Fragesteller hat geschrieben:Wie würdest Du Ratzingers "theologische Sendung" des nachchristlichen Judentums einordnen: Handelt es sich um einer Schwerpunktverschiebung, eine neue Betonung eines bisher vernachlässigten Punkts - sowas wäre ja immer legitim und nach dem 2. WK sicher auch angemessen - oder tatsächlich um eine dem Bisherigen widersprechende Neufassung des Verhältnisses zum Judentum?
Ganz grundsätzlich müsste bemerkt werden, dass das Konzilsdokument NA überschrieben wird mit:
"Die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen"; das impliziert erst einmal - ohne jede weitere Deutungsmöglichkeit - dass das Judentum ganz offenbar von der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen gehört; die Alternative wäre auch unlogisch. s. weiter unten; weiter ist es für den Text nicht uninteressant, dass NA ursprünglich ausschließlich das Verhältnis der Kirche mit dem Judentum zum Thema haben sollte. Die eher progressiven Flügel des Konzils beklagten während und nach dem Konzil, dass dem Dokument kein stärkerer Charakter innewohnen sollte als dasjenige einer "Erklärung" - ganz offenbar sah man also - von dieser genannten Seite - den Charakter einer "Erklärung" als schwächer an als beispielsweise denjenigen eines "Dekrets" oder einer "dogmatischen Konstitution". Ganz offenbar wollte Papst Johannes XXIII. den heute uns vorliegenden Charakter einer "Erklärung" auch so und Papst Paul VI. später auch. Überhaupt sollte die Erklärung auch ausdrücklich den Antismitismus verurteilen, ein solcher Entwurf wurde aber nach Druck "von arabischer Seite" gestrichen (!)
(Das erfährt man in Rahners Konzilskompendium), auch sprachen sich orientalische Christen gegen das gesamte Dokument aus, da es ihren Standpunkt im nichtchristlichen Umfeld erschweren würde
(das erfährt man dort). Insgesamt scheint mir das Dokument ein Kompromiss zu sein, der - im Prinzip - niemandem auf die Füße treten wollte; dennoch kann man sagen, dass mit der Verabschiedung des Gesamtdokumentes die Einflüsse kontintenaleuropäischer Theologen (um nicht zu sagen: Theologen deutscher Zunge) einen unvergleichlich größeren Einfluss erhalten haben als Einflüsse aus der übrigen Weltkirche, speziell im Vergleich zu den Wünschen orientalischer Christen. Heute würde man eine solche Haltung "Eurozentrik" nennen und vielleicht kann dieser Vorwurf auch ein Argument zu einer - geläuterten - Wiedereröffnung der Debatte führen, dann aber mit Theologen, die zeitgeschichtlich nicht so "belastet" (und v.a. beeinflusst!) sind wie die Theologengenerationen zur Zeit des Konzils bis heute.
Nun zu
Ratzinger:
Ratzinger scheint den entscheidenden Bruch
im Judentum mit und durch das babylonische Exil und durch die Hellenisierung des Judentums zu sehen, wodurch das Judentum an geistiger Weite gewonnen habe und auch erst dadurch - noch vor dem Christentum - für die nichtjüdische Umwelt attraktiv wurde:
Joseph Ratzinger hat geschrieben:"Der ins Griechische übersetzte Glaube Israels, wie er sich in seinen heiligen Büchern spiegelte, wurde alsbald zu einer Faszination für den aufgeklärten Geist der Antike, deren Religionen seit der sokratischen Kritik immer mehr ihre Glaubwürdigkeit eingebüßt hatten. Im sokratischen Denken war aber - im Gegensatz zu den sophistischen Strömungen - nicht der Skeptizismus oder gar der Zynismus oder der bloße Pragmatismus bestimmend; mit ihm war zugleich die Sehnsucht nach der angemessenen und doch das eigene Vermögen der Vernunft überschreitenden Religion aufgebrochen. So geht man einerseits auf die Suche nach den Verheißungen der Mysterienkulte, die aus dem Osten vordringen, andererseits erscheint der jüdische Glaube als die rettende Antwort." Quelle: Ratzinger, J.: Glaube, Wahrheit, Toleranz. Das Christentum und die Weltreligionen. - Freiburg i.Br. 2004. - Hier: S. 123f.
