Stephen, ich persönlich erlebe es auch als Ausnahme. In Amerika sieht's da etwas anders aus, da gibt's tatsächlich den einen oder anderen Riß mehr, als gesund ist. Hand auf's Herz: der Phyletismus stellt schon ein Problem dar. Ich muß dabei feststellen, daß er in aller Regel vom Kirchenvolk, also von den Gläubigen, nicht von der Hierarchie ausgeht. Gerade heute feiern wir (ich meine das so!) die Rückkehr der Russischen Auslandskirche zur Mutterkirche, die offizielle "Normalisierung" des Verhältnisses, anders ausgedrückt: die Wiederherstellung der Sakramentsgemeinschaft. Das allein ist ein in der Geschichte recht beispielloser Vorgang. Es gibt historisch nicht viele Fälle, in denen eine Spaltung durch die Rückkehr des abgebrochenen Teils der Kirche überwunden wurde. Das ging nicht ohne die Gnade Gottes: es gab so viel menschliches, was dem entgegenstand - aber bitteschön, wir umarmen freudig unsere Brüder von der Auslandskirche. Gleichzeitig wird Erzbischof Mark (Diözese von Deutschland der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland, ein gebürtiger Chemnitzer) im russischen Fernsehen gezeigt, gibt Interviews usw., und die Leute (hierzulande!) kommentieren: was will der mit uns, der ist doch nichtmal Russe... Tja, so bitter sieht's manchmal aus, ich könnte noch andere schlimmere Zwischenfälle zitieren, die sich v.a. auf Gemeindeebene abgespielt haben; die Orthodoxie hat eben auch mit der Trägheit des Pöbels zu ringen, das kann man gar nicht anders nennen.Stephen Dedalus hat geschrieben:...mein "Informant" hatt diesbezüglich eine ganz andere Ansicht. Er sprach von mehreren solcher schwelenden Konflikte.
Irgendwann wird den Menschen aber dann (hoffentlich) doch klar, daß das Fest, welches "Triumph der Orthodoxie" heißt (erster Sonntag der Großen Fastenzeit), durchaus nicht davon handelt, daß die Orthodoxie sich gegen irgendwelche Protestanten, Mohammedaner oder Shintoisten durchgesetzt hat. Es handelt davon, wie der rechte Glaube trotz unserer Trägheit, Uneinsichtigkeit und unseres Starrsinns triumphiert, welche wir aus den Niederungen der gefallenen menschlichen Natur ins Himmelreich einzuschleppen gedenken. Erst recht kann es nicht sein, daß die Orthodoxie irgendwie national monopolisiert wird.
Phyletismus ist derzeit ein Problem in Gebieten, die nicht traditionell orthodox waren, kurz: ein Problem des Okzidents. In Deutschland haben wir die unsinnige Situation, daß jede Orthodoxe Landeskirche hier ihre eigene Hierarchie und Struktur hat. Als zeitweilige Lösung und zur Betreuung der jeweiligen Menschen mag das Sinn machen, aber langfristig muß es natürlich eine hiesige Orthodoxe Kirche geben - insofern siehe bei Walter. In Westeuropa wird mittelfristig eine Metropolie zumindest erst einmal der orthodoxen Gemeinden russischer Tradition entstehen. Wenn's so liefe wie im 20. Jahrhundert in Amerika, hätten wir in 50-100 Jahren eine Orthodoxe Kirche von Westeuropa. (Ich schätze, die nationalen Grenzen werden sowieso immer mehr verwischt, deswegen sage ich gar nicht erst "...von Deutschland" oder "...von Frankreich".) Aber das sind alles Spekulationen. Man rechnet schon noch irgendwie mit Rom, das heißt, man wagt es nicht, eine Parallelkirche aufzubauen. Aber vielleicht gibt's gerade deswegen diese ganzen Probleme. Wohlgemerkt ist es die höchste Hierarchie, die hier so delikat verfährt. Wenn man sich z.B. in Rußlands Klöstern und Gemeinden umhört, so hat kein Kleriker ein Problem mit den römischen Kirchenprovinzen in Rußland: die seien ja eh nicht orthodox. Andersherum hieße das, wir befinden uns hier in Mitteleuropa in einem für die Orthodoxie zu gewinnenden Brachland. Man muß mal schauen, was die nächste Generation der höchsten kirchlichen Hierarchie von dieser Sache hält.