Eudämonismus / Eudämonie

Schriftexegese. Theologische & philosophische Disputationen. Die etwas spezielleren Fragen.
Bruder Donald

Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von Bruder Donald »

Unter Eudämonie versteht man pauschal ja "Glückseligkeit".
Es gibt ja unterschiedliche eudämonistische Konzepte und Theorien, was denn überhaupt Glück/Glückseligkeit sei bzw. bedeutet und wie diese/s zu erreichen ist.

Des Christen Ziel ist durchaus die Erlangung der Eudaimonia, aber damit kann wohl schlecht ein subjektives Verständnis von "gut-für-mich" gemeint sein, welches sich vielleicht anhand eines Verspürens von Freude oder Lust messen lassen kann.
Für den Christen ist nicht das Verspüren von Freude und Lust Zweck und Ziel, vielleicht höchstens ein schöner Nebeneffekt, eine Folge der Glückseligkeit. Der Christ erlangt Glück, in dem er sich an das "Gute" bindet, dieses als sein Ziel ansieht und Gutes um ihretwegen allein tut.
Mit Kant kann man sagen, dass die Tugend/Tugendhaftigkeit Lohn genug ist. Hier muss man mit den klugen theologischen Köpfen aber einfügen, dass es ein diesseitige (unvollkommenes) und ein jenseitiges (vollkommenes) Glück gibt. Ersteres kann man durchaus durch Tugendhaftigkeit erlangen (wobei der Mensch nicht nur allein daran wirkt, sondern auch Gott mitwirkt), letztere wird nur von Gott allein durch Gnade geschenkt.
Persönlich halte ich daher die Tugendethik für das "bessere" ethisches Konzept statt einer normativen bzw. Gesinnungs-Ethik.

Hierzu eine interessante Vortragsreihe auf CNA-News

Um eine Philosophie des Guten: 1. Zieldualismus statt Zielmonismus


Um eine Philosophie des Guten: 2. Der Begriff des Guten im Eudämonismus

Um eine Philosophie des Guten: 3. Aufgeklärter Eudämonismus

Um eine Philosophie des Guten: 4. Zwei Arten des Guten und wie sie uns gegeben sind

Mir wäre nicht bekannt, dass man christlicher Seits die christliche Ethik als eudämonistisch bezeichnet. Wäre das aber nicht naheliegend oder vermeidet man das, weil der Begriff selbst ja eher uneindeutig ist oder mit anderen eudämonistischen Ethiken verwechselt werden kann? Von der Tugendethik will ich gar nicht mal anfangen, die wird ja geradezu stiefmütterlich behandelt.

In der Artikelreihe vertritt der Autor eine Teilung der Letztmotivation menschlichen Handelns, nämlich Moral und Glück, was er als "Zieldualismus" benennt. Diesem steht ein "Zielmonismus" aristotelisch-thomistischer Prägung, im welchen Moral und Glück eine einzige Letztmotivation bilden. Am sog. Zielmonismus sehe ich nichts falsches. Was sagt ihr dazu? Macht sich der Autor zu viele Gedanken, oder hat er durchaus recht?

philipp

Re: Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von philipp »

Also für mich ist der EU-Dämonismus schlicht das, was unsere Europäische Union täglich in den Parlamenten, Gerichten und Kommissionen fabriziert.

:narr: :narr: :narr:

Bruder Donald

Re: Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von Bruder Donald »

philipp hat geschrieben:
Mittwoch 25. November 2020, 22:04
Also für mich ist der EU-Dämonismus schlicht das, was unsere Europäische Union täglich in den Parlamenten, Gerichten und Kommissionen fabriziert.

:narr: :narr: :narr:
Zum EU-Dämonismus bitte ins Brauhaus :D :ikb_cheers:

Bruder Donald

Re: Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von Bruder Donald »

Um eine Philosophie des Guten: 5. Die Evidenz des Urgewissens
[(STh I–II 94, 2)]: "Wie nun das Seiende das Erste ist, was überhaupt erfaßt wird, so ist das Gute das Ersterkannte vonseiten der praktischen Vernunft, die auf das Tun hinordnet. Denn jeder, der handelt, handelt um eines Zieles willen, das den Charakter eines bonum hat. So stützt sich also das erste Prinzip des praktischen Verstandes auf den Charakter des Guten, der darin besteht, dass alle es erstreben. Das ist also das erste Gebot des Gesetzes: Das Gute ist zu tun und zu verfolgen, das Böse zu meiden. Darauf gründen alle anderen Vorschriften des Naturgesetzes."

