Seite 2 von 2
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Montag 9. Mai 2011, 17:28
von ifugao
Peregrin hat geschrieben:Danke fürs Update!
Gern geschehen. Sobald ich einen neuen Bericht habe, gebe ich ihn weiter.
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Dienstag 17. Mai 2011, 18:06
von ifugao
CAMINO 24
LEKTION
Tapia de Casaregio, ist, wie schon berichtet, die letzte Station vor Ribadeo, und eigentlich ein Katzensprung. Also trödele ich ein wenig, mache ein paar Umwege, nehme eher die wunderschönen Spazierwege als den hier ein wenig langweiligen Pilgerweg. Solange es noch geht will ich die Küste genießen. Und die kommende Herberge ist wohl auch die Herberge, die von allen am schönsten gelegen ist. Direkt am Ortseingang, nur wenige Meter von der Steilküste entfernt, WAHNSINN, WIE SCHÖN! Es gibt kleine Aussichtsplattformen, Treppchen, Kletterfelsen, niedliche Wellen aus denen eigentlich eine Venus mitsamt Jakobsmuschel entsteigen müsste.
Stattdessen überfällt mich Nemesis, die nervigste aller Pilgerinnen, mit lautem Geschnatter, bevor ich auch nur meinen Rucksack durch die Tür wuchten kann. Sie lässt sich nicht davon stören, dass ich ein wenig außer Atem bin, meine Kopfhörer im Ohr habe, oder mehrmals mit steigender Lautstärke versuche, sie darauf aufmerksam zu machen, dass ich kein Wort von dem verstehe, was sie mir da ins Ohr rammt. Sie hat mittlerweile einen aufwendigen Verband ums Bein, mitsamt Schiene und Krücke, und erwartet, dass ich ihr die halbe Herberge umräume, bevor ich auch nur meinen Rucksack absetze. Ich hänge meinen Player an einen Bettpfosten, werfe Manni das Mammut hinterher, und klemme etwas in den Türrahmen, da Nemesis gerne frische Luft hätte, und ignoriere sie danach, um die Lokalität in Augenschein zu nehmen. Im hinteren Teil des dicht mit leeren Etagenbetten gefüllten Raumes gibt es eine Kochplatte und einen Mikrowellenherd (spanisch: Magnetron, toller Name für ein Küchenutensil, vielleicht gibt‘s ja auch noch eine Kräutermühle, genannt Wolverine, und einen Mixer namens Storm), alles klebrig vor Schmutz. Auch Klos und Duschen sind nicht besser. Nemesis schnattert immer noch, und neugierig gehe ich eine Treppe hinauf, ihr zu entflüchten. Auch das Obergeschoss ist vollgestellt mit Etagenbetten, und mindestens zehn Pilger mit Händen auf den Ohren grinsen mich an. Ein Südamerikaner sagt: „She’s going like this for hours now!“ Ich entgegne: „I don’t know what she smoked, but don’t try it too!“ Rasch wird in mehrere Sprachen übersetzt, alle gröhlen.
Nach einer Dusche setze ich mich mit meiner Teekanne an die Küste, und sehe zu, wie sich die Herberge füllt und der Strand sich leert. Ja, D. und L. mit ihrer Gitarre sind auch wieder da, und schließen sich den Südamerikanern an. Es kommt auch noch eine Gruppe von 10 deutschen Pilgern an, die die untere Etage in Beschlag nehmen und laut schnatternde Spanierinnen einfach ignorieren. Nemesis zieht sich die Decke über den Kopf. In der kleinen Hafenstadt mit wunderschönem Hafen finde ich zu Abend eine kleine Cantina, in der es billiges Fastfood gibt, und wo es einigermaßen ruhig zugeht. Dort esse ich eine der merkwürdigsten Mahlzeiten, die ich auf dem ganzen Pilgerweg gegessen habe: Frittierte Chorizo, man stelle sich vor, dazu Rührei mit Patatas Fritas und Majonnaise. Ich merke regelrecht, wie sich meine Arterien mit Cholesterin verstopfen.
Nach einer grauenhaften Nacht in einer voll belegten und total verdreckten Herberge laufe ich mit der deutschen Gruppe weiter, und wir unterhalten uns prächtig bei einem wirklich knackigen Marsch, sie wollen noch weiter, wollen um die 30 Kilometer laufen. Die wohl 18 Kilometer nach Ribadeo vergehen mir im Fluge, und dort angekommen merke ich, dass ich meinen mp3-Player, den mit meinen Hörbüchern, vergessen habe. Gestern, bei dem Überfall von Nemesis, hatte ich ihn an den Bettpfosten gehängt, und hängen gelassen, als ich in das Obergeschoss gezogen bin. Die anderen Deutschen haben ihn gesehen, „So’n kleiner mit echt guten Kopfhörern? Hätt‘ ich beinahe mitgenommen!“ Hättest Du doch nur, dann könntest Du ihn mir jetzt geben. Also nehme ich mir ein Taxi, und fahre in kaum einer Viertelstunde die Strecke zurück, die mich gerade zweieinhalb Stunden Marsch gekostet hat, nur um den Player nicht mehr zu finden. Zurück in Ribadeo mache ich einen Stadtbummel zur Post, meine Tochter wollte mir meine Lieblingsmusik auf zwei Speicherdvds brennen und postlagernd hierherschicken, und auf dem Postamt liegt tatsächlich ein Päckchen für mich. Der Brennvorgang hat aber nicht richtig funktioniert, ein Drittel der Dateien ist kaputt, und der Billigplayer, den ich mir in Spanien gekauft hatte, schaltet nach drei bis fünf Liedern ab, aber wenigsten etwas. Tief deprimiert komme ich zurück zur Herberge. Mittlerweile sind auch die Südamerikaner mit D. und L. eingetroffen. Ohne sonderliche Hoffnung frage ich die süßeste aller Pilgerinnen „Have You found a mp3-Player? I lost it?“ „A tiny little thingy with really good earphones? Yes! I took the phones and gave the player to him over there!” L. kommt um die Ecke, um sich wie immer mein Shampoo auszuleihen, und drückt mir meinen Player in die Hand.
