Deuteropaulinisch?

Schriftexegese. Theologische & philosophische Disputationen. Die etwas spezielleren Fragen.
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overkott
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Beitrag von overkott »

Lutheraner hat geschrieben:
Pelikan hat geschrieben:
Aletheia hat geschrieben:Die Frage ist doch garnicht dermaßen relevant, ob nun das Originale von Paulus sind oder von Paulus Schülern oder von anderen, die im Stile Paulus Briefe an die Gemeinden verfasst haben.
Ich denke, es ist für das Offenbarungsverständnis und damit für den Glauben höchst relevant, ob und wie man eine unwahre Tatsachenbehauptung, etwa bezüglich der Autorenschaft, mit der dogmatisch definierten Irrtumsfreiheit der Schrift für vereinbar hält.
Papst Ratzinger glaubt auch nicht, dass das Johannes-Evangelium von Johannes stammt, sondern von einem direkten Schüler des Apostels (nachzulesen in "Jesus von Nazareth").
Die Frage ist absolut nebensächlich, Lutheraner.

Aletheia
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Beitrag von Aletheia »

overkott hat geschrieben:
Pelikan hat geschrieben:
Aletheia hat geschrieben:Die Frage ist doch garnicht dermaßen relevant, ob nun das Originale von Paulus sind oder von Paulus Schülern oder von anderen, die im Stile Paulus Briefe an die Gemeinden verfasst haben.
Ich denke, es ist für das Offenbarungsverständnis und damit für den Glauben höchst relevant, ob und wie man eine unwahre Tatsachenbehauptung, etwa bezüglich der Autorenschaft, mit der dogmatisch definierten Irrtumsfreiheit der Schrift für vereinbar hält.
Natürlich, Aletheia.
Oder Pelikan?

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Robert Ketelhohn
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Beitrag von Robert Ketelhohn »

Ralf hat geschrieben:Och, da steht das doch recht ausgewogen. Schließlich steht da:
Die Unterscheidung zwischen ursprünglichen und nachgeahmten Paulusbriefen ist eine wissenschaftliche Theorie, nicht mehr und nicht weniger.
O Verzeihung. Ich gebe zu, so weit hatte ich gar nicht mehr gelesen. Das ist aber im Kontext doch eher eine salvatorische Klausel. Die „Theorie“ wird letztlich dargestellt, als wäre sie Stand der kirchlichen Lehre.
Aletheia hat geschrieben:Für die Annahmen, dass z.B. der Epheserbrief nicht von Paulus ist, gibt es einige fundierte Hinweise, die solange bestehen bleiben, bis man diese Annahmen durch neue Funde widerlegen kann.
Welche?
Aletheia hat geschrieben:Die Frage ist doch gar nicht dermaßen relevant, ob nun das Originale von Paulus sind oder von Paulus-Schülern oder von anderen, die im Stile Paulus Briefe an die Gemeinden verfaßt haben.
Weil du dies oben als Pseudepigraphie bezeichnet hast, laß mich zunächst den Begriff klären; ich zitiere dazu zwei andernorts veröffentlichte Wortmeldungen:
Robert Ketelhohn hat geschrieben:Pseudepigraphie ist ein recht komplexes und vielgestaltiges Phänomen. Gemeinsamer Nenner ist, daß ein Text durch unzutreffende Verfasserangabe einem andern als dem tatsächlichen Autor zugewiesen wird. Wann, durch wen und auf welche Weise das geschieht, ist dafür zunächst ohne Belang. Meist geschieht das übrigens beim Kopieren und ohne Absicht, sondern aus Versehen oder infolge gutwilliger, aber falscher Mutmaßung. Darum auch in der Zeit, zu welcher der Kopist tätig war, das heißt zu allermeist: in nachantiker Zeit. Natürlich gibt es auch bewußte und gezielte Pseudepigraphie, sei es durch den Verfasser selbst, sei es durch spätere. In diesen Fällen handelt es sich um Fälschungen (die übrigens immer auch als solche angesehen und sittlich entsprechend bewertet wurden). Der Fall ist jedoch vergleichsweise selten und überdies im einzelnen oft schwer nachzuweisen.
Robert Ketelhohn hat geschrieben:Erstens ist Pseudepigraphie – also die falsche Zuweisung eines Textes zu einem Autor durch redaktionelle Überschrift o. ä. – zum weitaus größten Teil eine Sache der Textüberlieferung, nicht der Verfasserschaft.