Hier identifiziert also Thomas tragischerweise das vom Urgewissen befohlene Gute mit dem Guten, das wir von selber sowieso erstreben. Wenn nun das moralisch Gute mit dem außermoralisch Guten in eins gesetzt wird, gibt es zwei Möglichkeiten: Das außermoralisch Gute wird nach dem Vorbild des moralisch Guten interpretiert, oder umgekehrt. Im weiteren Verlauf seiner Erklärung wird klar, dass Thomas den zweiten Weg einschlägt. Er interpretiert das moralisch Gute nach Art eines Strebensziels: Aus dem Objekt eines Imperativs macht er das Objekt einer inclinatio. Der Sinn des Gerundivums (faciendum) wird entleert, aus der Pflicht wird eine besondere Art von Neigung, aus dem moralisch Guten ein Fall des Guten-für-mich. Das moralische Phänomen wird seiner Eigentümlichkeit, der Gewissensspruch seiner Autorität beraubt.
Ich bin ja nun kein Thomas-Experte, aber irgendwie kann ich mir nicht vorstellen, dass Recktenwalds Interpretation hier zutrifft.
Aus einer Laien-Sicht würde ich eben sagen, dass Thomas durchaus meint, dass "das außermoralisch Gute nach dem Vorbild des moralisch Guten interpretiert wird", denn sonst würde die Tugendethik, mMn, keinen Sinn ergeben.

Trisagion
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Re: Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von Trisagion »

Die Analyse ist schon weitgehend richtig, nur ist das halt nicht "tragisch". Recktenwald behauptet eben ein duales System von Gut und Moral, Thomas behauptet eine Vereinheitlichung von Gut und Moral mit der Moral als unserem intelligent und bewußt entschiedenen Handlungs-Gut. Aus der Sicht von Recktenwald bedeutet das in der Tat, daß das separate System "Moral" (aus Pflichtgefühl) von der ganz normalen Suche nach "Gut" (meinem eigenen Vorteil) übernommen wird. Und er mag das nicht, weil nach oberflächlicher Analyse das eben nicht zur Realität zu passen scheint: das was wir wollen liegt oft im offen Konflikt mit dem was wir sollen.

Des Recktenwald-System ist letztlich eine direkte Spiegelung menschliche Erfahrung, wir empfinde es oft so. Hingegen sagt Thomas im Wesentlichen, daß wir dumm und willensschwach sind. Der Grund für den Widerstreit in uns ist, daß wir entweder nicht erkennen was gut für uns ist, oder es nicht umsetzen können. Also z.B. Sex macht Spaß, also rammeln - das ist dumm (nicht komplett falsch, aber zu kurz gedacht). Oder z.B. Sex ist offensichtlich am Besten für den Menschen in einer lebenslangen, liebevollen Beziehung, aber schau wie einfach ich mir im Netz Pornos ziehen kann - das ist willensschwach. Die menschliche Erfahrung baut sich auf im vor und zurück zwischen Dummheit und Willensschwäche: wenn wir auf dumm schalten sehen wir ein einfaches Wollen (Sex), wenn wir darüber nachdenken fangen wir an Bedingungen zu erkennen (aber nur in der Ehe) denen wir nicht immer folgen, und wenn wir das externalisieren sind wir bei den zwei Systemen: "Sex macht Spaß" (individuelle Suche nach Glück) und "aber es ist Pflicht ihn nur in der Ehe zu haben" (moralische Regel, separat, oft ignoriert).