Zeit, über L. nachzudenken. Vielen Pilgern meiner Altersstufe, fortysomething, ist er schon auf den Nerv gegangen, er ist zu aufdringlich, zu distanzlos, spätestens um acht Uhr Abends zugekifft, und erzählt jedem, den er länger als fünf Minuten festhalten kann, seine Lebensgeschichte. Ich hab allerdings schon fünf oder sechs verschieden Ausführungen gehört. Allen Versionen ist eines gleich, er hat Mist oder Durcheinander gebaut, möchte aber jemandem, Bewährungshelfer, Lehrherrn oder zukünftigem Schwiegervater, beweisen, dass er etwas Großes zu Ende bringen kann. Dabei ist er praktisch immer gut gelaunt und nimmt niemandem etwas krumm.
Aber, geht’s denn auf diesem Pilgerweg nicht genau darum? Bis an Ende der Welt laufen, und alle Last von den Schultern und vom Herzen abwerfen? Sich, Gott, und der Welt beweisen, dass man etwas leisten kann? Und sich dabei nicht wie ein depressiver Endvierzigjähriger auf Midlifecrisis benehmen, sondern fröhlich sein wie ein verliebtes Gürteltier auf einer Bowlingbahn? Ohne zu versuchen, in jedem Blatt, das vom Baum fällt, einen tieferen Sinn zu finden, sondern Spaß zu haben, wo er nur zu finden ist?
He, Großer Gott, das will ich auch!!
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Dienstag 17. Mai 2011, 22:36
von ChrisCross
Danke
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Samstag 4. Juni 2011, 19:21
von ifugao
Mare Vale
Camino25 Mare Vale
Die Herberge von Ribadeo ist die erste Herberge in Gaelicia,
und wird staatlich betrieben, wie fast alle in diesem Bundesland. Moment, sind
das hier auch Bundesländer wie bei uns? Oder Kantone wie in der Schweiz, oder
Mandarinate wie in Canton? Staaten wie in Nordamerika? Nää, Vereinigte Staaten
von Espagña klingt nicht so gut. Jedenfalls bin ich jetzt in Gaelicia, nicht zu
verwechseln mit Galizien, was angeblich zu Polen gehört. Die Hauptstadt von Gaelicia
ist Santiago de Compostella, es wird so langsam ernst. Also bin ich jetzt der
Länge nach durch Catalunya und Cantabria, und einen guten Teil Basque, also das
Baskenland, gelaufen. Komisch, auf der ganzen Strecke, besonders im Baskenland,
ist mir niemand mit einer Baskenmütze begegnet. Naja, der Panamahut wurde auch
nicht in Panama, sondern in Kolumbien erfunden, in Bad Homburg trägt kaum
jemand einen Homburger, und auch in Stettin sieht man wenige Leute mit einem
Stetson. Schwach, das mit den Hüten. Da halten es andere besser mit ihrem
Lokalkolorit. Hamburger essen doch auch gern Brötchen mit Flachfrikadellen,
Bremer gerne Fischklopse in Brötchen. Oder gehen wir an die Hauptstädte:
Berliner essen gern frittierte Hefebällchen, Italiener trinken ihren Wein aus
Römern, Österreicher essen Würstchen, und die Franzosen...— tragen Baskenmützen.
Die Herberge von Ribadeo ist jedenfalls sauber und direkt
unter einer gigantischen Brücke gelegen. B.&B., meine beiden kölner
Schwestern, haben jedenfalls schon seit Tagen Angst vor der Höhenangst, da
diese irre hohe Brücke die einzige Alternative zu zwei bis drei Tagen Umweg
ist, und auch mir ist ein wenig mulmig. B.&B. verlassen hier den Camino del
Norte, bleiben weiter an der Küste, bis sie bei A Coruña auf den Camino Ingles
stoßen, einen Abschnitt des Weges, den man in Deutschland kaum kennt, 117km
lang und schlecht mit Herbergen ausgestattet, aber ohne den Pilgerrummel vor
Santiago, mit dem ich noch zu kämpfen haben werde. Ich bleibe jedenfalls auf
dem Norte, der jetzt meine geliebte Küste verlässt. Für den Abschied vom Meer nehme ich mir das Wochenende Zeit.
Mit einer Kanne Tee feiere ich die Bergung meines Players,
und eine der verrücktesten Pilgerinnen trinkt eine Tasse mit mir. Sie ist
Australierin, sehr hübsch, und hat zum Ende ihres Studiums von ihrem Vater
einen Besuch bei ihren Schwestern geschenkt bekommen. Nun, die eine wohnt in
Südafrika, nur ein Katzensprung von Canberra, die andere in London. Und wo sie
nun schon mal in Europa ist, geht sie halt den Jakobsweg. Zuerst hat sie den
Camino Frances hinter sich gebracht, allerdings kurz vor Santiago den Weg
verlassen, und die Urkunde verweigert bekommen. „Was soll‘s,“ dachte sie sich, „mach ich halt auch noch den Norte.“ Na, wenn’s weiter nichts ist! Australier halt.
Da die Herberge sich ernsthaft füllt mache ich mich auf zu
einem Stadtbummel, der damit endet, dass ich mich in einer fantastischen
Pizzeria restlos überfresse. Wenigstens kann ich damit in der total überfüllten
Herberge gut schlafen. Am nächsten Morgen bewundere ich das Chaos, das D. und
L. in der Küche angerichtet haben. Bis das wieder sauber ist wird wohl Mittag
sein. Es gab Spaghetti mit Tomaten und Pilzen, dazu Kürbissuppe, wie in
bemerkenswert vielen Herbergsküchen entlang ihres Weges auch. Ich finde schon
früh ein günstiges Hotel genau im Altstadtzentrum, und gegen Mittag treffe ich
D. bei einer gaelicischen Hochzeitsfeier, er läuft jetzt mit der schnuckeligen
Australierin. Sein Blick gleicht dem einer Katze, die gerade den Kanarienvogel
gefressen hat, ;}.
