Sarandanon hat geschrieben: Aber ich wiederhole meine Frage: Wünscht Du Dir eine solche repressive Regierungsform wie die russische auch für unser Land?
Die Frage ist zwar nicht an mich gestellt, aber ich erlaube mir trotzdem, drei Punkte dazu zu bemerken:
1. Was mich schon an der Frage stört, weil sie in dieser Form eigentlich nur von einem (West-)Europäer oder (Nord-)Amerikaner gestellt werden kann und nach wie vor -- sorry! -- den arroganten Geist der Kolonialzeit durchscheinen lässt: Was genau hat eigentlich die "russische Regierungsform" mit "unserem Land" zu tun? Was hat die Jupiteratmosphäre mit dem Saturn zu tun?
Kann es nicht möglich sein, einfach mal zu akzeptieren, dass es Völker gibt, die eher einer westlich geprägten Staatsform zuneigen, dass es andere Völker gibt, die lieber in Stammesgesellschaften leben, wieder andere, die gern ihre Monarchie haben wollen und vielleicht noch andere, die am liebsten an-archisch leben? Muss man denn alles auf der weiten Welt nach "unseren" Maßstäben messen und
alles auf der weiten Welt ausschließlich nach einem einzigen Kriterium für gut befinden oder verdammen, nämlich wie es zu "unserem Land" passt? (Klingt für mich immer ein bisschen wie eine politisch korrekte pseudodemokratische Neuauflage von "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen".)
Warum lässt Du nicht Russland seine eigene Regierungsform haben und Deutschland seine eigene? Was soll dieser ständige weltweite Vereinheitlichungsdrang, dieser Besserwessi-Missionseifer, der ständig weiß, wie "man's" besser macht?
(Nur mal so eine Randbemerkung: Die permanenten Bürgerkriege und Massaker im Nahen Osten -- Libanon, Syrien, Irak usw. -- sind doch nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass ehemalige europäische Kolonialmächte -- England, Frankreich ... -- die Besonderheiten, Gemeinsamkeiten und Unterschiede der dort lebenden Völker und Religionsgruppen einfach ignoriert und ohne Rücksicht auf die (teilweise in halbnomadischen Stammesgesellschaften organisierten) Bewohner ihre eigenen Kategorien übergestülpt und künstliche "Staatsgrenzen" nach europäischem Vorbild mit dem Lineal gezogen haben. Die Folge: Es reicht, seit ich mich zurückerinnern kann, eine winzige Störung des empfindlichen Machtgleichgewichts zwischen den Gruppen innerhalb so eines künstlich definierten "Staates" oder der Sturz eines "Staatschefs", um das nächste Fass zur Explosion zu bringen.)
2. Ich kenne Russland ein bisschen, und zwar nicht nur aus der Presse. Die Regierungsform empfinde ich als "autoritäre Demokratie", fast so autoritär wie beispielsweise im Bayern der 60er Jahre, wo ich meine glückliche Kindheit verbringen durfte. Repressionen war ich in Russland noch niemals ausgesetzt, obwohl ich auch in Russland mein Maul nicht halten kann, ebenso wie viele meiner Bekannten dort. Ich persönlich fühle mich dort sehr wohl und bin so oft dort wie ich kann bei Freunden und Verwandten. (Und ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Sommerurlaub, vielleicht auf der Krim.) Wem es aber dort nicht gefällt, der muss ja nicht dort hinfahren, der kann gern in Deutschland bleiben, dann riskiert er auch nicht, dass sein Lieblingsbild von der "repressiven Regierungsform" im Osten in irgendeiner Form erschüttert oder relativiert werden könnte und er darf sich bei seiner täglichen Zeitungslektüre weiterhin westlich-überlegen fühlen.
Also: Ich kann in Deutschland (mit der deutschen Regierungsform, nicht mit der russischen) leben. Ich kann ebenso gut in Russland (mit der russischen Regierungsform, nicht mit der deutschen) leben. Die Länder sind in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlich, eben weil ihn ihnen unterschiedliche Völker mit ganz unterschiedlicher Kultur und Geschichte leben. Beide Länder haben (aus meinem Blickwinkel heraus) ihre jeweiligen guten und ihre weniger guten Seiten. Na und? Wo ist das Problem?
3. Mit Demokratie nach westlichem Vorbild hat Russland in den 1990ern dank westlicher "Unterstützung" seine eigenen Erfahrungen gesammelt. Vom Westen als "Partner" hochgelobt, ist das Land in bitterster Armut und Chaos versunken. Die durchschnittliche Lebenserwartung russischer Männer sank auf 59 Jahre. "Westlich" und "liberal" wurden zu Schimpfwörtern und zu Synonymen von Ausbeutung, Leid und Tod. Was genau stört Dich eigentlich daran, dass die Russen deshalb seit einigen Jahren möglichst immer wieder jemanden wählen, von dem sie erhoffen bzw. genau wissen, dass sie dieses Chaos und diese Armut möglichst nie wieder erleben müssen? Gönnst Du ihnen ihre eigenen Erfahrungen und ihre eigenen Schlussfolgerungen nicht? Du hast doch diese Erfahrungen selbst nie gemacht (sondern Deine eigenen in Deinem Land) und Du musst ihre Schlussfolgerungen doch nicht für Dich und Dein Land ziehen (sondern Du ziehst logischerweise Deine eigenen Schlussfolgerungen aus Deiner eigenen Vergangenheit).