Christentum ohne Paulus?

Schriftexegese. Theologische & philosophische Disputationen. Die etwas spezielleren Fragen.
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Marcus
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Christentum ohne Paulus?

Beitrag von Marcus »

Ein Häretiker schrieb:
Wir (der Gründer und seine Sympathisanten) haben ein essentielles Problem mit Paulus: dieses "Genie des Hasses" (Nietzsche) und dieser "sexualneurotische, frauenhassende, psychopathische Epileptiker" (Freud) hat nach unserer Meinung deutlich die Lehre Jesu verfälscht. Ob aus purer Machtgier oder einfach Aufgrund eines gesteigerten Mitteilungsbedürfnisses ist hier eher nicht die Frage. Wir machen kein Hehl daraus: wenn es nach uns geht, würden wir Paulus (natürlich auch die Pseudopaulinen) aus der Bibel entfernen. Wir haben uns gefragt, woher Paulus die Autorität nimmt (oder warum ihm diese zugesprochen wird), derartig absolute Dogmen zu proklamieren, die nicht aus der evangelischen Überlieferung abzuleiten sind und das auch noch von jemandem (Jesus), den er nie gekannt hat! Paulus deutet! Er ist ein Mensch, der, dazu ausgebildet, interpretiert. Mehr nicht. Die Sakralisierung der paulinischen Schriften und die Dogmatisierung der paulinischen Christologie halten wir für den folgenschwersten Fehler in der Geschichte des Christentums. Frei nach dem Grundsatz: "Weniger Paulus ist mehr Jesus", wollen wir darüber diskutieren, was überhaupt noch übrig bleibt, wenn man Paulus' Sprachenvergewaltigungen und seine (zugegebenermaßen) fantasievolle Christologie weglässt. Wir finden den Grundgedanken der jesuanischen Überlieferung zutiefst richtig und anerkennenswert. Aber was hat Paulus daraus gemacht? War Paulus der erste Christ (Nietzsche)? Wir denken, Jesus war ein jüdischer Rabbi, der sich ganz und gar nicht als Sohn Gottes (wir meinen hier das christliche Dogma vom "eingeborenen Sohn") gesehen hat und sehr fest in der jüdischen Lehre stand.
Natürlich möchte ich auch alle Interessierten mit anderen Meinungen zu dem Thema herzlich zu einer Diskussion einladen.
Der fehlt noch, dass auf Rücksicht und Tierliebe der Verzehr von Tierfleisch verdammt wird, dann hätte man es sicherlich mit einem von UL zu tun. Was haltet Ihr davon?

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Lutheraner
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Beitrag von Lutheraner »

Nichts. Paulus wurde durch die von Jesus zuvor berufenen Aposteln legitimiert (Apostelgeschichte).

Die in Deinem Zitat beschriebe "jesuanische" Theologie grassiert aber schon lange in unterschiedlichen Formen in den verschiedenen Kirchentümern. Paulus ist für viele schon längst out.
"Ta nwi takashi a huga bakashi. Ta nwi takashi maluka batuka"

ad_hoc
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Beitrag von ad_hoc »

Paulus ist ein beliebter Ausgangs- Angriffspunkt, um die christliche Lehre als nichtig zu erklären. Tatsache ist, dass ohne Paulus das Christentum, das also, was man heute, wohlgemerkt aus traditionalistischer Sicht, darunter versteht, wohl nicht mehr existieren würde. Ich erinnere an das traurige Schicksal der sogenannten Judenchristen, die, nach dem Ableben des letzten Oberhaupts, Simon, sich entweder aufgespalten haben und/oder verschiedene gnostische Lehren in ihre eigene christliche Lehre aufnahmen oder zu einem großen Teil sich den gnostischen Lehren zuwandten. Dadurch sind die Judenchristen größtenteils innerhalb dreier Jahrhunderte verschwunden, sofern sie nicht dem jüdischen Glauben wieder übernommen haben. Vielleicht ist es zu bedauern, dass die sogenannten Heidenchristen von sich aus nicht den Kontakt zu den Judenchristen erhalten haben.

Was Paulus anbelangt, so bin nicht nur ich der Auffassung, dass ihm, als ihm auf dem Weg nach Damaskus Jesus erschienen ist, gleichsam die gesamte christliche Lehre durch den Hl. Geist eingegossen worden ist. Nur so war er imstande, selbst die Apostel im christlichen Glauben zu sichern und Petrus in seiner Auffassung zu korrigieren.

Wer mit Aufmerksamkeit die Paulusbriefe liest, weiß, dass Paulus von Jesus vollkommen durchdrungen war.
Gleichgültig, welche Irrwege die Christen im Laufe der Jahrhunderte in ihrer weltlichen Geschichte durchgemacht haben, der christliche Glaube ist durch Paulus bis heute erhalten geblieben. Hätte Paulus nicht existiert, wäre das Schicksal der Heidenchristen wohl nicht anders verlaufen als das der Judenchristen.

Dass der Alte Ritus sich bis in unwesentliche Einzelheiten zurück ins zweite Jahrhundert n. Chr. zurückverfolgen läßt, und sich über kleinere Korrekturen und endgültige Festlegungen durch das tridentinische Konzil bis heute erhalten hat, ist meines Erachtens nicht zuletzt auf die nachhaltige Tätigkeit des Paulus zurückzuführen. Ohne Paulus gäbe es das Christentum in der heutigen Form nicht. Dass auch später Spaltungen stattgefunden haben, ist wiederum eine andere Geschichte.