Die Hochzeitsfeier ist sehr nobel gehalten, wird aber durch eine Trachtengruppe und
eine Folkband, die keltische Dudelsäcke, Gaitas, benutzt, aufgelockert, deshalb schauen auch so viele Leute zu.
Etwas anderes merkwürdiges fällt mir auch hier wieder auf.
Ich hab schon in mehreren Städten merkwürdige Figuren gesehen, junge Frauen,
von Hut mit Schleier bis Schuh mit Schnallen in einer Farbe gekleidet und
geschminkt, also entweder ganz silbern oder weiß, oder golden. Einmal auch
schwarz mit Goldrand. Niemals „richtige“ Farben wie rot, gelb, blau und deren
Mischungen. Sitzen auf einem Hocker in der gleichen Farbe, haben Flügel in
passender Farbe auf dem Rücken, und bewegen sich absolut nicht. Egal, was für
Faxen man als Pilger auch von sich gibt, und ich kann da schon sehr
einfallsreich sein. Wirft man ihnen dann eine Münze in den Becher erwachen sie,
wackeln mit den Flügeln, lächeln und werfen eine Kusshand, und erstarren sofort
wieder zur Statue. Laut Fremdenverkehrsbüro sind das Schauspielstudentinnen,
die so eine Hausaufgabe erfüllen. Sehr viel angenehmer und schöner als südamerikanische Musikstudenten auf deutschen Weihnachtsmärkten.
Ribadeo hat viele Kirchen und Paläste, aber auch viele
Hafenkneipen und Cafès, und das Wochenende vergeht mit Sightseeing und heißer
Schokolade, und zu viel Cervesa und Vino Tinto. Mein Zimmer hat sogar eine
Badewanne, es gibt aber im ganzen Hotel keinen Stöpsel, weshalb ich mir einen
aus einer Obsttüte bastele, hah! Ich nehme mir Zeit, alle Kleidungsstücke
richtig sauber zu waschen, und stocke meine Ausrüstung mit neuen Strümpfen, die
ersten sind schon durchgescheuert, und einem silbernen Halsreif, einem
keltischen Torques, auf. Wann immer ich in einem Cafè Zuckertütchen entdecke, verschwinden
sie auf magische Art und Weise, um in weiteren Tagen genauso magisch in meinem
Nachmittagstee wieder aufzutauchen, schließlich kann ich ja kein Kilo Zucker
mit mir herumschleppen. Aber ich schaffe es kaum, länger als zwei Stunden still
zu sitzen, ich laufe zur Erholung durch die ganze große Stadt und einige
Kilometer an der Steilküste entlang, erst Sonntag Nachmittag komme ich
einigermaßen zur Ruhe. Montag um acht Uhr bin ich allerdings hellwach, gehe indes
ein weinig in die Knie, als ich Manni das Mammut wieder auf meinen Rücken
wuchte. Die ersten paar hundert Meter knirschen in den Muskeln wie Sand
zwischen den Backen, aber dann finde ich den ersten Wegweiser mit Jakobsmuschel, und mein Herz schaltet in den Rallyegang. Endlich geht’s weiter…
copyright
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Donnerstag 14. Juli 2011, 08:28
von Bernardo
Letztes Jahr bin ich einen kleinen Teil des Jakobsweges gegangen.
In Asturien .... und in Galizien.
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Mittwoch 17. August 2011, 18:36
von ifugao
Ich würde mir auch wünschen ihn einmal laufen zu können.
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Mittwoch 17. August 2011, 18:37
von ifugao
Was denn noch?
Camino28
Es ist der erste Oktober, und weiß nicht, was mir hier noch
alles passieren soll! Der ganze Tag ist echt kalt, feucht, diesig, auch in
Spanien wird’s Herbst. Irgendwann am späten Vormittag stelle ich Manni das
Mammut, meinen Rucksack, vor einer kleinen Bar ab, setze mich in die Bar und
trinke zum Aufwärmen einen heißen Kakao, als mehrere sehr merkwürdige Gestalten
im Nieselregen aufgeregt um Manni herumtanzen. Ein total supergedresster
Radsportler steigt von seinem Superrennrad, kommt in die Bar und strahlt mich
mit einem Tausendwattleuchtsupergrinsen an. Er ist Reporter von „Television
Asturias“, macht eine Reportage über den Camino del Norte, und kann keine
Pilger finden. Na klar, morgens um elf in Spanien, da sitzen alle Pilger in der
Bar, zum letzten Kakao oder zum ersten Bier des Tages. Ob ich mit nach draußen
zum einem Interview kommen wolle? Gesagt, getan, es geht vor die Tür, wo ein
Kamerateam mit Tourbus und zwei schweren Motorrädern als Begleitung stehen.
Alle sind froh, einen Pilger, der nicht sofort bei ihrem Anblick im Gebüsch
verschwunden ist, gefunden zu haben. Das Interview ist bescheuert und schnell
vorbei, und am Abend bin ich nicht nur in der Herberge von Baamonde, sondern auch noch im asturischen Fernsehen. Patrick, der Paradepilger, meine Güte!
Am frühen Nachmittag komme ich an, und die Alberque ist,
besonders nach dem Betonbunker von gestern, eine der gemütlichsten Unterkünfte
meiner gesamten Reise. Kaminecke, Sofas, Blumengarten, Küche, herrlich. Die
Herberge wird in ihrer Schönheit nur noch von der Rezeptionistin übertroffen,
die sich leider nicht von mir zu einem Tee einladen lässt. Meine spanischen
Mitpilger Jo., C. und M. trudeln auch ein, und während Jo. seine Suppe anbrennen lässt, erkunde ich den Ort.