Auch
Ratzinger glaubt also nicht an den v.a. von interessierter jüdischer Seite entwickelten Mythos, dass
"das Judentum" im Laufe der Jahrhunderte ethnisch homogen geblieben sei, was neuere Forschungen auch vehement
bestreiten. Proselytentum im Judentum gab es und zwar nicht zu knapp, sondern rund ums Mittelmeer der Antike.
Ratzinger scheint aber im hellenisierten und aufgeklärten Judentum der Antike die entscheidende Vorbereitung auf den großen Erfolg des Christentums zu sehen, also gewissermaßen einen doppelten Rückbezug des Christentums an das Judentum: Einmal die religionsgeschichtliche Entwicklung des Christentums aus dem Judentum heraus und die attraktive geistliche Neuerung des Judentums nach dem
Babylonischen Exil:
Joseph Ratzinger hat geschrieben:"Folgerichtig hat sich die Urkirche nicht Israel entgegengestellt, sondern sie glaubte in aller Einfachheit, dessen rechtmäßige Fortsetzung zu sein. [...] Wir wissen, daß jede Geburt schwierig ist. Sicherlich war das Verhältnis zwischen der werdenden Kirche und Israel von Anfang an oft durch Konflikte bestimmt. Die Kirche wurde von ihrer Mutter als entartete Tochter betrachtet, während die Christen die Mutter als blind und verstockt betrachteten. […] Vielleicht gerade wegen der Dramatik dieser letzten Tragödie [gemeint ist die Shoah – Ratzinger spricht dankenswerter Weise immer von „Shoah“, nicht vom „Holocaust“ – er weiß warum] ist eine neue Vision der Beziehung zwischen Kirche und Israel entstanden, ein aufrichtiger Wille, jede Art von Antijudaismus zu überwinden und einen konstruktiven Dialog gegenseitiger Kenntnis und der Versöhnung zu beginnen.[…] Wir werden auch beten, daß er den Söhnen Israels eine größere Erkenntnis Jesu von Nazareth gebe, ihrem Sohn und Geschenk, das sie uns gemacht haben. Da wir beide [Judentum und Christentum] in Erwartung der endzeitlichen Erlösung sind, laßt uns beten, daß unser Weg auf zusammenlaufenden Linien erfolge." Quelle: Ratzinger, J.: Weggemeinschaft des Glaubens. Kirche als Communio. - Augsburg 2005. - Hier: S. 236f.
Ratzinger verwendet hier das hübsche und seltene Bild des Judentums als
Mutter des Christentums, deren
Tochter (eben das Christentum) aus ihrer Sicht etwas missraten sei. Das Bild birgt natürlich Gefahren, etwa diese, dass das Christentum wesensmäßig die Offenbarung betreffend noch etwas "hinzulernen" könne; doch das meint
Ratzinger sicher nicht, denn was - an wesensmäßigem! - wäre das? Doch wohl nicht, dass die Ergebnisse des Nizäno-Konstantinopolitanum falsch wären. Ich glaube eher, dass die Bezeichnung des Judentums als
"Mutter" des Christentums eine chronologische Abfolge und wesensmäßige Herkunft verdeutlichen soll, die ja so auch gegeben ist; durchaus auch denkbar wäre die Personifikation Israels und des Christentums in Maria und Jesus. Interessant finde ich auch die Hoffnung
Ratzingers, dass am Ende der Zeiten
"unser Weg auf zusammenlaufenden Linien erfolge"; die Passage ist im
Jussiv abgefasst,
Ratzinger stellt also keineswegs fest,
dass es so sein
wird - er drückt eine theologische
Hoffnung aus, keine theologisch feststehende Tatsache aufgrund einer Offenbarung (die es so also offenbar nicht gibt). Dies dürfte ganz im Sinne auch von NA sein und die Erklärung
"Über das Verhältnis der Kirchen zum Judentum" der DBK sagt dies auch:
DBK hat geschrieben:"Wenn auch die Kirche sich schon im 1. Jahrhundert nach Christus von Israel getrennt hat, so bleibt doch die Heilsbedeutung Israels und die Heilszusage Gottes an Israel bestehen. Es ist uns verwehrt, in diesem Zusammenhang zeitliche Angaben zu machen, weil das Heil Israels ebenso wie das Heil der
Vollzahl der Heiden im Geheimnis Gottes verborgen bleibt (Röm 11,25f)."
