Also, "actus purus" heißt zunächst mal "reiner Akt", nicht "reine Form". Wobei "Akt" hier im Gegensatz zu "Potential(ität)" steht. Es wäre vermutlich besser auf Deutsch "reine Tatsächlichkeit" oder "reine Wirklichkeit" oder derlei zu sagen (auf Englisch: "pure actuality"). Man kann in der Tat vom "actus purus" her argumentiern, daß Gott nur Form (und nicht Materie) ist, nämlich insofern als das Materie immer Potential(ität) hat und insofern nicht mit dem "actus purus" kompatibel ist. Aber das aus dem einen das andere folgt bedeutet nicht, daß die Begriffe austauschbar sind.
Mir scheint Dein Problem mit dem Verständnis von Aristoteles, und der Position seiner Philosophie auf der Idealismus - Realismus Achse, schlicht darauf zu beruhen, daß Du "Form" als etwas "Geistiges" an sich verstehst.
Also, nehmen wir mal ein Beispiel. Hier ist die deutsche Wikipedia zum Thema
Pferde. Sie ist ziemlich lang, aber zu einem großen Teil ist sie damit beschäftigt die
Form der Pferde zu bescheiben. Da geht es einerseits um die Anatomie, Physiologie usw., also "Form" in einem ziemlich direkten Sinne. Aber andererseits auch um z.B. Verhalten, Lebensraum usw. Das ist auch Teil der "Form" eines Pferdes, wenn auch in einem weniger offensichtlichen Sinne. Insgesamt ist es das Ziel dieser langen Beschreibung dem Leser zu ermöglichen, in die Welt zu deuten und zu sagen "das ist ein Pferd" und auf etwas anderes zu deuten und zu sagen "das ist kein Pferd". Letzteres mag trivial sein wenn man z.B. zwischen Pferd und Käse unterscheiden soll, aber es wird weniger trivial wenn man zwischen Pferd und Esel, oder zwischen Pferd und einer realistischen Wachsfigur eines Pferdes unterscheiden muß. Darum sind Formbeschreibungen oft ziemlich lang.
Ist diese Form nun irgendwie "geistig"? Nein, überhaupt nicht. Natürlich war eine geistige Leistung nötig um die Beschreibung auf Wikipedia zu produzieren, und es ist auch eine nötig um diese Beschreibung zu verstehen. Man kann in diesem Sinne die Beschreibung der Form "geistig" nennen. Aber es ist eben die Beschreibung die "geistig" ist, nicht die Form an sich. Wenn ich neben einem Pferd stehe, dann ist das einfach ein Pferd, hat einfach die Form eines Pferdes, daran ist erstmal nichts "geistig". Das Pferd muß nicht Wikipedia lesen um ein Pferd zu sein.
Die Form ist also schlicht, was etwas ist. Die Materie ist woraus es gemacht ist, was also für körperliche Dinge die Form trägt. Immer noch ist hier nicht von irgendeinem "Geist" die Rede. Es mag nun sein, daß es auch nicht-körperliche Dinge gibt. Die kann man "Geist" nennen, wenn man will. Nun, obwohl man auf einen solchen "Geist" nicht deuten kann, kann man ihn jedoch vermutlich unterscheiden von anderen "Geistern". (Christen denken z.B. darüber nach, ob "Engel" und "Gott" die gleiche Art "Geist" ist.) Wenn dem so ist, dann müssen dieses "Geister" eine nicht-körperliche Form haben. Denn wir können ja sagen "dies ist jener Geist, das ist ein anderer", wir können also sage was für einen "Geist" wir meinen. Und genau das ist eine "Form". Aber, und das ist wichtig, dies ist dann zwar die Form eines "Geistes", aber die Form ist nicht selber "geistig". Wenn wir darüber nachdenken, ist das geistige Aktivität in uns, aber das macht die Form auch nicht "geistig". Die Form ist einfach was etwas ist. Hier also ein "Geist", aber das ändert nichts an dem was "Form" bedeutet.