Während in mir noch die Meinung reift, hier sei nix los
auf’m Hof, nicht mal Schwof, kommt ein netter Opa auf mich zu und fragt mich,
ob er mir sein Museum zeigen darf. Na klar, Opa hat ein Museum, man gönnt sich
ja sonst nichts. Aber ich hab‘ gerade nichts zu tun, ich bin kein kleiner Junge
mehr, dem ein lieber Onkel ein Kaninchen zeigen will, und der Opa ist auch
nicht Norman Bates mit seinem Motel, also komme ich mit. Zuerst halten wir an
einer uralten Kastanie an de Kirche, in die überall Schnitzereien eingearbeitet
sind, und da das dieser Opa gemacht hat, werde ich ganz langsam neugierig auf
sein Museum. Dort angekommen schiebt er nicht nur ein Tor auf, sondern auch
mich hindurch, und ich stehe sprachlos in einem wahren Zaubergarten. Überall
stehen Granitskupturen, superrealistische Tiere wie Rehe und Biber, Türme, ein
Thron, eine Santa Lucia, eine schlafende supersexy Venus, eine Heilige Familie,
eine kleine Kapelle, Wahnsinn! Danach führt er mich ins Haus, wo seine Holz-
und Metallarbeiten stehen. Opa entpuppt sich als einer der herausragenden
Bildhauer sakraler Kunst Spaniens, Victor Corral. Wir unterhalten uns
französisch. Wenn am Camino irgendwo Jakobusstatuen aus Granit stehen, sind die
garantiert von Ihm! Sein größter Christus ist vier Meter hoch, sein kleinster
Engel vier Millimeter klein. Seine Schnitzerei „Hunger“ drückt so viel Leid
aus, dass es mir Tränen in die Augen treibt; eine Skulptur von einem Mann mit
einer rauchenden Pfeife erfüllt mich mit tiefster Ruhe. Kamera habe ich leider keine dabei, aber dieses Gefühl kann man sowieso nicht festhalten.
Nach einer sehr ruhigen Nacht geht es weiter nach Miraz,
hier soll es die einzige englische Herberge, geführt von der „Fraternity of St.
James“, geben. Na, da kann ich vielleicht mal wieder mit jemandem in einer
Sprache, die ohne wilde Gebärden auskommt, reden. Auf dem Weg dorthin empfiehlt
der Pilgerführer einen weiteren gastfreundlichen Bildhauer. Mittlerweile forsch
pilgere ich irgendwann vormittags in seine weit offene Werkstatt, in der laut
scheppernde Flamencomusik ein wildes Pingpingping von Hammer und Meißel kaum
übertönt. Er meißelt eine Flasche. Aus Glas. Mit einem Hammer. Und einem
Meißel. Ein Ping von mir und er bräuchte eine neue Flasche, stattdessen bedeckt
er die ganze Flasche mit einem Gewirr von Symbolen der Tempelritter. Wenn er
nicht gerade Flaschen meißelt, malt er Aztekengötter auf Holz. Und singt dazu Flamenco.
Übrigens, das wichtigste Symbol der Templer ist nicht dieses
allseits bekannte Luftwaffenkreuz, sondern dieses schiefe T, der griechische
Buchstabe Tau, der gleichzeitig auch noch ein wichtiges Symbol der Jakobuspilger
und DAS Symbol der Bruderschaft von Taizé ist. Schön, dass ich nicht an Verschwörungstheorien glaube.
Auf diesem Tagesweg überwinde ich die Entfernungsmarken 111,111
und 100, was bedeutet, dass ich keine einhundertelf Kilometer und einhundertelf
Meter, auch keine einhundert Kilometer mehr von der Kathedrale von Compostela
entfernt bin. Es geht in die Zielgerade! Die Friedhöfe hier sind sehr berühmt
und sehenswert, gigantische Granitmausoleen mit Schrankfächern, in die die
Toten gelegt werden. Der Aufwand wäre es wert, den Lebenden geschenkt zu werden,
aber die bekommen noch nicht einmal Blumen. Interessant auch, dass die
Todesanzeigen hier nicht in der Zeitung stehen, sondern als einzelne Blätter an
Bushaltestellen und Kneipentüren geklebt werden. Eben dorthin, wo sich die Verstorbenen meistens aufhielten und wo die besten Freunde meistens sind…
So liebevoll, wie ich in der englischen Herberge empfangen
werde, wurde ich seit Ernesto und Güemes nicht mehr begrüßt. Die Mitglieder der
Bruderschaft, im Moment eine Schwester und zwei Brüder, machen hier einige
Wochen Dienst, dann kommen die nächsten. Und es ist wunderbar, sich wieder
fließend mit jemandem zu unterhalten. Da es hier in weitem Umkreis absolut
nichts außer einer Kirche und einer Kneipe gibt, verkaufen sie Nahrungsmittel
in Pilgerrationen, also zwei Kartoffeln, ein Ei, eine halbe Karotte, und so
weiter. Jo. ist gespielt beleidigt, dass ich nur ein Boccadillo, also ein
belegtes Brötchen, essen will, und lädt mich zum Essen ein, zu dem ich gerade
noch zwei Dosen Michaelisbräu und zwei griechische Joghurt beisteuern kann. Es
gibt Ensalada (Salat), Sopa (angebrannte Suppe), und Tortilla con Patatas
(Omelette mit Kartoffeln), und die drei Spanier adoptieren mich endgültig. Ein
dänisches Ehepaar kommt dazu, er ist auch noch Gärtner, und beide sind froh,
ihre Deutschkenntnisse an mir zu trainieren. J. und G., die nach ein paar
hundert Kilometern getrennter Wege wieder zusammen pilgern, melden sich endlich
wieder; sie werden einen Tag nach mir in Santiago eintreffen, und wir
verabreden uns zu Mittag vor der Kathedrale. Sogar das Münztelefon funktioniert
nach Hause. Kurz vor Einbruch der Nacht steht ein Regenbogen am Himmel. Danach
wird der Himmel schwarz, morgen soll es wohl regnen. Na, was soll denn jetzt noch kommen…
copyright
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Mittwoch 17. August 2011, 21:52
von ifugao
Camino29 Kontraste
„Just to get something warm into the kids!“ sagt der
englische Bruder, als ich in die Küche der Herberge komme und das Frühstück
bestaune. Es gibt Röstbrot mit Marmelade oder Jelly, Obst, Milchkaffee oder
Breakfast-Tea. Vor zwei Tagen bin ich noch von einer städtischen Putzfrau nicht
nur aus dem Bett, sondern auch aus der Unterkunft geschmissen worden, und jetzt
so ein Frühstück. Zum richtigen englischen Frühstück fehlen zwar noch Fabadas Y
Tomatas (Baked Beans) und fritiertes Weißbrot (Toast), dazu Scrambled Eggs
(Huevos revueltas), und es ist wieder einmal Zeit, das Portemonnaie (Borsa) in
die Spendenurne zu leeren. Wieder amüsieren sie sich über den Pilger, der
seinen eigenen Teapot mitschleppt; „I filched it from my beloved grandma when I
was eighteen, and now it’s everything I have from her. I have it with me on
almost every journey.“ Aber auch das schönste Frühstück geht einmal zu Ende, und es Zeit, wieder dem Weg zu begegnen.
