Joseph Ratzinger hat geschrieben:Wir wissen heute, daß sich das demokratische Modell aus den Mönchsverfassungen entwickelt hat, die mit den Kapiteln und der Abstimmung darin solche Modelle vorgegeben haben.
Darüber ließe sich trefflich streiten. Man müßte auch fragen, was der Begriff des „demokratischen Modells“ meine. Freiheit, Wahl, Selbstbestimmung und Selbstverwaltung sind jedenfalls auch in vormoderner, alteuropäischer Zeit kein Spezifikum des Mönchtums.
Joseph Ratzinger hat geschrieben:Der Gedanke des gleichen Rechts aller konnte so seine politische Form finden.
Diesen Gedanken finde ich eigentlich weder im Mönchtum noch etwa in städtischen oder ländlichen Verfassungen. Vielmehr gibt es in Alteuropa überall unterschiedliche Rechte, Stände, Teilhabe an der Machtausübung, oft sehr fein und vielfältig zergliedert. Der egalitäre Gedanke, jeder müsse gleichermaßen an allem teilhaben, war völlig fremd. (Auch heute gibt es nur den Gedanken und die Illusion solcher Teilhabe; real ist das nicht.)
»Seine politische Form« fand dieser egalitäre Gedanke anderswoher.
Joseph Ratzinger hat geschrieben:Es ist ein offenkundiger Tatbestand, daß die beiden Urdemokratien, die amerikanische und die englische, auf einem aus dem christlichen Glauben kommenden Wertekonsens beruhen …
Das ist der Kardinalsirrtum. Zunächst mal paßt das englische System nicht so recht hierher. Ich würde die amerikanische und französische Revolution nennen. Beide entstammen einem dem kirchlichen Glauben völlig entgegengesetzten Denken. Allerdings waren auch die Gegenpole, nämlich das Ancient Régime oder die britische Oligarchie, längst dem Wesen der Christenheit entfremdet. Von daher erklärt sich der heute jedem Kind geläufige, aber nur ein enges Spektrum der Möglichkeiten beschreibende Gegensatz von „Demokratie“ und „Diktatur“. In Wahrheit beruhen beide auf demselben Prinzip.
Joseph Ratzinger hat geschrieben:… und auch nur funktionieren konnten und können, wenn ein grundlegendes Einverständnis über Werte vorhanden ist. Sie würden sich ansonsten auflösen und zerfallen.
Die Berufung auf „Werte“ ist, wie ich ja regelmäßig wiederhole, bereits Symptom jener Auflösung. Das ist der Geburtsfehler der Schelerschen Wertephilosophie (von welcher besonders Karol Wojtyla beeinflußt war, doch auch Joseph Ratzinger ist nicht frei davon).