Betrachtungen zur Zeitgeschichte
Verfasst: Dienstag 12. August 2025, 10:30
Markus Langemann ist der Journalist, der ChatGPT danach befragte, wie das Denken der nächsten Generation vergiftet werden kann: hier!Markus Langemann hat geschrieben:Der stille Tod des Gentleman.
Es sind nicht die Schlagzeilen, in denen er verschwindet. Keine Eilmeldung informiert uns darüber, dass er nun nicht mehr ist. Kein Talkshow-Tisch debattiert seinen Abgang. Und doch: Der Gentleman ist fort.
Nicht plötzlich, nicht dramatisch, sondern lautlos. Wie eine Zigarette, die bis zum Filter herunterbrennt, während sich niemand mehr fragt, wer sie angezündet hat. Was
bleibt, ist ein aschener Geschmack von etwas, das einmal Stil, Haltung und Anstand bedeutete. Der Gentleman war keine Berufsbeschreibung. Auch kein gesellschaftliches Statussymbol. Er war ein kulturelles Versprechen. Und dieses Versprechen lautete: Ich sehe dich. Ich sehe dich als Frau, als Gegenüber, als Mensch. Ich nehme mich zurück, um dich zu achten. Nicht weil du schwach bist. Sondern weil ich stark genug bin, mich selbst nicht zum Zentrum der Welt zu machen.
Heute ist dieses Versprechen zerbröselt. Wer heute die Tür aufhält, wird nicht selten belächelt. Wer sich erhob, wenn eine Dame den Raum betrat, wird belächelt. Wer Komplimente verteilt, tut gut daran, vorher juristische Beratung einzuholen. Der Respekt vor dem Anderen ist einer kollektiven Vorsicht gewichen. Es herrscht das Gesetz der Kränkbarkeit. In dieser Welt wird der Gentleman zum Risikofaktor. Nicht weil er falsch handelt, sondern weil richtiges Handeln falsch gedeutet werden kann.
Die Ichifizierung der Welt
Fangen wir mit einem der Symptome an: Instagram. Treffender wäre vielleicht Ichtagram, wie ich es zu nennen pflege. Dort wird nicht beobachtet, sondern dargestellt. Nicht nachgedacht, sondern gepostet. Nicht gefragt, sondern gefiltert. Wer sich selbst im Spiegel der eigenen Kamera inszeniert, hat wenig Raum für den Anderen. Der Gentleman aber war das Gegenteil davon. Er war keine Projektionsfläche, sondern ein Spiegel. Er machte anderen Platz, nicht sich selbst. Und genau das macht ihn in dieser Zeit so unbrauchbar wie ehrenwert.
Das Digitale ist dabei nur Ausdruck eines tieferliegenden Kulturwandels. Die alte Ordnung der Begegnung, des Blickkontakts, des Austauschs, ist ersetzt worden durch eine neue Ordnung der Selbstbespiegelung. Die Maxime lautet: Sichtbarkeit über Substanz. Der Gentleman jedoch war Substanz – sichtbar oder nicht.
Ein weiterer Brandherd ist die Verwechslung von Gleichwertigkeit mit Gleichartigkeit. Gleichberechtigung – zweifellos ein Fortschritt. Gleichmacherei hingegen – ein Irrtum. Wer Unterschiede nicht mehr zu benennen wagt, macht sich blind für die Besonderheit des Gegenübers. Zwischen Mann und Frau herrschen biologisch wie emotional Unterschiede. Diese zu leugnen heißt, das Menschliche zu entwerten.
Wenn ein Mann einer Frau die Autotür öffnet, sagt er nicht: "Du kannst das nicht." Er sagt: "Ich schätze dich." Wenn er sich ihr gegenüber zurücknimmt, sagt er nicht: "Du brauchst mich." Sondern: "Ich respektiere dich." Der Gentleman war nie ein Chauvinist. Er war ein Zuhörer. Er war kein Lautsprecher. Und er wusste: Macht zeigt sich nicht im Lautsein, sondern im Stillsein können.
Und was ist mit der Lady? Auch sie ging. Leiser noch. Sie hat sich zurückgezogen. Einst stand sie für Eleganz, für Würde, für Anmut, ohne Arroganz. Sie war der Spiegel des Gentleman, nicht sein Schatten.
Doch in einer Zeit, die Weiblichkeit oft nur noch in Reiz und Reaktion denkt, ist auch sie marginalisiert worden. Wer heute als Frau Haltung zeigt, wird oft als konservativ belächelt. Wer eine gewisse Form wahrt, wird verdächtigt, sich dem Patriarchat anzubiedern.
Dabei war die Lady nie ein Abziehbild, sondern eine Möglichkeit. Eine Einladung zur stilvollen Gegenseitigkeit. Eine Frau, die sich schätzen ließ, weil sie sich selbst schätzte. Wer das heute sagt, gilt als reaktionär. Doch vielleicht ist Reaktion genau das, was wir brauchen: Eine Reaktion auf die Entwürdung des Gegenübers im Namen einer falsch verstandenen Freiheit.
Haltung zu zeigen, ist heute verdächtig geworden. Wer sich zu geradlinig gibt, gilt als unflexibel. Wer Werte lebt, nicht nur benennt, gilt als moralinsauer. Doch vielleicht liegt genau darin die Kraft des Gentleman: In der stillen Weigerung, sich dem Zeitgeist zu unterwerfen. In der aufrechten Figur in einem Raum voller gebeugter Rücken.
Der Gentleman ist ein Anachronismus. Ja. Und genau das macht ihn nötig. Denn nicht jeder Anachronismus ist ein Überbleibsel. Manche sind Mahnung.