Zweitens begegnet das Phänomen dort, wo die Textüberlieferung stattfindet, zeitlich also schwerpunktmäßig im sogenannten „Mittelalter“. Die direkt aus der „Antike“ auf uns gekommene Überlieferung ist insgesamt eher geringen Umfangs. Vereinzelt läßt sich bereits bei spätantiken Handschriften Pseudepigraphie feststellen, bei manchen späteren Manuskripten kann man vermuten, daß die falsche Autorenangabe bereits „spätantik“ ist. Die Masse der Pseudepigraphen kommt aber beim Redigieren, Zusammenstellen und Abschreiben der Manuskripte zustande.

Drittens. Das Phänomen zieht sich durch alle Textgattungen. Es betrifft auch profane und heidnische Texte, und zwar anteilsmäßig
nicht geringer. Nur der absoluten Zahl nach dürften sich da weniger Fälle finden lassen: ganz einfach, weil der Gesamtumfang dieser Litteratur viel geringer ist, nach überlieferten Handschriften gerechnet.

Viertens. Die Pseudepigraphie kommt in aller Regel durch Versehen zustande. Gelegentlich lassen sich Fälle absichtlich falscher Zuweisung (oder mindestens das Risiko der Falschzuweisung bewußt eingehende) durch einen Redaktor vermuten, kaum wirklich sicher beweisen. Am seltensten sind Fälle, in denen die falsche Zuweisung bereits dem Autor selber wenn nicht nachgewiesen, so doch mit großer Wahrscheinlichkeit zugeordnet werden kann.

Fünftens. Einige solcher Fälle finden wir immerhin bereits im heidnisch-philosophischen Spektrum der „Spätantike“. Ich nenne als eines der bekanntesten Beispiele – wiewohl nicht unumstritten – das platonische Briefcorpus.

Sechstens. Beim Epheserbrief ginge es – wäre er unecht – primär nicht um Pseudepigraphie – das käme höchstens unter ferner liefen noch hinzu –, sondern um bewußte und freche Fälschung eines ganzen Briefs, samt Absender- und Adressatenangaben, Grußformeln und mannigfachen Bezügen im laufenden Text selbst.
Aletheia hat geschrieben:Wesentlich ist doch gleichfalls, daß diese Briefe zum Kanon gehören und seit ihrer Zusammenstellung für die Kirche bedeutend sind.
Das ist in der Tat wesentlich, nämlich hinsichtlich der Konsequenzen. Wenn der Brief nicht von Paulus stammte, dann wäre er dreist gefälscht, dann wäre er als Lügengespinst mehr als nur wertlos. Die Kirche hätte jahrtausendelang die Lüge verbreitet. Dann wäre alles unter dem Verdacht der Lüge.