Es ist wichtig zu wissen, dass die gnostischen Träumer von heute keine gesicherten Quellen für ihre Hypothesen besitzen. Die gnostischen Schriften wurden zur Zeit des Konzils zu Nicea größtenteils vernichtet. Übrig geblieben sind die sogenannten Naq Hammadi-Funde (bekannt sind das Judas- und das Thomasevangelium hieraus) und ansonsten hauptsächlich die Verteidigungsschriften einiger Kirchenväter (Ireneus beispielsweise), die zur Argumentierung einige Texte gnostischer Schriften in ihre Verteidigungschriften aufgénommen haben.
Ansonsten ist der Phantasie der heutigen Gnostiker anscheinend keine Grenze gesetzt.
Es sind Spinner, deren Ergüsse man am besten direkt dem Müllhaufen übergeben kann.

Gruß, ad_hoc
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overkott
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Beitrag von overkott »

Ich selbst finde es sehr bemerkenswert, wie sich Freud und Nietsche in Paulus gespiegelt haben. Das lässt sicher tief blicken.

Natürlich lässt sich trefflich spekulieren über die Vorsehung oder einen anderen Verlauf der Geschichte.

Paulus hat in Christus alles gefunden und musste es allen erzählen.

Nietsche hat nichts gefunden.

Ist aber auch nicht schlimm.

ad_hoc
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Beitrag von ad_hoc »

Nietsche hat nichts gefunden.
Friedrich Nietzsche ist von den wenigsten richtig verstanden worden.
In seiner Kindheit und Jugend muß er wohl das gewesen sein, was man als tief-fromm bezeichnen würde. Durch einen besonderen Umstand fiel er in einen derart starken Glaubenszweifel, dass er die Existenz Gottes bezweifelte.
Seine Angriffe gegen Gott waren nichts anderes als der Vorwurf an diesen, den eigenen Glauben an ihn verloren zu haben. Seine Schriften kann man im übrigen als Hilferufe bezeichnen, ihm die Existenz Gottes im Glauben wieder zugänglich zu machen.
Gegen Ende seines Lebens fiel er in geistige Umnachtung. Allerdings kam er vor seinem Tode wieder zur Besinnung und er soll sich auch mit der Kirche wieder versöhnt und die Sterbesakramente erhalten haben.

(nach den Quellen müßte ich allerdings wieder suchen. Aber es gibt eine sehr gute neue Biographie über ihn, die man, wie ich hörte, gelesen haben sollte.
Wobei mir einfällt, dass ich vorhatte, das Buch zu erwerben. Ich muß mich mal darum kümmern)

Gruß, ad_hoc
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meggisusi
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Beitrag von meggisusi »

ad_hoc hat geschrieben:
Nietsche hat nichts gefunden.


(nach den Quellen müßte ich allerdings wieder suchen. Aber es gibt eine sehr gute neue Biographie über ihn, die man, wie ich hörte, gelesen haben sollte.
Wobei mir einfällt, dass ich vorhatte, das Buch zu erwerben. Ich muß mich mal darum kümmern)

Gruß, ad_hoc
Safranski?

Gruß, meggisusi

ad_hoc
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Beitrag von ad_hoc »

Safranski?

Ich bin mir nicht sicher. Wenn es sich um eine Frau handelt, könnte es wohl das Richtige sein. Aber wie erwähnt, muß ich selbst suchen. Ich stelle den Titel dann ein.

Gruß, ad_hoc
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Raphael

Beitrag von Raphael »

ad_hoc hat geschrieben:Safranski?

Ich bin mir nicht sicher. Wenn es sich um eine Frau handelt, könnte es wohl das Richtige sein. Aber wie erwähnt, muß ich selbst suchen. Ich stelle den Titel dann ein.

Gruß, ad_hoc
Gemeint ist wohl: Rüdiger Safranski

Ein Link aus dem Link: Gott ist doch nicht tot

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Marcus
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Beitrag von Marcus »

Danke für Eure Beiträge. Gerade, wenn man z. B. die „7 Sendschreiben“ des hl. Ignatius von Antiochien zu liest, wird die paulinische Prägung deutlich. Dass Nietzsche gegen Endes seines Lebens wieder zum Glauben kam, wusste ich nicht. Aber deshalb bin ich ja bei Euch im Kreuzgang... :)

Raphael

Beitrag von Raphael »

Marcus hat geschrieben:Danke für Eure Beiträge. Gerade, wenn man z. B. die „7 Sendschreiben“ des hl. Ignatius von Antiochien zu liest, wird die paulinische Prägung deutlich. Dass Nietzsche gegen Endes seines Lebens wieder zum Glauben kam, wusste ich nicht. Aber deshalb bin ich ja bei Euch im Kreuzgang... :)
Der frühe Nietzsche war weniger radikal als der überreife Philosoph des Übermenschentums:

Gebet an den unbekannten Gott

Noch einmal, eh ich weiterziehe
und meine Blicke vorwärts sende,
heb ich vereinsamt meine Hände
zu dir empor, zu dem ich fliehe,
dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht,
daß allezeit
mich deine Stimme wieder riefe.

Darauf erglüht tief eingeschrieben
das Wort: Dem unbekannten Gotte.
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
auch bis zur Stunde bin geblieben:
Sein bin ich - und fühl die Schlingen,
die mich im Kampf darniederziehn
und, mag ich fliehn,
mich doch zu seinem Dienste zwingen.

Ich will dich kennen, Unbekannter,
du tief in meine Seele Greifender,
mein Leben wie ein Sturm Durchschweifender,
du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.

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