Bob: "Mit diesem imperialen Anspruch (der katholischen Kirche), Macht über die 'Erdenscheibe' zu haben, entwickelte sich auch das Instrumentarium der manipulativen Sublimation, der geistigen Verdrängung, bis hin zur Verfälschung der Historie – obwohl es schon immer die 'Sieger' waren, die die Geschichte schrieben. Die erst Jahrzehnte nach dem Tod Jesu entstandenen Kolportagen der vier Evangelisten Lukas, Markus, Johannes und Matthäus – die Berichte anderer verschwanden vermutlich in den geheimen Archiven des Vatikans oder wurden vernichtet, wenn sie die 'Einheit der Kirche' gefährdeten – interpretierte man nun so, dass sie zum anmaßenden Selbstverständnis einer angeblich von Gott exklusiv legitimierten Kirche passten.
Ibn Khaldun: "Also zu allererst einmal: Die meisten christlichen Gelehrten hielten die Erde nicht für eine 'Scheibe', antikes Wissen wurde auch im europäischen Mittelalter rezipiert. Die 'Einheit der Kirche' ist auch etwas, was es so nie und gerade in der Antike nicht gab. Außer vielleicht noch in der Zeit des Frühchristentums, als dieses noch eine jüdische Sekte war - die heute nicht mehr als eine historische Randnotiz wäre, wenn sich nicht in ca. 1000 Jahren eine Weltreligion daraus entwickelt hätte.
Den Vatikan gab es damals noch nicht, bzw. es handelte sich beim Vatikan um einen römischen Friedhof, der später deshalb Bedeutung erlangte, weil hier Petrus beerdigt worden war. Das Christentum war zu dieser Zeit immer wieder mal eine verfolgte Religion, einige römische Kaiser verfolgten die Christen grundsätzlich, andere nur dann, wenn sie störend auffielen, und wieder andere ignorierten sie.
Was die apokryphen Evangelien angeht, so sind sie doch einigermaßen phantastisch bzw. gnostisch. Die Gnosis ist eine sehr schwierig zu verstehende religiöse Strömung aus Ägypten, die Elemente des Christentums zwar aufgriff, aber nicht aus dem Christentum entstanden war und auch keinen Einfluss auf die anderen christlichen Kirchen hatte.
Wichtig ist aber festzuhalten, dass die meisten christlichen Gruppierungen die vier Evangelisten, wie wir sie kennen, in ihre Vorstellungen integrierten. Die apokryphen Evangelien hatten große Bedeutung für die Christen - nur eben, dass sie nicht 'kanonisch' wurden. Viele Details, die heute ganz selbstverständlich sind, wie Ochs und Esel oder die Namen der Eltern der Jungfrau Maria, Joachim und Anna, wurden durch apokryphe Schriften überliefert und gehörten im Mittelalter zum kirchlichen Wissenskanon.
Bob: "Ein beispielhaftes Ergebnis solch verklärender wie nachhaltiger Manipulation ist die Apostelgeschichte des Lukas. Die berichtet, dass sich 'fünfzig Tage nach des Heilands Fahrt in den Himmel' alle Jünger in Jerusalem versammelt hätten. Dort 'goss GOTT seinen Heiligen Geist über ihnen aus', und 'es erschienen ihnen Zungen wie von Feuer' - was viele der mehr oder weniger Anwesenden, wenn es denn die Wahrheit wäre, sehr beeindruckt haben muss: Gleichzeitig dreitausend Menschen seien an diesem Tag, dem heutigen Pfingsten, getauft worden.
Ibn Khaldun: "Die Art und Weise, wie das berichtet wird, ist natürlich ohne Frage eine für uns moderne Menschen unglaubwürdige - nichtsdestotrotz muss man diese Geschichte nicht gleich als 'phantastisch' abtun. Jesus hatte zu seinen Lebzeiten viele Zuhörer, Freunde und Bewunderer, eine Basis gab es also. Auch wenn nicht an einem einzigen Tag dreitausend Menschen getauft worden sind (das ist in der Tat ein wenig 'phantastisch'), so kann man doch festhalten, dass das Christentum sich besonders in den unteren Schichten verbreitete und es innerhalb weniger Jahre auch Gemeinden außerhalb des syrojudäischen Raums gab. Wenn Du also die 'dreitausend' einfach in 'sehr viele' übersetzt (die Möglichkeit der Zahlensymbolik wäre hier auch noch in Betracht zu ziehen) und den Tag etwas auflöst, dann steht dahinter nur der Fakt, dass das Christentum sich nach dem Schock von Jesu' Tod konstituierte und Zulauf bekam, sozusagen der Beginn der Weltreligion.
