Fragesteller hat geschrieben:Dein "Dilemma" kommt nur durch diese Grundannahme zustande, die Du erst beweisen müsstest. Natürlich lehrt Jesus Nächstenliebe. Aber wenn du etwa die Bergpredigt nimmst, die ja wohl Paradestück jesuanischer Ethik ist: Dort ist klar, dass die unbedingte Nächsten- und Feindesliebe nur dadurch möglich ist, dass wir (unabhängig von ihr) erlöst sind. Golgatha und die Märtyrer zeigen deutlich, wo man hinkommt, wenn man immer "auch die andere Backe" hinhält. Dass dies trotzdem ethisches Gebot Jesu ist, ist nur deshalb sinnvoll, weil uns eben noch etwas jenseits dieser damit unter Umständen verloren gehenden Welt geschenkt ist. Und dieses Etwas ist nach Maßstab dessen, was wir aus eigener Kraft und mit dem hier auf der Welt vorhandenen Material schaffen können, unmöglich.
Wie ich zu der Grundannahme komme? Allein mit dem Beobachten der Mitmenschen ist das bewiesen: durch den hässlichen Nachbarschaftsstreit bis hin zum kriminellen Vergehen. An die Erlösung durch Jesus Christus glauben die Menschen vielfach schlicht nicht.
Als Kind war für mich die Bergpredigt intuitiv großartig. Das ist das Menschenbild, das mich anzog. Aber erst heute kann ich wirklich nachvollziehen, was sie bedeutet, wie schwer es ist, ihr zu folgen und woran die alltägliche Umsetzung hapert. „Einfach an etwas glauben“ klappt zudem nicht mehr, weil der aufgeklärte Mensch hinterfragt. Und wie du schreibst, selbst Märtyrer haben Jesus missverstanden, weil sie dieses „Etwas“ nicht erkannt, die Bergpredigt „zu wörtlich“ genommen haben. Die Kirchen waren einmal voll, was ich dem früheren Gehorsamsdruck auf die Gläubigen zuschreibe. Dass sie heute leerer werden, könnte vor allem auch daran liegen, dass sich die wenigsten freiwillig auf die Suche nach dem „Etwas“ begeben, sondern irgendetwas lieber durch Materialismus zu befriedigen versuchen.
Wie könnten die Geistlichen abhelfen? Bei allem müsste vorrangig die Wahrnehmungsebene, die über den „blinden“ Glauben (so wie ihn die meisten verstehen) hinausgeht, geschult werden; an eine Gebetstechnik, ein Anleitung für den Glauben, denke ich: Exerzitien, Kontemplation, Stille, Anbetungen, würdige Riten, Spiritualität, Mystiker, geistliche Musik etc. sind Schlagworte dafür.
Fragesteller hat geschrieben:"Verantwortlich" können wir nur sein als gottesebenbildliche Wesen. Gottesebenbildlichkeit können wir uns nicht selbst geben, sondern sie wurde uns einmal aus reiner Gnade gegeben, in der Schöpfung, und sie wird uns in Christo wieder aus reiner Gnade zurückgegeben. In dem Moment sind wir auch wieder verantwortungsfähig. Eine autonome Subjektivität jenseits der Gottesebenbildlichkeit zu konstruieren, heißt, den Menschen als eigenständigen, vom Schöpfer unabhängigen Gott einzuführen. -- Das heißt nicht, dass sich nicht jeder Mensch anständig verhalten sollte und dass man ihm anderes Verhalten dagegen nicht vorhalten könnte. Aber so anständig, dass er sich den Himmel verdient (d. h. dass das irgendwie in einen Maßstab zu Gott zu setzen ist) kann sich kein Mensch verhalten.
Die Gottesebenbildlichkeit und die Gnade können wir uns vielleicht nicht selbst geben, man muss sich aber klar machen, dass die Gnade (bei den allermeisten) „nicht einfach so über einen“ kommt. (Bei einigen Berufenen mag das anders sein.) In dem sich unser Bemühen im Gebet von der gesprochenen Rezitation zu einer stillen Innenschau verwandelt, öffnet sich ein Raum, was die Voraussetzung dafür ist, dass Gottes Gnade überhaupt empfangen werden kann.
Fragesteller hat geschrieben:Lieben sollen wir an uns selbst und anderen das eigentliche, gottesebenbildliche Sein, das wir ursprünglich hatten und das uns in Christo neu geschenkt wird, und damit nicht den Menschen an sich, sondern den Menschen, insofern Gott durch ihn sichtbar ist. Das vorfindliche Sein ist zu einem guten Teil wenig liebenswert.
Auf der Seinsebene (bei Gott) sind wir alle liebenswert. Da wir aber die Verbindung zu Gott und unserer Seele verloren haben, halte ich es für wichtig, sich in Stille zu üben, damit die Verbingung (Sender/Empfänger) wieder steht. Nur dadurch kann Liebe (göttliche Liebe oder Gnade) im Menschen erweckt werden. Von der Liebe getragen verändert sich das eigene Wollen zum Guten hin. Mitgefühl, Liebe und Barmherzigkeit sind mehr als Emotionen, sie liegen irgendwo „verschüttet“ auf unserem Wesensgrund.
Deine noch offenen Fragen weiter oben, sind vermutlich mit diesen Gedanken beantwortet. Es geht erst einmal nicht um „ganzheitlich“, sondern um „selektiv“ wahrnehmen lernen.