Nach einem Blick vor die Tür stopfe ich alle Klamotten in meinen
treuen Rucksack Manni, und trage außer der Regenkleidung nichts außer einem
Funktionsslip (Ropa Supertecnika), da bei so einem Regen sowieso das Wasser
auch an der Innenseite der Kleidung entlangläuft. Ich hab dann zwar am Tag
keinen nasskalten Stoff an der Haut kleben und am Abend trockene Sachen, kühle
aber sofort aus, wenn ich stehen bleibe. Auch ist es so nass, dass ich kein
Audiobook (Hörbuch) auf meinem Player hören kann, und ich falle irgendwann in
einen tranceähnlichen Zustand, weiter, immer weiter, weiter. Es gibt keine Bar,
die warm und gemütlich aussieht, keinen Supermarkt, nichts bis Sobrado los
Monxes, welches in 27km Entfernung liegt. Am Morgen regnet es Bindfäden, guter
Landregen, der Gärtner und Maurer Feierabend machen lässt. Ich laufe. Bis zum
Mittag nimmt der Regen immer stärker zu. Ich nehme mir vor, am Felsen am Ende
der Welt die Vier Winde und den Regen anzubrüllen, das ER, der sie auf den Weg
geschickt hat, auch mich auf den Weg geschickt hat, ihnen zu widerstehen. Und laufe weiter. Das
stört einen der Vier Winde, und der Regen kommt die letzten acht Kilometer von
der Seite. Am Nachmittag bin ich ohne Pause und am Stück 27 Kilometer in
fünfeinhalb Stunden gelaufen, und belohne mich mit einem Hotelzimmer mit Badewanne.
Eine BADEWANNE! So sieht also das Paradies aus…
Im Treppenhaus des Hotels kommen mir „Schau mal wer da ist!“
D. und L. entgegen. Sie müssen schon wieder Pause machen, weil einer von ihnen
krank ist. Leider bin ich viel zu erschöpft, länger mit ihnen zu reden, und
leider war dies das allerletzte Mal, dass ich sie getroffen habe. Das
Zisterzienserkloster, das dem Ort den Namen gab, erweist sich als gigantischer
und heruntergekommener Granitkomplex, der einfach nur Kälte ausstrahlt. Die
dazugehörige Pilgerunterkunft ist überraschend gemütlich, und wohl fünfzehn
Pilger drängen sich um einen einzigen Heizlüfter. Der Geruch erinnert mich an
die Heimat meiner Kindheit. Nein, nicht weil’s so heimelig wäre. Meine Mutter hatte fünf Hunde.
Der im Pilgerführer angepriesene gesungene Vespergottesdienst
schreckt mich maßlos ab. Es nehmen 10 Pilger, 8 Einheimische und 24 Mönche
daran Teil. Diese spulen desinteressiert und gelangweilt ihr Programm in 40
Minuten ab und gehen wieder. Vielleicht liegt es an meiner Erschöpfung, an
meinem kaputten Stuhl, an der Kälte des Raumes, oder daran, dass ich nichts von
diesem ganzen Ablauf verstehe, aber sollte ich einmal Mönch (Bruder Tuck) werden müssen, würde ich Franziskaner.
In der Pilgerbar treffe ich auf meine Pilgertruppe der
letzten Tage, und ihr herzliches Willkommen entschädigt mich schnell.
Miteinander vertreiben wir den Regen des Tages aus unseren Herzen. Die Unwetter
draußen legen die Stromversorgung des ganzen Ortes lahm, auf einmal ist es
stockfinster, bis die Wirtin, gesegnet sei ihr Name und ihr Vorname, das ganze
Lokal mit Kerzen erleuchtet. Hmm, die sollte mal die Vesper leiten! Aufgrund
des Stromausfalles gibt es nach dem Nachtisch keinen Kaffee, sondern Liquor de Herbas auf Eis, und mir wird richtig warm. Noch 60 Kilometer bis Santiago!
Arzua, das nächste Etappenziel, ist einer der wichtigsten
Knotenpunkte der Jakobswege. Hier laufen Norte, Primitivo, Frances, und Via de
la Plata zusammen. Dazu kommen die Kurzstreckenpilger, die nur die letzten
100km laufen, und ich befürchte schon lange ein ziemliches Gewimmel. Ich komme
über eine Nebenstraße nach Arzua hinein, biege um eine Ecke, und bleibe
geschockt und wie angewurzelt stehen. Hunderte Pilger traben die Hauptstraße
entlang, sitzen an jedem Tisch der zahlreichen Bars und Cafés. Diese Stadt
scheint aus Cafés, Alberques und Souvenirläden zu bestehen, und alles ist
voller Pilger. Ich bekomme mit Müh und Not noch ein Bett, dabei ist Mittag kaum
vorbei. Die Preise sind astronomisch. Besonders schlimm sind die Tourigrinos,
Touristenpilger, die vier bis fünf Tage lang pilgern, abends ihren nächsten
Herbergenplatz telefonisch reservieren, ihr Gepäck mit dem Taxi vorausschicken,
und in frisch gestärkter Wanderkleidung mit Bügelfalte vor den Häusern sitzen und
jammern, als hätten sie nicht 15, sondern 50km bewältigt. Nach fast 800km und sechs Wochen Beschaulichkeit ist das alles ein Schock ohne Gleichen.