Aber natürlich ist die Geschichte hier hereingemogelt. Paulus ist noch immer Saulus, der Streit zwischen ihm und den Aposteln, die Jesus persönlich kannten, ob man das Christentum auch für die Heiden öffnen solle, ist zu diesem Zeitpunkt nicht einmal angedacht. Dass also die Apostel zu diesem Zeitpunkt sämtliche in Jerusalem Anwesenden in ihren jeweiligen Muttersprachen bekehrten, passt mit der Geschichte nicht überein ...
Bob: "Das Ergebnis diesbezüglicher Studien war (den Buchdruck gab es noch nicht in Europa) nur einer kleinen geistigen Elite zugänglich; siehe auch Stauferkönig Friedrich der Zweite. Und man war seitens der katholischen Kirche aus machtpolitischen Gründen daran interessiert, dass Wissen exklusiv und in den Stuben und Köpfen der Gelehrten blieb, nur der Kirche selber zur Verfügung stand. Warum sonst die Bekämpfung von Giordano Bruno und Galileo Galilei und anderen?
Ibn Khaldun: "Du siehst das zu sehr aus der wissens- und informationsgesellschaftlichen Perspektive, wo Wissen, bzw. Wissensvorsprung die Grundlage für Macht ist. Das lässt sich aber so nicht auf das Mittelalter übertragen. Da war praktisches Wissen nötig, Gelehrtenwissen eher nicht. Und Macht basierte auf Gewalt. Die Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft, die sich erst seit dem Aufkommen der Tagespresse um 1800, in Deutschland und Spanien sogar erst viel später gebildet hat.
Giordano Bruno und Galilei wurden nicht aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnisse getötet bzw. unter Hausarrest gestellt (zumal war Giordano Bruno Mönch!), sondern weil sie das Gottesbild der Kirche antasteten. Es ging hier nicht einfach um Macht (das sicher auch), sondern vor allem darum, die Menschen vor Irrlehren zu schützen:
Das irdische Leben war für den mittelalterlichen Menschen ein 'Jammertal'; der Tod weniger erschreckend als für uns heute - weil er Aussicht auf das 'Paradies' brachte. In das kamen aber nur die, welche der 'reinen Lehre' angehörten. Was aus heutiger Sicht also zu verurteilen ist, war aus damaliger heilsgeschichtlicher Sicht der Versuch von Schadensbegrenzung - denn wer nicht ins Paradies kam, hatte sozusagen umsonst gelebt. Die Mentalität des europäischen Mittelalters ist uns, wie Du vielleicht merkst, genauso fremd, wie die asiatischer Kulturen.
Auch um die 'Einheit der Kirche' war es selbst im europäischen Mittelalter nicht besonders gut gestellt. Der Papst in Rom war als Bischof von Rom nur einer unter vielen, der zwar als das Oberhaupt der katholischen Kirche anerkannt und in theologischen Fragen durchaus gehört wurde - in machtpolitischen Fragen aber machten die Bischöfe als Landesfürsten das, was ihnen persönlich und dynastisch [sic!] am besten in den Kram passte, auch gegen ihre Amtskollegen und 'sogar' gegen den Papst ... (Ende)
Dieser Gedankenaustausch mit einem Deutsch-Spanier, den ich hier "Ibn Khaldun" nenne, war für mich wirklich bereichernd. Denn er basierte auf einer Diskurs-Kultur, bei der "Pointierung" erlaubt war - um aus These und Antithese die Synthese entstehen zu lassen. Khaldun wurde mein Freund - weil wir uns gegenseitig respektieren, trotz aller Unterschiede, auf welchem Weg wir uns der "Wahrheit" zu nähern versuchen: ich mehr "dialektisch", und er mit der akademischen Disziplin des Historikers ...