Um wieder zu der Wikipedia-Seite zurückzukehren. Sie beschreibt kein bestimmtes Pferd, sondern Pferd-sein, was eine Abstraktion ist von jedem tatsächlich existierenden Tier. Platon sagt nun, daß die Wikipediaseite ein menschlicher Versuch ist der perfekten Abstraktion nahe zu kommen. Und daß das "perfekte Pferd-sein" dem wir uns geistig nähern die echte Realität ist. Und diese Realität agiert quasi als ein abstrakter Stempel: die Pferde die wir so sehen sind mehr oder weniger gute Stempelabdrücke in Materie. Für Platon ist also unsere Abstraktionsfähigkeit ein Weg sich der eigentlichen Realität, der abstrakten Perfektion, zu nähern. In diesem Sinne sieht er den Geist und seine Analyse des Pferd-seins als wahrer als die rumlaufenden Pferde an. Das macht Platon zum Idealisten.
Aristoteles stimmt Platon zu, daß wir geistig das Pferd-sein vom konkreten Pferd abstrahieren. Aber für ihn bedeutet das schlicht, daß wir geistig die eine Form des konkreten Pferdes aufspalten in einen (akzidentalen) Teil der nur dieses bestimmte Pferd betrifft, und einen (substantiellen) Teil, der alle Pferde betrifft. Das ist eine praktische Sache, denn es bedeutet, daß man in Allgemeinheiten denken kann. Also z.B. "um schneller ans Ziel zu kommen, sollte ich ein Pferd reiten". Das "Pferd" in diesem Satz ist kein bestimmten Pferd, sondern nur irgendein Ding das Pferd-sein hat. Und das ist so, obwohl bestimmte Pferde aufgrund ihrer akzidentalen Form hier nicht hilfreich sind, also etwa ein lahmes Pferd oder ein Fohlen. Wir operien da aber mit dem allgemeinen Pferd-sein, demnach Pferde typischerweise schneller laufen können als ein Mensch und einen Menschen auf dem Rücken tragen können. Trotzdem ist das alles nur in unserem Kopf, die echte Realität ist immer die komplette, ungeteilte Form des konkreten Tiers. Und wenn es sich herausstellt, daß wir ein Zwergpferd gekauft haben, dann hat es sich was mit dem Reiten. Das macht Aristoteles zum Realisten.
Was nun das "Geistige" angeht, ist soweit ich weiß Aristoteles der Überzeugung, daß der Geist des Menschen schlicht Teil der Form des menschlichen Körpers ist. Bis auf das andere Vokabular ist das die typische Haltung des materialistischen Hirnforschers heute. Aber anders als ein Materialist hat Aristoteles kein Problem damit die Existenz eines nicht-körperlichen Gottes anzunehmen. Der hat dann eine Form, also z.B. muß er ewig sein. Aber wie erwähnt, das ist die Form eines Geistes, es macht nicht die Form selber "geistig". Es sagt nur, was für ein Geist das nun ist. Und wie auch erwähnt ist der christliche "Trick" um Aristoteles "aufzubohren" schlicht zu sagen, daß die eigentlichen menschlichen Verstandesoperationen nicht-körperlich sind. Nach Aristoteles selber hat der Mensch dann sofort sowohl körperliche als auch nicht-körperliche Form, denn man kann offensichtlich fragen was für eine Art Verstand der menschliche ist. Und Aristoteles Argumentation bzgl. des nicht-körperlichen Gott folgend kann man dann für die Unsterblichkeit der Seele argumentieren, usw. usf. Aristoteles hat eben eine Methodik etabliert, und wenn man der andere Eingangsbedingungen füttert als Aristoteles kriegt man eben andere Ergebnisse heraus als er. Trotzdem benutzt man seine Methodik, und in diesem Sinne kann man sagen, daß die Scholastik weitgehend Aritstoteles übernommen hat.