Vor Jahren habe ich einmal einen schweren Schlag mit einem
Gummihammer gegen die Stirn bekommen, und genauso benommen wie damals torkele
ich durch die Stadt. Auf einem Platz torkelt mir ein genauso benommener Jo.
entgegen. Wir klammern uns aneinander wie Hänsel und Gretel im Wald, und finden
eine beinahe ruhige Cantina mit einem brauchbaren Pilgermenu, Jo. konnte noch nicht einmal eine Suppe anbrennen lassen.
Nach einer unruhigen Nacht stehe ich früh auf und laufe in
voller Finsternis los. Draußen bewegt sich eine lockere Menschenschlange in
Richtung Santiago, jetzt schon. Immer wenn ich mich an die Dunkelheit gewöhnt
habe leuchtet jemand mit einer Taschenlampe herum. Langt Euch der Vollmond
nicht? Auf einmal ruft vor mir jemand „Willi, wink doch emol!“ Hinter mir „Ja
Schorsch, winkewinke!“ und Schorsch brennt mir aus zwei Metern Entfernung mit
einem Photoblitz die Netzhaut aus. Nur bedingt freundlich tue ich ihm meinen Unwillen
kund. Seine Antwort ist: „Wieso, war doch nur ganz kurz!“ Das haben Blitze so
an sich, oder? Wenn er mich nochmal anblitzt braucht er das Buch „Pilgern ohne
Kniescheiben“. Und das bringt jetzt das Fass zum überlaufen, ich hab‘ die Nase
voll, absolut. Ich will nur noch zum nächsten Bus und zum Flughafen. F*#k
Santiago, F*#k Camino, mir ist f*#kegal, dass ich 30km vor dem Ziel bin, ich will nicht mehr, ich will heim.
In der Hoffnung, vor mir eine ruhigere Zone zu finden, lege
ich den Rallyegang ein und lasse meine Wut am Weg unter mir aus, nach den
Wegweisern laufe ich mehr als acht Kilometer in einer Stunde, gutes
Joggertempo. Der Camino nimmt es mir nicht übel, und erweist sich mir als guter
Freund. Er schenkt mir eine pilgerfreie Zone, keine Bushaltestelle, und die
merkwürdigste Begegnung meiner ganzen Pilgerreise. Mitten in der Wildnis steht
eine Frau am Weg, in Zivilkleidung, kein Wandereroutfit, kommt auf mich zu,
neigt den Kopf und überreicht mir mit beiden Händen zugleich einen Keks. Dann
sagt sie „Buon Camino!“, dreht sich um und geht weg. Buon Camino! Das
fühlt sich an, als ob mir jemand einen verklemmten Wirbel einrenkt, und in
meinem Kopf macht es laut „Knack“! Der einzige Moment meiner Pilgerreise, an dem ich wirklich abbrechen wollte, ist vorbei. SANTIAGO, ICH KOMME!
Am Wegesrand steht ein Pilgerbüro, in dem ich ein Zimmer in
einem kleinen Hotel achteinhalb Kilometer von der Kathedrale entfernt
reservieren kann, die Herberge, an der ich vorbeikomme ist ein stinkendes
Dreckloch. Den wunderbar ruhigen Abend verbringe ich in Gesellschaft von zwei Norwegern und einer Engländerin, und mehreren Flaschen Rotwein.
beer dulls a mind, brand sets it burning,
but wine is the best for a sore souls yearning
Achteinhalb Kilometer noch, keine zwei Stunden Wanderzeit.
copyright
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Mittwoch 17. August 2011, 22:34
von Peregrin
Bald ist es geschafft!
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Mittwoch 17. August 2011, 23:06
von ifugao
Jepp. Ich sehe mich noch heute mit seiner Frau im strömenden Regen auf einer Anhöhe im freien Feld stehen weil die Handyverbindung so schlecht war um ihm Mut zuzusprechen. Seine Frau fragte sich nach diesem Gespräch ernstlich, ob sie ihren geplanten Flug nach Spanien absagen muß.
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Mittwoch 31. August 2011, 21:58
von ifugao
Camino 30
Santiago
Ich wache kribbelig auf, heute wird das Hauptziel erreicht.
Von Anfang an war Cap Finisterre als Wunschendziel geplant, ich wusste
allerdings nicht, ob die Zeit dazu ausreichen sollte. Nun, Zeit war jetzt mehr
als genug vorhanden, nach Santiago war sollte es noch das Ende der Welt sein.
Aber zuerst Santiago. Für Ausschlafen oder Frühstück bin ich viel zu aufgeregt,
ich will ankommen, von wegen „Der Weg ist das Ziel“, heute ist das Ziel das
Ziel! Ich komme im Dunkeln los, der Himmel ist dicht bewölkt, und während es
langsam hell wird, sehe ich die ersten anderen Pilger. Mein Musikplayer gibt
wieder den Geist auf, und ich genieße die Stille. Drei Kilometer oberhalb der
Stadt ist noch einmal ein gigantischer Herbergenkomplex, von wo aus man den
ersten Blick auf die Kathedrale haben sollte. Unter mir ist allerdings ein
Nebelmeer. Ok, dann halt nicht. Während ich dieses Nebelmeer und ein riesiges
Denkmal photographiere kommen weitere Pilger zu Tage, und ich begreife, dass
die alle mit mir ins Pilgerbüro wollen. Nu, für Sightseeing hab ich später noch
Muße, jetzt will ich meine Urkunde, meine Compostella, haben. Also lege ich
mich noch einmal richtig ins Zeug, volles Pilgertempo.