Nun muß man zugestehen, daß Thomas letztlich nur Recht haben kann, falls es Gott als das eigentliche Gut des Menschen gibt. Denn wenn man unter Lebensgefahr ein fremdes Kind rettet, dann ist es schwer möglich dies ohne übernatürliche Tugend der Liebe (caritas) als das eigene Gut im strikten Sinne zu erklären. Man kann zwar behaupten, daß Gruppentiere die Fortpflanzug ihrer eigenen Gene fördern, wenn sie Verhalten an den Tag legen, daß Risiko zu ihrer eigenen Fortpflanzung bedeutet, solange dies gegenseitig ist und im Schnitt mehr erfolgreich als erfolglos. Aber dann reden wir nicht mehr vom Gut des Individuums sondern von dem seiner Gene, und selbst das nur über viele Individuen hinweg statistisch. Für Thomas geht es hingegen darum mit unser Intelligenz und Gottes Gnade Gott als unser letztendliches Gut zu erkennen, und dann durch Übung und Gottes Gnade unseren Willen zu stärken bis wir unser Handeln komplett auf dieses höchste Ziel ausgerichtet haben. Ich verfolge mein echtes Eigeninteresse wenn ich mein Leben für ein fremdes Kind riskiere, weil aufopfernde Nächstenliebe gottgefällig (und gottähnlich...) ist und mein höchstes und endgültiges Eigeninteresse eben Gott selber ist.

In der Praxis ist das dann schon ziemlich ähnlich zu dem was Recktenwald sagt. In beiden Fällen ergeben sich moralische Regeln und Ansprüche, die man nicht direkt "natürlich" aus dem Wohl und Wehe eines menschlichen Individuum ablesen kann. Der Unterschied ist aber, daß für Recktenwald diese Regeln irgendwie vom Himmel fallen, ein Regelkatalog der uns zusätzlich (von Gott) gegeben ist. Wohingegen bei Thomas diese Regeln schlicht unser eigenes Handlungs-Gut sind, wenn wir nur dank Gottes Gnade unser natürliches Erkennen und Wollen übernatürlich vollenden. Thomas erklärt was Recktenwald postuliert.

Bruder Donald

Re: Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von Bruder Donald »

Trisagion hat geschrieben:
Mittwoch 9. Dezember 2020, 14:54
Für Thomas geht es hingegen darum mit unser Intelligenz und Gottes Gnade Gott als unser letztendliches Gut zu erkennen, und dann durch Übung und Gottes Gnade unseren Willen zu stärken bis wir unser Handeln komplett auf dieses höchste Ziel ausgerichtet haben. Ich verfolge mein echtes Eigeninteresse wenn ich mein Leben für ein fremdes Kind riskiere, weil aufopfernde Nächstenliebe gottgefällig (und gottähnlich...) ist und mein höchstes und endgültiges Eigeninteresse eben Gott selber ist.
So verstehe ich es auch und darum verstehe ich Recktenwalds Analyse nicht.
Es ist schon klar, dass unser menschliches Wollen selten damit übereinstimmt, was wir sollen. Und Thomas (bzw. die Tugendethik allgemein) verstehe ich eben so, dass der Mensch sein Glück/Glückseligkeit (=Eudämonie) erfährt, wenn er sein subjektives Wollen an das Objektive Sollen anpasst. Also von oben nach unten.
Recktenwald hingegen meint, so scheint mir, dass Thomas es umgekehrt geäußert hat, von unten nach oben, subjektives Wollen definiert objektives Sollen. Klingt für mich nicht richtig analysiert.
Daher sieht Recktenwalds Kritik in meinen Augen unnötig künstlich aus, als hätte er ein Problem geschaffen, dass im Grunde gar nicht da ist.

Vielleicht liegt es auch daran, dass der Begriff "Eudämonie" eben nicht eindeutig definiert ist bzw. eine Eudämonie auf stoischer Basis eben nicht das Gleiche ist, wie eine hedonistische.
Mir ist "automatisch" klar, dass Thomas Konzept christlich-stoisch zu verstehen ist. Daraus kann man also ebenfalls schlussfolgern, das dieses Ethikkonzept durchaus eudämonisch ist.

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Jakobgutbewohner
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Re: Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von Jakobgutbewohner »

Bruder Donald hat geschrieben:
Mittwoch 25. November 2020, 16:37
Ersteres kann man durchaus durch Tugendhaftigkeit erlangen (wobei der Mensch nicht nur allein daran wirkt, sondern auch Gott mitwirkt), letztere wird nur von Gott allein durch Gnade geschenkt.
Persönlich halte ich daher die Tugendethik für das "bessere" ethisches Konzept statt einer normativen bzw. Gesinnungs-Ethik.
"Wiederum gleicht das Reich der Himmel einem Schatze, der in dem Felde verborgen liegt, den ein Mensch findet und verbirgt und in seiner Freude hingeht und alles, was er hat, verkauft und dieses Feld kauft." Mt 13,44

