Und wieder mal ein kleines Stück aus der Reihe:
Was sie schon immer über den Glauben wissen wollten, oder auch nicht wissen wollten. Oder auch genannt:
Jürgen erklärt, was er selbst nicht versteht.
Heute geht es ausnahmsweise nicht um so einfache Sachen wie den Filioquestreit oder die kath. Erbsündenlehre. Heute geht es um ein wahrhaft schwer zu durchschauendes und niemals ganz zu durchschauendes Thema; es geht um die Eschatologie, denn genau damit hängt auch die ganze Frage des Ablasses zusammen.
Zuerst gilt es "kurz" nachzudenken über das Verhältnis oder besser gesagt die Differenz zwischen Person und Geschichte, da dies auch für die Frage nach dem Ablass hilfreich sein kann. Es geht zuerst einmal um die Frage (platt gesagt): Was passiert eigentlich, wenn ich tot bin?
Es gab einen längeren Streit über das Schicksal der Toten, vor allem über die sog. Allerlösungslehre (Origenes) und die Strafe für einen mehr oder weniger großen Teil der Menschen und auch über den Zeitpunkt der Erlösung.
Mit Blick auf das Neue Testament ist diese Frage kaum zu klären. Dort gibt es die Hoffnung oder die Möglichkeit einer Erlösung aller. Paulus spricht in seiner zweiten Pfingspredigt (Apg 3,21) über die "Wiederherstellung aller Dinge am Ende der Zeiten", die berühmte und vielleicht auch berüchtigte "Apokatastasis panton".
Auf der anderen Seite lehrt Jesus selbst den zweifachen Ausgang der Geschichte wenn er vom Weltgericht spricht (Mt 25) und von den Schafen zu seiner Rechten und den Böcken zu seiner Linken.
Die Bibel läßt hier also eine Spannung offen.
Wie fast immer scheint sich der Mensch aber mit solchen Spannungen nicht zufrieden geben zu wollen und er fordert gleichsam eine Entscheidung, die mit Ja oder Nein beantwortet werden soll.
Wer den ein oder anderen Text aus dieser "Reihe" schon gelesen hat, weiß natürlich worauf es hinausläuft: auf eine Antwort die Ja und Nein zugleich sein muß. --- Wer also jetzt nicht weiterlesen will, weil sich ihm die Entscheidungsfrage nicht stellt, dem ist zu gratulieren, denn denn sein Glaubensleben liegt schon jenseits des theoretischen Theologeleien....
Alle anderen können sich durch das folgende quälen.
Beginnen wir mit Origenes und der Allversöhnungslehre.
Bezugnehmend auf die paulinischen Aussage lehrt er eine solche Barmherzigkeit Gottes (weswegen die Anhänger auch Miserikordisten genannt werden), die eine Erlösung aller zur Folge hat. Bei ihm wird die Hölle gleichsam als Fegefeuer für alle gedacht, aus der jeder - selbst der Teufel - nach einer gewissen Zeit der Stafe wieder herauskommt und etwa der Teufel wieder zu dem Engel wird, der er einmal war.
Selbst große Theologen - vor allem der Ostkirche - (Gregor v. Nyssa; Gregor v. Nazianz) waren mehr oder weniger große Anhänger dieser Lehre und die Verurteilung des Origenes ist auch nie zur höchsten Form gekommen.
Die Ablehnung betraf vor allem extreme Positionen, von denen allerdings nicht klar ist, ob Origenes sie selbst so gelehrt hat. Die Synode von Konstantinopel 543 verwirft zwar die Ansicht, daß die Strafen der Sünder und Dämonen zeitlich begrenzt seien und irgendwan aufgehoben würden. Aber es ist etwas anderen positiv zu sagen, daß die Strafe der Teufel und die Dämonen aufgehoben wird, als das Ende offen zu lassen. Verurteilt wurde die Festlegung, daß es so ist, es wurde aber hier das Ende offen gelassen: Die Synode hat nicht die Hoffnung auf die Allerlösung verworfen, sondern die Forderung auf das Recht und den Anspruch der Allerlösung. (Auch das 4. Laterankonzil (1215), das von der fortwährenden Strafe der Verdammten spricht, schließt nicht definitiv die Allversöhnung aus, aber wohl jeden Anspruch darauf.)
