Victor etwa hat dies im Osterfeststreit versucht, Leo in der Zurückweisung des Monophysitismus. Victor freilich ist mit dem Versuch des Ausschlusses der asiatischen Gegenpartei gescheitert, während er in der Sache recht behielt, freilich erst durch Beschluß des Konzils von Nicæa; auch Leos Entscheidung erlangte allgemeine Anerkennung erst durch die Konzilsentscheidung von Chalcedon.
Diese und ähnliche Beispiele taugen nun aber, wie wir sehen, auch nicht zur Unterstützung jenes maximalistischen Primatsverständnisses. Man müßte geradezu so argumentieren: Die Päpste hätten immer schon nach Kräften – manche deutlicher, manche schwächer – die Wahrheit über den Primat gelehrt und festgehalten, wenn auch der Rest der Kirche meist uneinsichtig blieb und widerstrebte; erst nach und nach, vollends nach mehr als 1900 Jahren Kirchengeschichte, sei es gelungen, alle Widerstrebenden entweder auszuschließen oder aber zur Annahme zu zwingen und so der Wahrheit endlich zum ruhm- und glanzvollen Siege zu verhelfen.
Daß solch eine Argumentation logisch widersinnig wäre und die ganze Geschichte der Kirche und ihr Selbstverständnis auf den Kopf zu stellen hieße, liegt auf der Hand. Dennoch läßt sich jene ganze maximalistische Primatsposition – zugespitzt formuliert, aber sachlich treffend – nur so begründen.
Dabei war bislang nur von der obersten Entscheidungsgewalt der Päpste in Sachen des Glaubens und der Sitten die Rede. Diese ist ja durchaus vorhanden und historisch auch ausgeübt worden, aber sie galt tatsächlich im ganzen ersten Jahrtausend – und teils weit darüber hinaus – nicht aus sich heraus, sondern bedurfte der Annahme durch die Kirche. Nicht wenige Fälle gab es auch, die klar als päpstliche Fehlentscheidungen anzusehen sind, und Fälle der Nichtannahme durch die Kirche.
Hierzu kann man sagen: Gut, das Vaticanum I hat nochmals der alten Anspruch der römischen Kirche erhoben und eingeschärft; in der Praxis kann es dennoch beim innerkirchlichen Spiel der Kräfte bleiben, durch welches sich im Einzelfall entscheidet, was der Glaube der Kirche ist und was nicht.
Das Vaticanum I ging nun aber über diesen alten Anspruch noch einmal weit hinaus. Es beanspruchte die volle und unmittelbare, echt bischöfliche Gewalt des Papstes in allen und jeder einzelnen „Teilkirche“ der gesamte Oikumene. Diese Idee war das ganze erste Jahrtausend hindurch und darüber hinaus völlig unbekannt. Sie setzt die philosophischen Begründungsversuche der Zwei-Schwerter-Lehre mit ihren Spekulationen um gestufte Gewalten oder Hierarchien voraus. Greifbar wird sie, soweit ich sehe, überhaupt erst in der lateinischen Scholastik des späteren 13. Jahrhunderts.
Mit dem Verständnis von der bischöflichen Gewalt, welches die alte Kirche hatte – also die Kirche vor der Scholastik und vor den hybriden Ansprüchen der mit der katharisch angehauchten Mailänder Pataria geistig verwachsenen hildebrand-humbertschen Fraktion – ist diese Idee von der vollen bischöflichen Gewalt des Papstes in den einzelnen Kirchen schlechterdings nicht vereinbar und muß darum als mit der Tradition nicht vereinbare theologische Meinung zurückgewiesen werden.
Nun kommt noch ein weiteres hinzu, nämlich die „Dogmatisierung“ jener theologischen Meinung, das heißt: der Versuch des Ausschlusses derer, welche sie für falsch halten. Dies impliziert die Voraussetzung, es handle sich um eine „dogmatisierbare“ Materie, also um einen Teil des heilsnotwendigen Glaubensschatzes der Kirche.
Dieser Ansicht steht nicht nur das vollständige Fehlen jener theologischen Meinung über das ganze erste Jahrtausend der Kirche hin entgegen, sondern auch innere Gründe. Aus dem Glaubensbekenntnis von Constantinopel können wir entnehmen, welche Materien als heilsrelevant anzusehen sind. Die folgenden Konzilien haben dies nur hinsichtlich verschiedener Einzelfragen noch weiter entfaltet und präzisiert. Die Primatslehre fehlt unter den heilsrelevanten Gegenständen bis hin zum Vaticanum I vollständig.
Das ist auch theologisch plausibel. Denn wir glauben weder an den Papst, noch sind wir im Blute des Papstes erlöst, auch nicht durch den Gehorsam ihm gegenüber, oder was immer man sich dieser Art noch vorstellen und ausdenken mag.
Die Kirche: ja, die ist notwendig. Mit ihr die Taufe: unum baptisma in remissionem peccatorum. Was die Verfassung der Kirche und die übrigen Sakramente und Sakramentalien betrifft, wird nichts gesagt. Wir dürfen und müssen das darum so verstehen, daß notwendig festzuhalten dasjenige ist, was damals die ganze Kirche einmütig als apostolische Überlieferung glaube, übte und festhielt.
Dem entspricht die seinerzeit von keinem geringeren als Joseph Ratzinger geäußerte Meinung, man dürfe im Bemühen um Wiederherstellung der beschädigten Einheit der Kirche den getrennten Kirchen nicht mehr und anderes zu glauben und zu halten auferlegen, als was im ersten Jahrtausend der Kirchengeschichte von der ganzen Kirche gehalten und geglaubt wurde.
Dieser Forderung sehe ich mich verpflichtet, und nichts anderes versuche ich hier darzustellen, zu begründen und voranzubringen, immer auf der Grundlage historischer Redlichkeit und der Treue und Liebe zur ganzen Kirche. Der Ruf zur Umkehr und zur Reform an Haupt und Gliedern folgt daraus mit Notwendigkeit. Er beinhaltet keinen revolutionären Appell zur Beseitigung der Primats des Bischofs von Rom. Wohl aber die ernste und drängende Frage nach seinem Platz, seiner Reichweite und seinem Stellenwert im Leben der Kirche.