Dass sich die Urkirche, wie
Ratzinger schreibt, nicht gegen Israel wandte, ist absolut plausibel; die Evangelien wurden alle von Judenchristen geschrieben; deshalb ist der oft gehörte Vorwurf, die Evangelien (oder Passionsberichte) seien
"antijudaistisch", vollkommen haltlos. Einen interessanten Gedanken in Bezug auf eine Verständigung des Christentums mit dem Judentum fand ich bei
Klaus Berger:
Klaus Berger hat geschrieben:"Deutlicher als alle übrigen Evangelisten stellt Lukas Jesus als den Leidenden, als den Märtyer dar. Vielleicht können die nichtchristlichen Juden eines Tages sehen, dass Jesus von den Römern gekreuzigt wurde, weil Pilatus die Juden hasste. Das Kreuz ist ein Dokument des antiken Antijudaismus, denn nur die Römer durften die Todesstrafe vollziehen. Pilatus wollte den Juden zeigen, dass ihr König ebenso war wie sie selbst - hilflos und ohnmächtig. Vielleicht können alle Juden eines Tages begreifen, dass der Jude Jesus so gelitten hat, wie auch sie es millionenfach erleiden mussten. Angesichts dieser Erkenntnis könnten sie sagen: Er ist einer von uns, er gehört in letzter Tiefe zu uns." Berger, K.: Jesus. - München 2007. - Hier: S. 467
Die Hauptfrage, nämlich diejenige nach dem Seelenheil der nichtgetauften Juden, ist dadurch natürlich nicht gelöst; sie ist, wie in den obigen Ausführungen zu lesen, in die Eschatologie "verschoben". Da kann die Antwort auf die Frage:
Wie kann es gelingen, gleichzeitig sowohl den Auftrag zu erfüllen, von Jesus Christus allen Menschen Zeugnis abzulegen, als auch den besonderen Bund Gottes mit den Juden zu respektieren?
...eigentlich nur auf den eschatologischen Vorbehalt hinweisen. Leider wird das meist nicht getan:
Bischof Mussinghoff hat geschrieben:Ich freue mich, als Christ zu leben und für Jesus Christus vor den Menschen ein Zeugnis gläubigen Lebens abzugeben. Das heißt zum Beispiel heute, den Flüchtlingen beizustehen, sie willkommen zu heißen und sie zu unterstützen. Die Juden beten den gleichen Gott an und orientieren sich an den ethischen Grundweisungen der Zehn Gebote. Mit Respekt voreinander, auch vor unseren Unterschieden, können wir Seite an Seite Gott dienen und am Ende alle gerettet werden.
Edi hat geschrieben:und es schon gar nicht mehr wagen darauf hinzuweisen, daß allein Jesus unser Retter und Erlöser ist, damit man ja keinen Anhänger einer anderen Religion "beleidige" oder gar "diskrimiere". Selbst der Papst ist hier oft nicht eindeutig in seinen Aussagen.
...das dürfte das Problem sein, ja. Eine Religion, die
nicht dogmatisch ist, kann man eigentlich nicht ernst nehmen. Das liegt irgendwie auch in der Natur der Sache. Ich glaube aber, dass dies vor allem ein Problem der Bischofsgeneration war, die jetzt abtritt.