Daran kann sich nur der nicht stoßen, dem es bei unserm Glauben und unserer Errettung nicht um knallharte Fakten geht, sondern um esoterisches Gedöns, das seinem Ego schmeichelt. Kurz, daran kann sich nur der Gnostiker nicht stoßen.
Aletheia hat geschrieben:Mir fällt keiner ein, der zu diesem Forschungsstand eine andere Ansicht hat. Ich glaube, das ist wohl im Augenblick abgehakt. Aber in der Wissenschaft kommt es immer wieder zu Überraschungen. Das ist ja das Interessante daran. Bin gespannt auf deine Kommentare dazu.
Ich hätte ja gern erst einmal ein Argument vernommen, um mich damit auseinandersetzen zu können. Das obige Zitat von reformiert-online.de ist mir doch etwas zu dünne. Nun gut, ich nehme mal als Beispiel den Kommentar zur „Einheitsübersetzung“ her:
Die Einheitsübersetzung hat geschrieben:Beim Epheserbrief handelt es sich wohl um einen Rundbrief, da die Erwähnung von "Ephesus" (1,1) in zahlreichen Handschriften fehlt. Die Empfänger sind sehr wahrscheinlich die Christen Kleinasiens oder eines noch größeren Gebiets. Als Abfassungsort kommt Ephesus in Frage.
Das Schreiben ist zwar wie ein Brief gestaltet, stellt aber nach Stil und Inhalt eher eine feierliche Predigt dar. … Manche Forscher nehmen daher an, daß dieses Schreiben von einem Paulusschüler verfaßt wurde, der im Namen des Apostels schrieb.
Ein bestimmter Anlaß für die Entstehung des Schreibens ist nicht erkennbar. Das zentrale Thema des Briefs ist die Kirche, und zwar die weltweite Kirche. … Der Epheserbrief enthält die bedeutendsten theologischen Aussagen im Neuen Testament über die Kirche.
Die Erwähnung von Ephesus (die Worte ἐν ᾽Εϕέσῳ) fehlt nicht »in zahlreichen Handschriften«, sondern in einer kleinen Minderheit der Handschriften, darunter allerdings im Codex Sinaiticus und im Codex Vaticanus, die seit Tischendorf, jedoch ohne stichhaltigen Grund gemeinsam mit dem Alexandrinus meist als die für den vermeintlichen Urtext bedeutendsten angesehen werden. Beide, Sinaiticus und Vaticanus, überschreiben den Brief dennoch als πρὸς Ἐϕεσίους (an die Epheser) und reihen ihn an der üblichen Stelle unter den Briefen Pauli ein.

Auch Origines und Basilius dem Großen lag der Text des Epheserbriefs übrigens ohne das ἐν ᾽Εϕέσῳ vor. Der Wortlaut ist so an der fraglichen Stelle aber ohne Zweifel korrupt, wenn nicht ἐν ᾽Εϕέσῳ, dann müßte da etwas anderes stehen. Origenes hat den Text allerdings so korrumpiert, wie er ihm vorlag, hingenommen und mit tiefschürfenden Gedanken einen Tiefensinn hineinzulesen versucht.

Die einfachere und überaus naheliegende Erklärung ist dagegen natürlich, daß hier bei irgendeiner Rezension zwei Wörter ausgefallen sind und dies sich in einem Teil wohl des alexandrinischen Überlieferungsstrang zunächst fortgepflanzt hat, bis infolge stärkeren Einflusses der Constantinopolitaner Rezension allmählich die Abschreiber auch die Exemplare abweichender Rezension korrigierten.

Die Erklärung, daß hier die Fassung mit den Wörtern ἐν ᾽Εϕέσῳ den ursprünglichen Text darstellt, ist also ganz eindeutig. Denn wo diese beiden Wörter fehlen, fehlt dem Text jedenfalls irgendetwas, um syntaktisch korrekt und inhaltlich sinnvoll zu sein. Es gibt aber keinen Zeugen, der dort eine andere Alternative bietet als eben ἐν ᾽Εϕέσῳ.

Die Vermutung des Kommentars zur Einheitsübersetzung, Ephesus könne der Abfassungsort sein, ist völlig willkürlich und durch nichts zu belegen. Ebenso grundlos ist die Behauptung, der Brief – daß er formal ein solcher ist, wird wenigstens nicht bestritten – stelle »nach Stil und Inhalt eher eine feierliche Predigt dar«. Natürlich kann man, was Paulus dort darlegt, auch persönlich vortragen. Für die theologischen Darlegungen etwa des Römerbriefs gälte das eher nicht. Aber wenn ich nicht vor Ort bin, kann ich das, was ich sonst vielleicht mündlich vortrüge, auch aufschreiben und als Mahnschreiben verschicken.