Was also tun? Vielleicht dies: Den Gentleman nicht verklären, aber erinnern. Ihn nicht kopieren, aber fortführen. In der Art, wie wir sprechen. Wie wir begegnen. Wie wir unterscheiden zwischen der Wucht des Ichs und der Würde des Du. Die Welt braucht keine weitere App. Sie braucht Menschen, die nicht nur "Respekt" fordern, sondern ihn leben. Nicht nur sich selbst feiern, sondern den Anderen sehen.
Und vielleicht – das wäre ein Anfang – einfach mal wieder die Tür aufhalten.
Die traurige Pop-Kultur
Ich vermisse den Widerspruch. Nicht den infantilen Trotz, sondern den aufrechten Widerstand gegen das Bequeme, gegen die behagliche Einhegung der Kultur in Förderlogiken, Gremien und Debattenhygiene. Es gab einmal diesen Ton, rau und doch präzise, der dem Establishment das Lachen austrieb. Punk war mir selten lieb, aber stets verständlich: eine Ethik der Zumutung, ein Nein, das sich nicht abkaufen ließ. Auch im deutschsprachigen Pop gab es Momente nüchterner Distanz: Niedecken, Kunze, Campino – und Westernhagens „Freiheit“, die offiziell nur die künstlerische meinte, de facto aber wenigstens eine. Heute wirkt manches im Rückspiegel - wie Gratismut.
Gesänge gegen die Macht, vorgetragen auf Bühnen, deren Backstage längst an die politische Bimmelbahn angeschlossen ist. Von wegen „Hinterm Horizont geht’s weiter“ – oft geht’s für alternde Pop-Proleten nur weiter im Abteil der ersten Klasse. Der Künstler, der sich einmal als Aufklärer verkaufte, gibt sich zu oft mit der Pointe zufrieden.
So dokterten "Die Ärzte" schon mal live in den Tagesthemen an der Eröffnungsfanfare und Bela B. diagnostizierte angepasst peinlich und mainstreamkompatibel: "...solange Corona so wütet wie jetzt gerade...". In diesen Regierungs - "Sonderzug nach Pankow" gehört auch meine alte Ambivalenz gegenüber den Fantastischen Vier. Ich war nie Jünger, aber oft wohlwollender Zeuge: Tickets gekauft, sogar Reihe 1. Fanta 4 waren – und sind – eine großartige Live-Maschine, ein Kollektiv, das über Dekaden zusammenhielt. Chapeau! Zugleich blieben sie inhaltlich die Kuratoren des Leichten: Sprachspiel, Alltag, milde Zeitdiagnostik. Das war legitim, ja erfolgreich. Aber es war nie der Stachel.
Kurz: Fanta 4 stehen kulturgeschichtlich für die Popularisierung und Institutionalisierung von Deutschrap, weniger für Opposition als Prinzip. Schon klar!
Dann kam die Pandemie – und mit ihr die Luca-Episode, die mir als Zäsur erschien. Die Luca-App wurde mit der Fantastic Capital Beteiligungsgesellschaft UG mitgegründet, mit rund 22,9 % am Stammkapital wird sie dem Bandumfeld zugerechnet. Smudo fungierte öffentlich als Gesicht und Verteidiger des Produkts. Luca als System zur Kontaktverfolgung (QR-Check-ins, Entschlüsselung für Gesundheitsämter) und erhielt später Funktionen zum Hinterlegen von EU-COVID-Zertifikaten – damit wurde im Einlassprozess ein 2G/3G-Status technisch prüfbar.
Das wars dann! Wer Kunst einst als Korrektiv zur Macht imaginiert hat, musste sich hier an einem Produkt reiben, das sichtbar an behördliche Maßnahmen andockte und mit staatlicher Nachfrage skalierte. Das wirkt, gelinde gesagt, zu nah am Regierungsnarrativ – nicht als Debatte, sondern als Dienstleistung. Das hatten wir auch schon mal.
Ich unterstelle niemandem böse Absicht. Ich kritisiere die Verwechslung von technokratischer Lösungsrhetorik mit gesellschaftlicher Verantwortung. Hey ihr 4, wenn Ihr nicht im Tiefen schwimmen könnt - dachte ich mir damals - dann haltet euch weiter in eurem lustigen Beachclub auf und macht dort eure Pop-Pop-Populär-Party. Im seichten seid Ihr super.
Kunst muss nicht oppositionsromantisch sein. Aber sie sollte sich nicht selbst zum Erfüllungsgehilfen machen. Insofern wundert es mich kaum, wenn dieselben Kreise, die früher gern „gegen oben“ sangen, heute demonstrativ Distanz zu unpassenden Tischgesellschaften pflegen würden – mit der gebürtigen Russin Anna Netrebko, würde man sich vermutlich gar nicht erst an einen Dinner-Tisch setzen. Das ist elende Moral gepaart mit Markenhygiene.
Und die Fantas? Wer, wie ich, lange stiller Begleiter war, erkennt in der Luca-Kurve einen Bruch mit dem eigenen kulturellen Kern: Statt Reibung – Optimierung. Statt Zweifel – Akzeptanzdesign. Das mag kluges Business sein; künstlerisch bleibt es dünn.
Also gut: Wenn Rebellion im Kulturbetrieb ausbleibt, macht man sie eben selbst. Herrjehh! Alles muß man selbst machen. Hier ein Angebot ohne Subvention, ohne Gremium, ohne „Taskforce“ – ein Rap-Stück zum Hören. Und den mitlesenden FANTAS sage ich: Hier! Nimm' das."