Siehst Du, und schon haben wir eine unterschiedliche Wahrnehmung. Denn anfangs war es nur ein Kreuz, ein 8 Meter hohes Holzkreuz, das von einer Papstmesse aus dem Jahr 79 im Lager Birkenau (Ausschwitz II) stammt und das später am "Kiesplatz", einer ehemaligen Hinrichtungsstätte am Rande des Konzentrationslagers Auschwitz I, aufgestellt wurde. Und zwar im Gedenkzeichen an die 152 Polen, die dort 1941 von den Deutschen ermordert wurden. Das eigentliche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau ist drei Kilometer vom Stammlager und der Kiesgrube entfernt. Eine Inanspruchnahme des Platzes als "jüdischer Friedhof", auf dem christliche Symbole nichts zu suchen haben, ist darum auch nicht gerechtfertigt. In dem Zusammenhang sollte man auch daran erinnern, dass in Auschwitz 100.000 Polen, allesamt keine Juden, in Auschwitz durch die Nazis ermordet wurden. Ein christliches Gedenkzeichen also für einen Massenmord, ausgeführt an 100.000 Menschen, von denen die meisten wohl recht oder schlecht Christen waren.Franziska hat geschrieben:Das ist richtig. Wenn jedoch christliche Eiferer und polnische Rechtsradikale, die sich ein christliches Mäntelchen umhängen, hergehen und einen zwischen Juden und Christen getroffenen Kompromiss unterlaufen, dann bezeichne ich das nach wie vor als Provokation.Erich_D hat geschrieben:Es ist nicht alles Provokation, wo's knallt; mitunter genügen unterschiedliche Wahrnehmungen und Interessenslagen.Franziska hat geschrieben:Die Provokation, mein Lieber, ging hier aber eindeutig von Christen und nicht von Juden aus.
In ihren Anfängen beruhte die "Sache mit dem Kreuz" auf nichts anderem als auf einem Mangel an Taktgefühl auf christlicher Seite.
Der nächste Wahrnehmungsschritt erfolgte nun von seiten jüdischer Organisationen, die von einer 'Entweihung des größten jüdischen Friedhofs durch das Christensymbol' sprachen. Wie gesagt: in der Kiesgrube starben polnische Widerstandskämpfer, das Vernichtungslager ist drei Kilometer entfernt.
Ab hier beginnt es zunehmend hässlich zu werden. Denn für patriotische Polen war das nicht annehmbar. Sind nicht auch - und tatsächlich nicht nur in ihrer Wahrnehmung - 100.000 christliche Polen in Ausschwitz um's Leben gekommen? Sind nicht in der Kiesgruppe polnische Patrioten im Kampf gegen die Deutschen, gegen die Nazis, um's Leben gekommen? Also widersetzten sich diese Patrioten dem Ansinnen und setzten noch eines darauf: aus dem einen Kreuz wurden Hunderte, zuerst für jeden in der Kiesgruppe getöteten Polen eines, dann noch viele mehr. Das gab der Schraube des Konflikts eine weitere Drehung.
Ich möchte das nicht weiter ausführen, nur dies: an dieser Schraube haben beide Seiten gedreht. Und ich bezweifle, dass es den Toten gerecht wird, wenn eine Seite der anderen Seite ein Gedenken mit ihren jeweiligen Symbolen und Gebräuchen verwehrt. Niemand kann den Holocaust monopoliseren, auch wenn es schwer fällt, das heute anders zu sehen. In den KZ's starben Juden, Sintis, Romas. Es starben Homosexuelle, und, ja, es starben dort Katholiken, darunter eben die 100.000 Polen in Ausschwitz.
Es war übrigens die katholische Kirche, die auf Drängen des Papstes eine Deeskalation des Konflikts betrieb. Manchmal - gerade in heutigen Tagen - würde man sich wünschen, es gäbe auch auf Seiten des Zentralrats der Juden in Deutschland jemanden, der sich an solchen Kunsstücken der Deeskalation versucht. Vielleicht hätte es genügt, wenn beispielsweise Paul Spiegel zum Telefon gegriffen hätte, um einen gewissen Kardinal anzurufen ...