Spezifischen Predigtstil vermag ich überhaupt nicht zu entdecken. Es müßte sich denn um eine hoch stilisierte Predigt handeln. Aber auch dieser fehlten die Kennzeichen, die solche stilisierten (nicht wirklich gehaltenen oder nachträglich bearbeiteten) Predigten üblicherweise tragen, namentlich jeder Bezug auf anwesende Zuhörer. Aber wie auch: ist der Text doch offensichtlich nach allen formalen Regeln als Brief geschrieben und will nichts anderes sein. Schließlich weicht auch die Sprache des Epheserbriefs, also die Verwendung des Griechischen – anders als beim Hebräerbrief – nicht wesentlich von dem ab, was wir sonst von Paulus kennen.

Damit erweist sich das ganze als uralter Hut, ohne jegliche neue Substanz, aufgehängt lediglich an dem Fehlen zweier Wörtlein in einigen Handschriften. Darüber war schon Origines vor einem und einem dreiviertel Jahrtausend einmal gestolpert. Auch Hieronymus hat das durchgekaut. Und an dieser uralten Ladenhüter knüpfen unsere neunmalklugen, ach so modernen Exegeten nun weitestreichende Schlußfolgerungen! Lebten wir nicht in Zeiten, wo man den Menschen den dümmsten Mist mühelos unterjubeln kann, wäre es keinen müden Lacher wert.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

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Robert Ketelhohn
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Beitrag von Robert Ketelhohn »

Ferner wird in solchen Debatten von den Vertretern der Unechtheit von Teilen des paulinischen Briefcorpus der Einfachheit halber immer wieder gern auf die Internettheologie des schwäbischen Pfarrers Jörg Sieger verwiesen. Schauen wir also auch noch, was wir dort zum Epheser-Thema finden:
Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Hinter der Bezeichnung "Epheserbrief" steckt schon die erste Schwierigkeit. Das ἐν ᾽Εϕέσῳ aus Eph 1,1 ist nämlich textkritisch unsicher und fehlt in einer ganzen Reihe von Handschriften.
Dazu habe ich oben bereits Stellung genommen.

Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Aufmerken läßt auch die Bemerkung in Eph 1,15. Dort bringt Paulus zum Ausdruck, daß er vom Glauben der Adressaten lediglich gehört habe.
Nun, das „lediglich“ steht jedenfalls nicht im Text. Schon beim ersten Blick in jede beliebige Übersetzung kann man und wird jedermann bei Anwendung des gesunden Menschenverstands das so verstehen, daß Paulus in seiner römischen Gefangenschaft – aus welcher er ja nach eigener Angabe schreibt – Berichte aus der Kirche von Ephesus erhalten hatte, auf welche er sich hier bezieht, unbeschadet seiner früheren Kenntnis der Ephesiner. Daran ist überhaupt nichts Merkwürdiges.

Aber schauen wir noch einmal in den Text. Da heißt es: »… ἀκούσας τὴν καϑ' ὑμᾶς πίστιν … οὐ παύομαι εὐχαριστῶν ὑπὲρ ὑμῶν μνείαν ποιούμενος ἐπὶ τῶν προσευχῶν μου«

Ich versuche das zunächst einmal ganz wörtlich:

»… vernehmend [oder: vernommen habend; beides ist möglich, da der Aorist nur die Aktionsart ausdrückt, nicht das Zeitverhältnis] den bei euch Glauben …, [ich] nicht aufhöre danksagend [oder: die Eucharistie feiernd] über euch Gedächtnis tuend in meinen Gebeten.«

Etwas deutscher:

