Re: Was befremdet euch an der Orthodoxie am meisten?
Verfasst: Dienstag 8. März 2022, 12:42
Ich meine damit zunächst mal das konkrete historische Ereignis der Menschwerdung und Auferstehung Gottes selber. Von da aus ergibt sich ja erst die Bedeutung und Autorität der apostolischen Überlieferung, auf der die Tradition der Kirche gründet.
Diesem Einwand hat Robert schon vor zwanzig Jahren vorgegriffen, als er dies hier schrieb:Jeremias hat geschrieben: ↑Montag 7. März 2022, 07:54Puha. Da möchte ich doch entschieden widersprechen! (Du bringst ja selber schon leichte Zweifel ins Spiel)Cassian hat geschrieben: ↑Sonntag 6. März 2022, 21:06Was sich in Russland zu deinem Leidwesen fortsetzt, ist nichts weiter als das Erbe christlicher Staatlichkeit, wie es früher in der gesamten orthodoxen Ökumene gelebt wurde: von der Konstantinischen Wende über die Taufe Chlodwigs, die des Angelsachsenkönigs Alfred, die des Norwegerkönigs Olaf, bis hin zur Taufe Wladimirs des Großen und den sächsischen und salischen Reichskirchen des zehnten und elften Jahrhunderts.
Die Alternative zu einer christlichen Staatlichkeit ist aber auch kein "neutraler" Staat oder eine "neutrale" Kirche, sondern eine dämonische Staatlichkeit, dem die Kirche unterworfen ist. Das dürfte in unseren Zeiten ebenso unschwer nachzuvollziehen sein.
Es ist meines Erachtens durchaus fraglich, ob die Verknüpfung von Kirche und Staat uns im Streben zum Heil wirklich weitergebracht hat. Christus scheint sich im Evangelium eher apolitisch zu positionieren, hingewandt auf das ewige Königreich Gottes ("Gebe dem Kaiser, was dem Kaiser ist" Mt 22,15; "Um all das kümmern sich die Heiden" Mt 6,32).
Robert Ketelhohn hat geschrieben:Und das Nicæno-Constantinopolitanum sprichst du nur mit Ekel? Oder gar nicht mehr?
Ohne Ostroms christliche Kaiser hätte es die großen ökumenischen Synoden nicht gegeben, keine Definition der unabdingbaren Glaubensartikel, ohne Ostroms christliche Kaiser hätte die Kirche keine christliche Kultur bilden können, hätte es niemals die Christenheit gegeben und wäre die Verkündigung der Apostel kaum je in nennenswertem Umfang zu uns gelangt.
Mit Blick auf die Kirche der Väter von schändlichem Zustand zu reden offenbart einen schwer getrübten Blick auf die Geschichte, eine ideologisch erkrankte Ekklesiologie und ein geradezu katharisch irreales Selbstverständnis.
Ja, sicher. Es brechen durch eine christliche Staatlichkeit ja auch keine paradiesischen Zustände an. Sie kann letztlich immer nur ein Mindestmaß an Entfaltungsspielraum für die Kirche erkämpfen und verteidigen, letztlich als Beschützer ihre irdische Pilgerschaft ermöglichen. Ist das Ganze aber nicht mehr durch den Glauben im Volk gedeckt, dann ist es auch ganz schnell um mit der Kaiserherrlichkeit: deswegen hat Gott ja nacheinander das Joch der Türken, der Tataren und der Bolschewiken zugelassen. Dazwischen stand aber immer auch die Wiedergewinnung der Freiheit und die Wiederaufrichtung des Katechons. Die Triumphe eines Alexander Newskis oder auch eines Lazar Hrebeljanowitsch sind aber fundamental auch Triumphe der Kirche.Jeremias hat geschrieben: ↑Montag 7. März 2022, 07:54Davon ab wird die Kirche durch eine enge Verbindung mit dem Staat auch Mitträger staatlichen Handelns: Dieses aber wird aufgrund der Natur dieser Welt (1 Joh 5,19) stets auch den Makel dieser Welt tragen!
Als jemand, der in der Kommunalpolitik mitmischt: Christliches Handeln ist da oft hinderlich, im Mindesten ist die Wortgewandtheit des sprichwörtlichen Jesuiten gefragt.
Darüber hinaus kann man durchaus hinterfragen, inwiefern es der Kirche gutgetan hat, wenn Schwerter gesegnet werden und Könige (die ja gar nicht sooo friedlich waren) einen Ehrenplatz bekamen. Macht hat es der Kirche gegeben, ja, aber um welchen Preis?
Es gibt keinen "neutralen" Staat, ebenso wie es keine "neutralen" Standpunkte gibt (über den epistemischen Irrsinn des seit dem Mittelalter im Westen verbreiteten Naturalismus hat man hier schon an anderer Stelle diskutiert). Es gibt ihn nicht, gab ihn nicht, es kann ihn nicht geben. Er ist ein Trugbild der Aufklärungszeit, und hat sich als solcher schon in den Leichensümpfen der Vendee enttarnt. Allerhöchstens kann es für eine kurze Zeit einen scheinbaren "Burgfrieden" geben, in der der Teufel an anderer Stelle Wühlarbeit betreibt und seine Dornen säht (vielleicht sind die zwanzig ersten Jahre der Bundesrepublik, von 1949 bis 1969, ein Beispiel dafür). Der "neutrale" Staat ist uns auch nicht verheißen, sondern der geistliche Kampf auf allen Ebenen. Jeder Begriff, auf den sich der Staat bezieht, wird im vorpolitischen Raum definiert und ist per se nie "neutral". Am prägnantesten nachvollziehbar ist das in unseren Zeiten am Ehebegriff.Jeremias hat geschrieben: ↑Montag 7. März 2022, 07:54Letztlich ist es heutzutage durchaus fraglich, inwiefern ein neutraler Staat nicht eigentlich vorzuziehen wäre. Denn dann kann man sich zumindestens von den eventuellen Verbrechen ebenjenes Staates leichter distanzieren und kommt nicht in wachsende Erklärungsnöte.