ChrisCross hat geschrieben:Jorge_ hat geschrieben:ChrisCross hat geschrieben:Also mir ist noch keine Zahl über den Weg gelaufen, dir etwa?
Im Hof unter meinem Fenster parken drei Autos. Es sind tatsächlich drei, nicht ungefähr oder geschätzt oder nur nach Ansicht mancher Beobachter. Diese Dreizahl ist real, wirklich existent, auch außerhalb meiner Gedanken.
Das mit den Autos mag auf den ersten Blick logisch erscheinen, da wir das so geowhnt sind, Dinge immer in Mengen zu denken.
Eine Haupttätigkeit des Denkens ist in der Tat das Differenzieren und Zusammenschauen. Natürlich könnte ich auch sagen, im Hof befinden sich zwölf Räder oder sechs Außenspiegel oder da liegt eine gewisse Menge Stahl, Glas, Textilmaterial und Kunststoff herum. Dass wir die Autos als zählbare Einheiten auffassen ist eine Differenzierungsleistung des Denkens, die auch auf Konvention beruht: Wir haben uns (intersubjektiv) aus bestimmten (uns beiden einleuchtenden und auch anhand objektiver Gegebenheiten beschreibbaren) Gründen darauf geeinigt, ein Auto als eine quasi-organische Einheit anzusehen. Das ändert nichts daran, dass ihre Anzahl unserem Denken vorausgeht. Wenn da wirklich drei Autos stehen (gewöhnliche zweiachsigen Pkw), wäre es ebenso objektiv falsch zu sagen, da sind sechzehn Räder, wie zu sagen, da stehen vier Autos.
Was ich damit sagen will ist, die Anzahl hängt nicht von unserem "Denken in Mengen" ab. Sie ist einfach da. Ob wir Autos oder Räder zählen wollen, ist tatsächlich Vereinbarungssache, das tangiert aber nicht die Realität der entsprechenden Anzahl und noch viel weniger das Wesen der Zahl an sich.
ChrisCross hat geschrieben:Du nimmst einen Stock und brichst ihn in zwei. Wie viele Stöcke hast du jetzt?
Siehe oben. Betrachtungs- und Vereinbarungssache. Zwei halbe Stöcke, einen durchgebrochenen Stock, zwei neue Stöcke ... ist alles richtig. Falsch wäre drei halbe Stöcke, ein geknickter Stock, ...
Übrigens ein interessantes Beispiel im Hinblick auf die Frage Relativismus und Wahrheit. Man kann die Wahrheit aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten und je nach den konventionell vereinbarten intersubjektiven Kriterien ganz anders benennen. Man kann aber nicht sagen, die Wahrheit selbst wäre deshalb relativ oder reine Ansichtssache.
ChrisCross hat geschrieben:Es ergibt sich also, dass man einfach nicht am Wesen die Zahl erkennen kann. Denn diese entsteht erst durch den Zusammenhang. Zahlen bleiben also Produkte des Geistes und keine Dinge, mit denen ich Gott vergleichen bzw. gleichsetzen sollte.
Es ging mir hier ohnehin nicht darum, die Zahl als solche mit Gott gleichzusetzen. Es geht einfach um Metaphysik. Ist die Zahl als solche etwas Gegebenes oder eine Schöpfung des Denkens, eine bloß phantastische Vorstellung, ein Produkt der Einbildung? Was du als "Wesen" bezeichnest, scheint mir als etwas rein Materielles, du selbst nennst es "Dinge". Das materielle Ding "Auto" hat für dich ein reales Wesen, das abstrakte Ding "Zahl" aber offenbar nicht. Warum?
Natürlich kann man am Wesen des (für dich unzweifelhaft realen, da materiellen) Autos nicht erkennen, wie viele Autos auf meinem Hof stehen. Das ergibt sich, wie du richtig sagst, erst aus dem Zusammenhang. Aber ist dieser Zusammenhang deshalb weniger real als die Autos selbst? Bilde ich mir den Zusammenhang nur ein oder definiere ich ihn nur, bloß weil es kein materielles Gebilde ist? Ist die Weltordnung nichts reales, sondern nur ihre Atome? Ist alles Reale nur Materie?
Es ist natürlich eine Konvention, dass ich bloß die drei Autos auf meinem Hof zähle und nicht, sagen wir, alle parkenden Autos im Umkreis von 400 Metern von meinem Standort. Aber die Dreizahl dieser Autos, die zu betrachten ich mich entschlossen habe, ist durchaus real und entspringt nicht nur meiner Vorstellungskraft.
Anselms Gottesbeweis fußt jedenfalls auf einer anderen, nicht materialistischen Sichtweise der Realität. Die Realität dessen, über den hinaus nichts Größeres gedacht werden kann, ist für Materialisten ein bloßes Gedankenspiel. Die metaphysischen Überlegungen zur Realität der Zahl helfen dabei, Anselm besser zu verstehen. Das war mein Gedanke (also nichts Gotteslästerliches, hoffe ich).