Und eine halbe Stunde später habe ich das Pilgerbüro gefunden,
es liegt direkt neben der Kathedrale im Obergeschoss eines Hauses, am Ende
eines langen Ganges. Zwei Pilger sind vor mir, nach kaum fünf Minuten bin ich
dran. Ich staune mittlerweile selbst, wie viele Herbergenstempel, einer für
jede Übernachtung, in meinem Pilgerausweis, dem Credential gelandet sind. Die
ganze Zeit habe ich fast nur nach Vorn gesehen, jetzt geht mir erst richtig
auf, was ich hinter mir habe. Die Süße am Schalter schließt in diesem Moment
die Kontrolle meiner Stempel mit einem Lächeln ab, holt ihrerseits aus und
knallt mir den letzten Stempel in meinen Pilgerpass, und wie zum Echo knalle
ich weinend auf den Boden auf. Ich schluchze irgendwelchen Blödsinn zu meiner
Entschuldigung, aber alle Offiziellen lächeln nur, das passiert wohl öfter. Sechs
Wochen unterwegs, drei oder fünf Tage Stadtbummel, primitive Wanzenherbergen,
gute Hotels, tiefste Freunde und totale Kotzbrocken, „Torture and Bliss“ bis
man es nicht mehr aushält, unvergleichliche Gastfreundschaft. Mehr als
achthundert Kilometer zu Fuß. Als ich wieder ohne Hilfe stehen und annähernd
verständlich sprechen kann ist meine Urkunde, meine Compostella, fertig.
Sie ist ausgestellt auf „Patricius Stephanus Harborthus,
Peregrinus“.
Nach den dazugehörigen Photos finde ich ein Einzelzimmer in
der größten Herberge Santiagos, dem Seminario Menores, wo es natürlich auch
gigantische Schnarchsäle gibt. Immer noch verschwitzt geht es zurück in die
Innenstadt und in die Kathedrale, aber eine halbe Stunde vor Beginn der
Pilgermesse ist diese schon voll. Also gehe ich in ein Tattoostudio in der
Altstadt, und lasse mir eine Jakobsmuschel auf den Oberarm stechen. So lange
hat sie mich jetzt geleitet, jetzt will ich sie auch weiterhin ganz nahe bei
mir haben. Andrea mag keine Tattoos, wenn sie dieses sieht muss ich bestimmt
drei Jahre im Gästezimmer schlafen. Dann erst gehe ich duschen und mache eine
Siesta, schließlich muss man Prioritäten setzen!
Santiagos Altstadt ist von der Größe mit Limburgs Innenstadt
oder Rothenburg ob der Tauber zu vergleichen. Wo allerdings bei uns diese
niedlichen Fachwerkhäuser stehen, stehen hier Granitpaläste und –festungen.
Während der Limburger Dom hübsch auf einem Hügel steht, spürt man hier immer
und überall die Präsenz und die Macht der Kathedrale, die als eine der wichtigsten
der Christenheit gilt. Es ist eine Atmosphäre der Unverrückbarkeit, der
Beständigkeit: „Ich habe hier viele Jahrhunderte überdauert, ich werde noch
weitere Jahrhunderte fortbestehen! Und Du?“
Natürlich ist die Altstadt auf Tourismus ausgerichtet, jedes
dritte Geschäft ist ein Andenken- und T-Shirtladen, es gibt Schmuckgeschäfte,
Cafés und Restaurants, Pensionen und Hotels in Fülle und Hülle. Während die
Touristenpilger der letzten hundert Kilometer nervig waren, sind die reinen
Touristen einfach putzig. Eine Busladung nach der anderen trifft auf dem großen
Platz an der Kathedrale ein, alle rennen in die nächstgelegenen Andenkenläden,
und die meisten kaufen sofort ein authentisches Pilgeroutfit: Filzschlapphut
mit Jakobsmuscheln, Filzponcho mit Jakobsmuscheln, Besenstiel mit
Jakobsmuscheln und Flaschenkürbis als Wanderstock. Nach den obligatorischen
Photos geht’s dann schnellstmöglich in das nächste Café, um sich an einem Bier
wieder aufzurichten, Pilgern ist ja soo anstrengend.
Aber dann gibt es ein Wiedersehen nach dem anderen! C. und
M., die beiden Spanierinnen, die mich adoptiert hatten, schleifen mich durch
die Grabkammer des Jakobus und zeigen mir den silbernen Sarg. Mein lieber
Freund Jo. ruft quer über den Platz nach mir, wir rennen aufeinander zu und
umarmen uns, wie das nur Pilger können. Natürlich lassen wir uns von ein paar
Japanern photographieren. Er strahlt mich an und gesteht mir, dass er im
Pilgerbüro weinend aus den Wanderstiefeln gekippt ist, ich berichte ihm lachend
von meiner Bekanntschaft mit den dortigen Holzplanken. Die Schlange vor den Schaltern
dort geht bis weit vor das Haus auf den Platz, die Wartezeit auf die Urkunde
beläuft sich auf wohl zwei Stunden…
Nachdem ich für J. und G., sie wollen morgen eintreffen, ein
Hotelzimmer eingeloggt habe, wird es Abend. Ich laufe meinen beiden Norwegern
aus dem letzten Hotel in die Arme, und lasse mich abschleppen. Sie haben sich
mit genau dem dänischen Ehepaar verabredet, mit dem ich auch schon einige Tage
gegangen bin, und die wiederum drei andere Dänen mitschleppen. Das
Sprachenchaos ist fast so wild wie die Stimmung! „Hey! Wir haben einen Freund
mitgebracht!“ „Hey, das ist doch Patrick! Hey Patrick!“ „Hey, Ihr kennt
Patrick?“ Verrückt, alle kennen Patrick, hey! Und alle bewundern mein
Pilgertattoo, ich bin ein Held! Während wir einen Tisch mitten auf der Straße
fest in skandinavische Okkupation bringen (Wikinger an die Macht, Für Thor und
Odin!) und ordentliche Mengen Irish Cream spanischer Fertigung und das
obligatorische Michaelisbräu vertilgen, kommt eine große Meute singender
Studenten vorbei. Zu Hause feiern die Studenten das Semesterende mit
Zuhilfenahme höherwertiger Kohlenwasserstoffe flüssiger Art und
euphorisierender Kräuter, deren Rauch sie atmen, hier feiern die Studenten den
Semesterbeginn mit superkomplizierten Frage-Antwort-Gesängen in Tonleitern, die
uns total fremd sind, dabei sind meisten von uns Musiker. Nachdem wir die
Frage, ob das nun myxolydische oder hypophrygische Skalen wären, ausführlich
und uneindeutig in fünf Sprachen gleichzeitig ausdiskutiert hatten, packt einer
seine Bluesharp aus, und wir machen unsere eigene Musik, singen und trommeln so
laut, das die Gläser vom Tisch fallen. Auf dem Weg in die Herberge komme ich an
einem großen Sportplatz vorbei, an dem sich mittlerweile viele Hundert
Studenten zusammengefunden haben, sie singen bis in den frühen Morgen hinein.