»Weil ich ‹jetzt eben› den Glauben bei euch vernehme, höre ich nicht auf, wenn ich Dank sage [die Eucharistie feiere], eurer in meinen Gebeten zu gedenken.«

Oder:

»Weil ich ‹einmal› den Glauben bei euch angehört habe, höre ich nicht auf, wenn ich Dank sage [die Eucharistie feiere], eurer in meinen Gebeten zu gedenken.«

Der Text gibt beide Möglichkeiten her. Da es keinen expliziten Hinweis auf einen aktuellen Bericht gibt, die frühere Anwesenheit Pauli in Ephesus jedenfalls aber zum Verständnishintergrund jedes Lesers gehört, liegt die zweite Deutung näher.

Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Und in Eph 3,2 erweckt er den Eindruck, als haben die Adressaten vielleicht von seinem Amt gehört. Solche Aussagen sind in Bezug auf Ephesus, wo Paulus so lange gewirkt hat, eigentlich undenkbar.
Von „vielleicht“ steht an der angegebenen Stelle nichts. Die fraglichen Wörter – εἴ γε – bedeuten nicht „wenn vielleicht“, sondern „wenn nämlich, wenn eben, wenn nun“ o. ä. Ferner heißt es nicht, die Epheser hätten mal was über Pauli „Verwaltung“ (οἰκονομία, dispensatio) gehört, sondern diese direkt vernommen (εἴ γε ἠκούσατε τὴν οἰκονομίαν τῆς χάριτος τοῦ ϑεοῦ τῆς δοϑείσης μοι εἰς ὑμᾶς). Das kann sich sogar auf ein Vernehmen und dem Munde des Apostels selbst beziehen. Nicht notwendig zwar, doch liegt solch ein Verständnis nahe.

Eph 3,2 gibt also für Siegers Argumentation gar nichts her. Besser hätte er, wenn schon, Eph 3,3-4 angeführt, wo Paulus sich nur auf das von ihm zuvor Geschriebene bezieht, nicht aber auf seine Aufenthalte in Ephesus Jahre zuvor. Ja, hierüber mag man sich tatsächlich ein wenig wundern. Um daraus aber zu schließen, Paulus sei nicht der Autor, sondern ein unbekannter Fälscher, dazu ist’s doch gar zu dünne.

Denn erstens ist in Ephesus viel passiert, seit Paulus zuletzt dort war, und viele kannten ihn eben nicht mehr persönlich. Andererseits sollte man einen Fälscher, der sich so angelegentlich als Paulus ausgibt, für klug genug halten zu wissen, was allgemein bekannt war: daß Paulus nämlich selbst in Ephesus gewesen war. Nichts wäre für den Fälscher leichter gewesen, als sich darauf zu berufen.

Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Diesen Merkwürdigkeiten korrespondiert, daß Markion, der um die Mitte des 2. Jahrhunderts n. Chr. den ersten Kanon der heiligen Schriften zusammenzustellen versucht hat, diesen Brief offensichtlich als Brief nach Laodicea kennt. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass in Kol 4,16 ein Brief nach Laodicea erwähnt wird. Meint der Kolosserbrief hier etwa unseren Epheserbrief, der dann eigentlich ein Laodiceabrief wäre? Dann hätte Markion noch die ursprünglichen Adressanten gekannt und der Brief wäre tatsächlich zunächst nach Laodicea gerichtet gewesen.

Es kann natürlich auch möglich sein, daß der Brief ursprünglich gar keine Gemeinde ausdrücklich nannte. Vielleicht hatte Markion den Brief ohne Adresse vorliegen. Er hätte dann angesichts der Verwandtschaft des Epheserbriefes mit dem Kolosserbrief und aus Kol 4,16 auf Laodicea als Bestimmungsort geschlossen.
Das ist nun kein kirchliches Zeugnis. Sich auf die Schriften einer außerhalb stehenden, gnostischen Parallel- und Gegenkirche zu berufen ist recht kühn.