Machen wir nun einen Zeitsprung in das Jahr 1254 zu Papst Innozenz IV.
Er versuchte eine Verständigung zwischen seit 1054 getrennten Westkirche und Ostkirche zu finden. Im Jahre 1254 schreibt er einen Brief an seinen Legaten bei den Griechen. Dort findet sich unser Thema zum Verhältnis von Person und Geschichte unter der Frage zur Auferstehung der Toten und der himmlischen Seligkeit abgehandelt.
Auch im Osten kennt man einen Zwischenzustand zwischen Tod und Auferstehung. Im Westen hat dieser Zwischenzustand die Wandlung zu einem "Ort", dem Pugatorium (Fegefeuer) durchgemacht, während der Osten den Begriff weiter fasst. Papst Innozenz meint in seinem Brief, daß auch die Griechen
wirklich und zweifelsfrei glauben und festhalten, daß die Seelen jener, welche die Buße begonnen, aber noch nicht vollendet haben, oder die ohne Todsünde, jedoch mit Vergehen und leichteren Sünden abgeschieden sind, nach dem Tod gereinigt werden (pugari post mortem), und daß ihnen mit den Fürbitten der Kirche geholfen wird. Weil sie sagen, daß der Ort dieser Reinigung (locum pugationis) von ihren Lehrern nicht mit einem sicherem und eigentlichen Namen benannt worden sei, möchten Wir, daß sie ihn gemäß der Überlieferungen un der Autorität der heiligen Väter Reinigungsort oder Pugatorium nennen, wie er im üblichen auch bei ihnen mit diesem Namen angerufen wird.
Der Brief beschreibt hier eine Differenz, die er aber gleichzeitig zu überwinden sucht: Die Differenz besteht darin, daß die Reinigung nicht als Geschehen, sondern als Ort beschrieben wird, dem damit - auch vor seiner Funktion - schon eine Existenz zugesprochen wird. Es kommt damit nicht mehr auf das an, was an diesem Ort geschieht, sondern es kommt auf die Existenz dieses Ortes an. Erst an zweiter Stelle kommt dem Ort auch eine Funktion zu.
Damit wird das Pugatorium entfunktionalisiert. Dem Menschen wird eine unbedingte Existenz zugesprochen die abgelöst ist von Gesellschaft, Kirche und Gott; von Leben und Tod; um ihn dann später wieder damit in Beziehung zu setzen.
Kommen wir auf unserem Weg nun zu dem sogenannten Visiostreit.
Allerheiligen 1331 predigte Papst Johannes XXII in Avignon und löste mit seiner Predigt einen längeren Streit aus.
Was hatte er gesagt?
Hier ging es nicht um den Reinigungort, sondern um das Schicksal der Heiligen, also jener, die eine Reinigung mehr bedürfen. Papst Johannes XXII hatte gesagt, daß auch diese nicht sofort zu Gottesschau kommen, sondern erst bei der allgemeinen Auferstehung der Toten. Es geht hier also gleichsam um die Lehre vom "wartenden Himmel".
Der Papst war aber "einsichtig": Er sagte, daß er nichts anderen lehren könnte, dennoch setzte er eine Kommission ein, die sich mit der Lehre beschäftigen sollte. Er wolle das Urteil der Kommission abwarten und sich dem Urteil beugen. Ende 1334 war die Arbeit der Kommission beendet. Papst Johannes XXII war inzwischen sehr krank. Am 3. Dezember 1334 ruft er die Kardinäle an sein Krankenbett und widerruft seine in der Predigt gemachten Aussagen.
Sein Nachfolger Benedikt XII veröffentlichte und gab im Jahre 1336 die berühme - wenn nicht sogar für die Eschatologie wichtigste - Konstitution
Benedictus Deus heraus.
Die Konstitution hat zwei Teile. Im ersten Teil geht es um die beseligende Schau Gottes, im zweiten Teil um die Hölle. Dort heißt es über die Heiligen:
Nach der Auffahrt unseres Heilands und Herrn Jesus Christus in den Himmel waren, sind und werden diese im Himmel, im Reich der Himmel und im Paradies sein, sogleich (mox) nach ihrem Tod und nach der besagten Reinigung bei denen, die einer solchen Reinigung bedurften, auch schon vor der Wiederannahme ihrer Leiber und vor dem allgemeinen Gericht.
