressentiment — wer weiss, wie sehr ich zuletzt auch darin meiner langen Krankheit zu Dank verpflichtet bin! Das Problem ist nicht gerade einfach: man muss es aus der Kraft heraus und aus der Schwäche heraus erlebt haben. Wenn irgend Etwas überhaupt gegen Kranksein, gegen Schwachsein geltend gemacht werden muss, so ist es, dass in ihm der eigentliche Heilinstinkt, das ist der Wehr- und Waffen-Instinkt im Menschen mürbe wird. Man weiss von Nichts loszukommen, man weiss mit Nichts fertig zu werden, man weiss Nichts zurückzustossen, — Alles verletzt. Mensch und Ding kommen zudringlich nahe, die Erlebnisse treffen zu tief, die Erinnerung ist eine eiternde Wunde. Kranksein ist eine Art Ressentiment selbst. […] Das begriff jener tiefe Physiolog Buddha. Seine „Religion“, die man besser als eine Hygiene bezeichnen dürfte, um sie nicht mit so erbarmungswürdigen Dingen wie das Christenthum ist, zu vermischen, machte ihre Wirkung abhängig von dem Sieg über das Ressentiment: die Seele davon frei machen — erster Schritt zur Genesung. „Nicht durch Feindschaft kommt Feindschaft zu Ende, durch Freundschaft kommt Feindschaft zu Ende“: das steht am Anfang der Lehre Buddha’s — so redet nicht die Moral, so redet die Physiologie. — Das Ressentiment, aus der Schwäche geboren, Niemandem schädlicher als dem Schwachen selbst, — im andern Falle, wo eine reiche Natur die Voraussetzung ist, ein überflüssiges Gefühl, ein Gefühl, über das Herr zu bleiben beinahe der Beweis des Reichthums ist. […]
7.
Ein ander Ding ist der Krieg. Ich bin meiner Art nach kriegerisch. Angreifen gehört zu meinen Instinkten. Feind sein können, Feind sein — das setzt vielleicht eine starke Natur voraus, jedenfalls ist es bedingt in jeder starken Natur. Sie braucht Widerstände, folglich sucht sie Widerstand: das aggressive Pathos gehört ebenso nothwendig zur Stärke als das Rach- und Nachgefühl zur Schwäche. […]
Diese Verweise auf den Wehrinstinkt, die Wehrhaftigkeit, könnte im Zusammenhang mit dem Untergang des röm. Reichs tatsächlich weiterhelfen. Oben wurde von mir nicht umsonst Geiserichs Eroberung Nordafrikas erwähnt. Allenthalben lässt sich die mangelnde Wehrhaftigkeit der Reichsbewohner beobachten. Bezeichnend auch, dass die Römer gefangene Germanen als Wehrbauern an den Grenzen ansiedelten oder sie sonst wie als Soldaten verwendeten, während umgekehrt die Germanen gefangene röm. Provinzialen ihr Land bestellen ließen, während sie selbst in den Krieg zogen.


---
* Das Heer wurde natürlich immer wichtiger, überhaupt scheint es, als wäre in dieser Zeit, aufgrund der genannten Umstände, der Staat teilweise nur noch für das Heer da gewesen und nicht das Heer für den Staat. So sollen die letzten Worte Septimi Severi an seine Söhne lt. Cassius Dio gelautet haben:

[i]‘Ῥωμαϊκὴ ἱστορία[/i] 76,15,2 hat geschrieben:ὁμονοεῖτε, τοὺς στρατιώτας πλουτίζετε, τῶν ἄλλων πάντων καταφρονεῖτε.


[Bleibt im Einvernehmen, bereichert die Soldaten, und kümmert euch wenig um alles andere.]

** Ein gewisses Problem bei Nietzsches Dekadenzbegriff scheint mir allerdings der zu sein, dass er metaphysisch ist. Er ist so weit, allgemein und prinzipiell gefasst, dass immer alles verfällt, was er auch selbst schreibt:

[i]Der Wille zur Macht[/i] I,3,40 hat geschrieben:Die Erscheinung der décadence ist so nothwendig, wie irgend ein Aufgang und Vorwärts des Lebens: man hat es nicht in der Hand, sie abzuschaffenen.


Man kommt eigentlich nicht darum herum. Was vielfach als Ursache für die Dekadenz angegeben wird, ist bei Nietzsche Folge und Symptom, u. a.:

[i]Der Wille zur Macht[/i] I,3,42 & 43 hat geschrieben:Folgen der décadence: das Laster – die Lasterhaftigkeit; die Krankheit – die Krankhaftigkeit; das Verbrechen – die Criminalität; das Cölibat – die Sterilität; der Hysterismus – die Willensschwäche; der Alkoholismus; der Pessimismus; der Anarchismus; die Libertinage (auch die geistige). Die Verleumder, Untergraber, Anzweifler, Zerstörer.

43.


Zum Begriff »décadence«.
1)Die Skepsis ist eine Folge der décadence: ebenso wie die Libertinage des Geistes.
2) Die Corruption der Sitten ist eine Folge der décadence (Schwäche des Willens, Bedürfniß starker Reizmittel –).
4) Der Nihilismus ist keine Ursache, sondern nur die Logik der décadence.
5) Der »Gute« und der »Schlechte« sind nur zwei Typen der décadence: sie halten zu einander in allen Grundphänomenen.
6) Die sociale Frage ist eine Folge der décadence.

etc.

Einen Erklärungswert mit greifbaren Ergebnissen für den Niedergang von Kulturen und den gesellschaftlichen Verfall, hat das aber in dieser Form nicht unbedingt und gerade das wäre von größtem Interesse. So kategorisiert der Anthropologe und Historiker Joseph A. Tainter „decadence“ auch als eine „mystical explanation“.

Antworten Vorheriges ThemaNächstes Thema