Marcion hat nicht »den ersten Kanon der heiligen Schriften zusammenzustellen versucht«, sondern nach seiner Exkommunikation eine Parallelhierarchie gegründet und für diese autoritativ einen „Gegenkanon“ geschaffen, wobei er das gesamte Alte Testament und den Großteil des Neuen Testaments verwarf. Er ließ nur das Lucasevangelium und zehn Briefe Pauli gelten. Auch diesen Rest bearbeitete und „säuberte“ er aber ausgiebig.

Zutreffend dürfte dennoch Siegers Vermutung sein, Marcion habe den Brief in jener Variante ohne Adreßangabe vorzuliegen gehabt und im Zuge seiner Bearbeitungen aus dem Colosserbrief Laodicæa als Bestimmungsort ergänzt. Eigenen Quellenwert hat dies hinsichtlich des Originalbriefs nicht, da Marcion bekanntermaßen die Texte bearbeitet hat, während andererseits ein orthodoxer Zeuge wie Irenæus nur wenige Jahre später den Brief selbstverständlich als Brief Pauli an die Epheser kennt (vgl. z. B. adv. hær. V,8,1).

Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Wenn wir uns den Brief nun genauer ansehen, dann stellen wir fest, dass er eigentlich auch gar kein richtiger Brief ist. Ein brieflicher Rahmen liegt eigentlich nur in Eph 1,1ff und am Ende in Eph 6,21-24 vor. Offensichtlich wurde hier der Versuch unternommen eine theologische Abhandlung in Form eines Briefes vorzulegen.
Ach ja? Und was ist der Römerbrief, wenn du die Einleitung und die abschließenden Mahnungen und Grüße wegläßt?

Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Auffallend sind auch die starken Übereinstimmungen zwischen dem Epheserbrief und dem Kolosserbrief. Nicht nur dass Tychikus auch im Epheserbrief als Briefüberbringer genannt wird. Über weite Abschnitte hinweg finden sich im Epheserbrief ganz ähnliche Formulierungen und sogar mehr oder minder gleichlautende Abschnitte.
Ja, selbstverständlich. Das ist nun gar nichts Neues. Theologisch richten sich beide Briefe gegen den Einfluß einer gnostisierenden Richtung des Judentums.

Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Diese Fülle von auffälligen Übereinstimmungen führt zu dem Schluß, daß der Autor des Epheserbriefes den Kolosserbrief offenbar als literarische Vorlage benutzt hat. Er verfaßt sein Schreiben wohl anhand des ihm vorliegenden Kolosserbriefes.
Ach je. Könnte wohl auch sein, daß derselbe Autor beide Briefe auf einmal verfaßt hat, oder?

Historisch gehört zu diesen beiden übrigens auch noch der Brief an Philemon, mit welchem Paulus den Onesimus aus Rom zu Philemon zurücksandte. Eine detailliertere Untersuchung würde noch viele interessante Details zutage fördern, historische Details, was ich hier bloß andeuten will.

So ist der eigentliche Überbringer der Briefe an Philemon und an die Kirchen zu Colossæ und zu Ephesus ein gewisser Tychicus, der aus Asia (vgl. Act 20,4), vielleicht Ephesus, stammt (vgl. II Tim 4,12; Eph 6,21; Col 4,7.9; Tit 3,12). Sodann begegnen wir Epaphras, dem Philipper. Interessant auch Archippus: Er war Diakon im Hause des Philemon. Bei Paulus finden wir eine ganze Mannschaft: Timotheus, Aristarchus, Jesus Justus, Demas sowie Marcus und Lucas, die Evangelisten. Ein Nymphas aus Laodicea wird erwähnt, womit zugleich noch einmal das berühmte Problem des Laodicenerbriefs angeschnitten ist.