Mit der Himmelfahrt Christi steht der Himmel also wieder offen. Die Verbindung mit dem Ziel der Geschichte ist wieder unmittelbar, ohne daß diese Unmittelbarkeit des letzten Ziels durch ein Ereignis der Geschichte nochmal unterbrochen werden könnte.
Hier zeigt sich nun der tiefere Sinn des Zwischenzustande. Dieser Zwischenzustand kann aber nicht auf das Pugatorium eingeschränkt werden. Er steckt auch unerkannt im Verlangen nach der individuellen Emanzipation des Einzelnen. Das Fegefeuer und der säkulare Fortschritt sind zwei Orte der Individuation: einmal im Diesseits, einmal im Jenseits. Einmal ist es die Individuation des Menschen vor Gott, dann vor der Geschichte. Das Fegefeuer ist der Geburtsschmerz der Person aus der Geschichte in Gott hinein. Der säkulare Fortschrittsprozess ist der Schatten des Fegefeuers, nämlich das Verlangen nach Individuation
in der Geschichte.
Der Tod ist die Vollendete Wahrheit der Person.
Der Zwischenzustand ist nicht dafür da, daß die Toten ihr Leben weiterführen; daß also gleichsam nur die Pferde gewechselt werden. Der Tod ist der entgültige Abbruch allen aktiven Tuns hinein die die reine Passivität, wie schon Papst Innozenz von der reinen Passivität und dem Handeln durch die Fürbitte der Kirche gesprochen hat. In der Aktivität des irdischen Tuns hat der Mensch sich selbst als Ziel gewählt. Der Tod ist der Abbruch diese Strebens. Der Tote ist ganz wahr geworden in seiner Existenz; er kann für sich selbst nichts mehr tun und hat sich selbst nicht mehr zum Ziel.
Eine aktive nachgeholte Rechtfertigung im Pugatorium kann es nicht geben. Sie wurde zurecht in Trient abgelehnt. Auch die Sühne ist kein aktives Tun, also keine Selbstreinigung, sondern ein passives An-sich-geschehenlassen durch die Zuwendung Gottes zum Menschen.
Auch von den Lebenden kann dem Verstorbenen etwas zukommen, da das Leben, wenn es wesenhaft von Gott kommt, über sich hinausdrängt.
Damit wird aus dem Ungerechten kein Gerechter - denn das ist eine Tat Gottes am Menschen. Aber der endliche Mensch vermag den unendlichen Gott anzurufen und kann so auch für die Toten bitten.
Eine Theologie die die Fürbitte für die Toten ablehnt, fällt nicht nur aus der Tradition der Kirche heraus, sie enthält auch eine bedenkliche Anthropologie! Dort wird das Individuum atomisiert als ein nur für sich stehendes Einzelwesen, womit ihm aber gleichsam das Personsein abgesprochen wird.
Die Fürbitte für die Toten zeigt gleichzeitig, daß der Mensch - obwohl Individuum - nicht allein ist, sondern eingebunden ist in die Gemeinschaft der Menschen; und daß diese Gemeinschaft nicht völlig mit dem Tod abbricht.
Im Sinne dieser Fürbitte ist auch der Ablass für die Toten zu verstehen. Die Kirche greift hier auf ihren sog. Gnadenschatz zurück und verspricht - als makellose Braut Christi - unter bestimmten Bedingungen gleichsam die Gewissheit, daß diese Taten für die Verstorbenen eine Hilfe sind bzw. durch diese Taten die Verstorbenen zur Schau Gottes gelangen.
Wie diese Fürbitte für die Verstorbenen möglich ist, so ist sie auch für den Beter selbst möglich. Der Ablass ist Ausdruck der Zuwendung Gottes zum Menschen.
So, ich denke diese rund 10.000 Zeichen sollten erstmal zu dem Thema reichen.
Zu dem Verhältnis von "allgemeinem Gericht" zu "individuellem Gericht" und der Frage zu Geschichtlichkeit und Unendlichkeit werde ich mich vielleicht später mal in dieser kleinen "Reihe" äußern