So wie ich es verstehe ist "gesetzliches Handeln" etwas, bei dem der Mensch sich einer äußeren Regel unterwirft oder sich selbst in ähnlicher Weise dazu aus Menschlichem treibt. Aber das Wollen eines Menschen im Sinne eines wirklich innersten Wollens, mehr ähnlich der irdischen Lust nach dem Erlangen eines irdischen Schatzes, hängt von dem Geist ab, aus dem ein Mensch ist, der der (dominierende) "Vater" dieses Menschen ist. Ist es wirklich der himmlische Vater, dann wird der "Sohn" (der Mensch, der aus einem "Vater" will) sich an dem freuen (wie irdische Menschen an Irdischem), an dem auch der himmliche Vater Freude verspürt. Als Ausgangspunkt sehe ich also die Hinwendung des Menschen an einen bestimmten Geist. Wenn der Mensch aus menschlichem Erwägen, vielleicht auch aus Sehnsucht nach menschlichem Lob, bestimmte Regeln befolgt, dann ist das etwas, das nicht auf seiner Herzenssehnsucht basiert, es wäre bestenfalls das Vorspielen von Symptomen ohne das Ziel echten "Sinneswandels" aus Geistigem zu erreichen.
"Selig sind ... die durch die Tore eingehen in die Stadt. Draußen aber sind die Hunde und die "Pharmazeuten" und die Buhler und die Mörder und die Götzendiener und jeder, der die Lüge liebt und tut." Off 22,14+15

Bruder Donald

Re: Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von Bruder Donald »

Agricola hat geschrieben:
Freitag 16. April 2021, 16:08
Anmerkung:

Wo die Frage nach der Religion virulent wird, ist m. E. tatsächlich die Frage nach Glück und Unglück. Das ist auch ein Punkt, den die Väter teilten. Was sie lehrten, was sie selbst als „wahre Philosophie“, als die „Philosophie Christi“, die „himmlische“, „heilige“, „vollendete Philosophie Gottes“ bezeichneten, zielt auf das Glück („εὐδαιμονία“) ab.
Wenn ich darf, würde ich gerne dazu in diesem Thread etwas fragen wollen. :huhu:

Agricola hat geschrieben:
Freitag 16. April 2021, 16:08
„Ein Meister spricht“, dass das Glück drei Aspekte hat, ähnlich wie Wahrheit [...] und Zeit [...], nämlich Vergnügen, Gelingen und Präsenz. Wo diese drei auseinandertreten, entsteht Unglück und falsches Bewusstsein, wo sie vereint sind ist Glück.
Kannst du diese drei Aspekte näher erläutern? Besonders "Präsenz" verstehe ich hier nicht.

Agricola
Beiträge: 64
Registriert: Donnerstag 8. April 2021, 12:57

Re: Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von Agricola »

Wahrheit – Zeit – Seelenvermögen sind in einer Weise aufeinander bezogen. Die jeweiligen Aspekte des Genannten bedingen jeweils ihr eigenes Glück, das dadurch seinerseits drei Aspekte aufweist sowie damit verbunden drei Lebensformen.

Stufe I
(1) Übereinstimmung (Wahrheit/realistisch)
(2) Vergangenheit (Zeit)
(3) Gefühl (Seelenvermögen/affektiv)
-------------------------------------------------------
Glücksform: Lust (ἡδονή) (– Unlust)
Lebensform: βίος ἀπολαυστικός

Stufe II
(1) Behauptbarkeit (Wahrheit/pragmatisch)
(2) Zukunft (Zeit)
(3) Wollen (Seelenvermögen/voluntativ)
-------------------------------------------------------
Glücksform: Gelingen (τιμή?) (– Misslingen)
Lebensform: βίος πολιτικός

Stufe III
(1) Unverborgenheit (Wahrheit/phänomenal)
(2) Gegenwart (Zeit)
(3) Erkennen (Seelenvermögen/kognitiv)
-------------------------------------------------------
Glücksform: Kontemplation (θεωρία)
Lebensform: βίος θεωρητικός