Doch lassen wir’s bei diesen Andeutungen. Lest das einmal nach. Wie sich alles historisch fügt. Welche komplexen Verhältnisse hätte ein Fälscher da erfinden müssen!

Dr. Jörg Sieger hat geschrieben:Wenn wir nach dem Verfasser fragen, dann müssen wir ähnlich argumentieren wie beim Kolosserbrief. Der Brief gibt zwar vor, von Paulus zu stammen, doch dürfte dies kaum zutreffend sein. Wortschatz und Stil sind wichtige Indizien dafür, dass das Schreiben eigentlich nicht aus der Feder des Paulus stammen kann. Der Stil ist äußerst pathetisch und weicht noch stärker vom paulinischen Stil ab, als dies schon im Kolosserbrief der Fall gewesen ist. Auch das Paulusbild, das der Epheserbrief zeichnet, und die theologischen Argumente sind nicht mit dem vergleichbar, was uns aus den authentischen Paulusbriefen bekannt ist.
Dazu möchte ich bloß Heinrich Schlier zitieren:
Heinrich Schlier hat geschrieben:Schließlich entscheidet sich die Frage der Echtheit daran, wieviel Variationsfähigkeit man dem Apostel Paulus in sprachlicher und theologischer Hinsicht zutraut.
Anders gesagt, mit denselben Argumenten könnte man auch den in vielerlei Hinsicht ganz exzeptionellen Römerbrief aus dem Kanon kegeln. Manche tun das sogar, ja sie leugnen sogar die Historizität Pauli selber. Das scheint den meisten doch wohl gar zu verstiegen, aber die Methode, argumentativ dahin zu gelangen, ist keine andere als die, welche den Epheserbrief für unpaulinisch erklären will.
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Aletheia
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Beitrag von Aletheia »

Herzlichen Dank Robert, dass du hier auf dieses wichtige Thema so ausführlich eingehst. Ich denke hier wird auch eine zentrale Frage berührt, nämlich worin das Zeugnis unseres Glaubens besteht.
Damit verbunden ist dann auch die Frage, wie stellen wir fest, was wir als echtes Zeugnis anerkennen und was wir als Fälschung verwerfen. Und die zweite Frage ist dann natürlich die, wer denn das feststellt - das Lehramt oder das Gewissen des einzelnen Gläubigen.

Die echten Briefe des Apostel Paulus unterscheiden sich von den "unechten" insofern, also er als Person viel deutlicher sich zum Ausdruck bringt. In den Briefen, an denen Zweifel am Verfasser bestehen, kommt Paulus auch kaum persönlich, sondern spricht eher allgemein.

Wir hatten ja den Epheserbrief im Zusammenhang zu seiner Ehevorstellung in einem anderen thread angeführt. Diese Thematik ist in diesem Brief insofern wesentlich, als er sich in die Ekklesiologie der nachapostolischen Zeit einfügt und die Ehe als hierarchische Struktur als Beispiel und Bild der hierarchischen Struktur der frühen Kirche genommen wird und dies zurückgeführt wird auf das hierarchische Verhältnis zwischen Christus und dem Gläubigen.
Damit rekonstituiert sich die patriarchalische Struktur der vorherrschenden Gesellschaft, die jedoch nicht als Struktur von Christus hergeleitet werden kann. Gerade Christus hat diese Verhältnisse jedoch aufgelöst und auch davon befreit, in dem er jeden einzelnen zur Nachfolge aufruft.

Während sich bei Paulus noch seine Lebensumstände auf das Kommen des Herrn hin orientierten, sind die, dem Paulus zugeschriebenen Briefe bereits davon bestimmt, wie man sich nun als Christen dennoch in der Welt einrichtet, bis der Herr kommt.

Damit ich nicht mißverstanden werde, ich lehne Stukturen nicht ab. Sie sind notwendig, um das Leben zu organisieren. Sie sind aber nicht das Leben selbst, sondern sie betreffen das Spannungsverhältnis in der jeder lebt, der sich in die Nachfolge Christi berufen sieht. Ausgedrückt wird dieses Spannungsverhältnis zwischen dem persönlichen Gewissen und dem kirchlichen Gewissen, um das Lehramt mal so zu bezeichnen.

Die Wahrhaftigkeit meines persönlichen Gewissens macht sich jedoch daran fest, dass ich dieser Instanz größeres Mißtrauen entgegenbringe, als der Instanz, die mir durch das Lehramt einen Glauben auferlegt, den ich nicht durchschaue bzw. der sich mir nicht plausibel erschließt, sondern der mich in eine Erfahrung hinein nehmen will, die ich ohne den Glauben nicht hätte.

Nur, wir sind heute in einer Zeit, in der offen gelegt werden muß, wie Entscheidungen über Lehrinhalte zustande kommen und wie sie begründet werden.
In der globalen Diskussions-und Streitkultur wird alles auseinander genommen und es wird vor nichts Halt gemacht. Das muss dann der Einzelne in seinem Glaubensleben zusammen setzen und da sind die meisten überfordert. Und zwar die meisten Priester bzw. Gemeindeleiter. Diese Aufgabe muss aber geleistet werden.

Jörg Sieger und andere versuchen dies in ihren Gemeinden und wenn ich das Neokatechumenat so aus meinen Erfahrungen her erinnere, bemüht man sich dort auch um diese Aufgabe, wenn auch die Intentionen wohl verschieden sind.

Die Frage nach der historischen Existenz von Paulus erinnert doch an die Frage der historischen Existenz der ersten Mondlandung. Es gibt für alles eine Möglichkeit des Zweifels.

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overkott
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Beitrag von overkott »

Die frühen Kirchenväter hatten eine viel weisere Methode, über echt oder unecht zu entscheiden.

Vereinfacht dargestellt, lautete die Frage: Ist in dem Brief Christus drin? Ist in dem Brief caritas drin? Ist in dem Brief Freiheit drin?

Auch ordneten sie die Bücher der inneren Erzähllogik nach und nicht entsprechend irgendwelcher historischer Hypothesen. Schließlich gibt es keine historisch objektive Quelle. Ein Philologe wie der hl. Hieronymus wusste genau, die Textgattungen einzuschätzen, kannte besonders als Übersetzer die Sprachoffenheit und schätzte die christliche Weisheit und Tugend.

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Beitrag von Aletheia »

overkott - das ist richtig.

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Clemens
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Beitrag von Clemens »

overkott hat geschrieben:Die frühen Kirchenväter ... ordneten ... die Bücher der inneren Erzähllogik nach und nicht entsprechend irgendwelcher historischer Hypothesen. Schließlich gibt es keine historisch objektive Quelle.
Die Gemeindebriefe sind schlicht nach der Länge sortiert!
(Wie übrigens die Suren des Koran auch!)

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Beitrag von Aletheia »

Clemens hat geschrieben:
overkott hat geschrieben:Die frühen Kirchenväter ... ordneten ... die Bücher der inneren Erzähllogik nach und nicht entsprechend irgendwelcher historischer Hypothesen. Schließlich gibt es keine historisch objektive Quelle.
Die Gemeindebriefe sind schlicht nach der Länge sortiert!
(Wie übrigens die Suren des Koran auch!)
Clemens - das ist richtig. Wobei die Ordnung der Suren nix mit der Länge und Ordnung der Gemeindebriefe zu tun hat.

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Niels
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Beitrag von Niels »

Unser Professor für systematische Theologie hat immer gesagt:
Nehmen Sie die Ergebnisse der modenen Exegese erst, aber denken Sie auch an folgendes: Wenn man zwei Exegeten in einen Raum sperrt, bekommt man mindestens drei verschiedene Meinungen...
Iúdica me, Deus, et discérne causam meam de gente non sancta

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