Einiges zu dem, worum es hauptsächlich geht, sagte bereits der Philosoph, also Aristoteles, aber vielleicht noch ein paar Sätze: Die Zeit zerteilt das Glück in unserm Lebensvollzug. Der Ist-Zustand als Gegenwart ist immer und wird begriffen nur als eine Schwundform und Umschlagen zu einem weiteren Zustand als sein Ziel, die Zukunft. Das Ziel dieses infiniten Progresses wird jedoch niemals erreicht, sondern dieser irgendwann einfach durch den Tod abgebrochen. Wenn jeder Moment durch die Zeit nur Mittel zum Zweck (seinen Nachfolger in der Zeit) ist, ist ein so abgebrochenes Leben schlicht sinnlos, das heißt ohne τέλος, ohne abschließende, bedeutungsverleihende Bezogenheit. Das ist – zumal etsi deus non daretur betrachtet – das Problem der Endlichkeit.
Ferner sind natürlich nicht alle Lebensformen, die sich aus der Struktur der Zeit ergeben, gleichwertig. Zum „βίος ἀπολαυστικός“ hat bereits Aristoteles alles Wichtige gesagt: Dabei handelt es sich um eine Verwechslung von Ziel und Folge, zeitlich: von Zukunft und Vergangenheit. Die Lust tritt nicht als Ziel unserer Tätigkeit ein, sondern beiläufig als Folge des Gelingens unserer Tätigkeit. Indem man die Lust direkt anvisiert, verfehlt man sie und das Ergebnis ist Unlust.
Was den „βίος πολιτικός“ angeht, so gibt es hier zwar die genannte Verkehrung nicht, dafür das eine denkbare prekäre Lage. Diese Lebensform als eine Mischung aus (eigenen?) Leistungen und glücklichen Umständen ist völlig der Kontingenz ebenjener ausgesetzt. Das Problem ist ferner, dass man bis zum Ende nie weiß, ob einem das Leben gelungen ist (vgl. Solon, in: Herodot, Hist. I,32,4). Was soll das aber für ein Glück sein, von dem man selbst nie weiß und nie wissen kann, ob es auch tatsächlich Glück ist? Durch unsere Endlichkeit bedingt misslingt uns das so Erstrebte.
Bleibt noch der „βίος θεωρητικός“. Nach diesem kann man aber schlicht nicht streben, denn strebte man nach ihm, anstatt in ihm betrachtend zu verweilen, hätte man sich dasselbe Problem eingehandelt wie oben: Man verwechselt Zukunft und Gegenwart, den Zustand mit dem Weg dorthin. Aristoteles meinte nun auch, dass dieses theoretisch-göttliche Glück allein den Göttern oder dem Gott vorbehalten wäre. Könnte man nun jedoch ein Leben führen, das die sukzessive Ordnung der Zeit vom Augenblick zu suspendieren vermag, die den Mittel-Zweck-Progress durchbricht, führte man ein gleichsam göttliches Leben, zumal dann, wenn die Endlichkeit, die sich aus unserer zeitlichen Verfassung ergibt, als Abbruch unseres Lebens aufhörte. In so einem Leben fände auch alles ungetrennt im Augenblick zusammen.

Gott ist, recht verstanden, dieser Augenblick, zu dem man einzig sagen kann: „Verweile doch! du bist so schön!“ – Wie man vor so einem Hintergrund Ausdrücke wie „θεωσις“ oder „ὁμοίωσις θεῶ“ als Ziel begrifflich so explizieren könnte, dass moderne Menschen etwas damit anfangen können, ist vielleicht auch ein klein wenig klarer geworden. Wenigstens der Richtung nach, in die man gehen könnte.

Bruder Donald

Re: Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von Bruder Donald »

Also, mit "Präsenz" ist die Kontemplation, ein "beschauendes Verweilen" gemeint?
Oder, dass Glück immer gegenwärtig/präsent ist und kein vergangener Idealzustand oder noch anzustrebender Zustand?

Agricola
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Re: Eudämonismus / Eudämonie

Beitrag von Agricola »

Bruder Donald hat geschrieben:Also, mit "Präsenz" ist die Kontemplation, ein "beschauendes Verweilen" gemeint?
Ja.
Bruder Donald hat geschrieben:Oder, dass Glück immer gegenwärtig/präsent ist und kein vergangener Idealzustand oder noch anzustrebender Zustand?
Diese Zerteilung oder "Aufgespanntheit" in der Zeit ist uns erst mal qua conditio humana als raum-zeitliche Wesen gegeben. Die Kunst, um die es geht, ist in gewisser Weise die, das nicht so zu (er-)leben.

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