Der zweite Vormittag in Santiago vergeht mit Sightseeing,
und fast eine Stunde vor Beginn der Messe finde ich einen Sitzplatz auf dem Boden
mit einer Säule zum Anlehnen. Eine junge Nonne mit schöner Stimme versucht den
Besuchern die Lieder des folgenden Gottesdienstes beizubringen, und schafft das
sehr gut, ohne zu „Schwester Drillsergeant“ zu werden. In dieser Messe sehe ich
meine Pilgermeute der letzten Wochen zum letzten Mal, alle reisen heute oder
morgen ab. Vom Limburger Dom ist eine Pilgergruppe mit dem dortigen
Chefpriester angekommen. Ich hab‘ die Rangfolgen nie verstanden; in einem Dom,
ist das ein Kardinal oder ein Bischof? Und was ist der Unterschied zu einer
Kathedrale oder einem Münster, wer residiert da? Im Petersdom sitzt Papa Ratze,
wenigstens das konnte ich mir merken. Schließlich sind wir Papst!
Bei uns zu Hause kommt der Katholizismus eher wie ein
gemütlicher Folkloreverein daher, es gibt Riten, die nur schwer zu verstehen
sind, man schaut es sich zu besonderen Anlässen an, und schert sich ansonsten
kaum darum. Hier in Santiago braust ein Sturm, hier ist Macht in der
Kathedrale. Die Lieder werden von mehreren Tausend Stimmen getragen, und ein
Ave Maria, in einer vollgestopften Kathedrale gesungen, erschüttert mich wie
kein Rockkonzert der letzten Jahre. Der Boden vor dem Altar wird rigoros
freigeräumt, um Platz für eine große Kindergruppe zu machen. „Macht Platz für
die Kinder, sie sind unsere Zukunft!“ ertönt es in wohl zehn verschiedenen
Sprachen. Das hätte ich gern auch in unseren Gottesdiensten, wo Kinder nur zu
Taufen und zu Weihnachten dabei sind. Die Schriftlesungen und Segensgebete
werden kurzerhand von den Kindern in catalanischer Sprache vorgetragen. Die
Liturgie wird dann aber von Hauptamtlichen auf Latein gehalten, die Predigt
allerdings in Deutsch, und zwar vom Limburger Domchef. In ihr wird der
Märtyrertod des Jakobus mit dem Kreuzestod Jesu verglichen, und dabei wird mir
doch unwohl. So was geht wohl auch nur im Zentrum der Jakobusverehrung. Den
Limburgern zu Ehren wird dann auch der größte Weihrauchschwenker der Welt
angefacht, und von sechs Priestern, so breit wie Türsteher, immer höher fast
bis an die Decke geschleudert. Bei jedem Schwung dieses Pendels, Edgar Allen
Poe hätte seine wahre Freude daran gehabt, rufen alle zusammen immer lauter
HUIII, und am Ende wird laut geklatscht, ja Wahnsinn aber auch, die Kirche
tobt! Diese Hingabe und dieser Glauben durch so viele Jahrhunderte sind, was
diesen Ort zu etwas so besonderem macht, ihn heilig macht, egal, ob hier im
Keller im silbernen Sarg tatsächlich DER Apostel Jakobus oder ein Ziegenhirte
aus dem sechsten Jahrhundert liegt.
Aber letztendlich ich versteh’s ich nicht, ich bin ja nur
ein kleiner baptistischer Ketzer, der immer die falschen Fragen stellt. Ich
verstehe ja noch den Weihrauchschwenker, der den Geruch vieler Pilger, die sich
seit Wochen nicht richtig waschen konnten, überdecken soll. Ich habe auch
Vorbilder, denen ich nachstrebe, zum Beispiel der Apostel Johannes oder
Franziskus von Assisi, aber ich verstehe die Heiligenverehrung nicht, nachdem
ich so lange mit Jesus allein glücklich bin, oder warum ich die Vermittlung
eines Fremden brauche, wenn der liebende Gott selbst mir so nahe ist. Ich
verstehe, dass Christentum eine Gemeinschaft bedeutet, und dass ein Stoßgebet
allein im Wald nicht genügt, es sei denn ich wollte mich vom Oberförster
beerdigen lassen; aber ich verstehe nicht, warum ich als Mitglied einer solchen
Gemeinschaft unzählige Benimmregeln ohne Bezug zu Gottes Liebe im Sammelpack dazu
buchen muss. Ich verstehe nicht, wie und warum ich durch bestimmte Aufgaben die
Sünden von verstorbenen Verwandten gesühnt bekommen kann, ich verstehe ja kaum
Schuld, Buße und Sühne für mich, geschweige denn was Sünde eigentlich ist, und
warum ich dafür Vergebung brauche. Ich versuche das in Einklang zu bringen mit
einer Kirche, die ich sehr bewundere und respektiere, und mit noch einigen
anderen Kirchen, merke aber, dass ich noch viele Kilometer Pilgerweg brauche,
um darüber nachzudenken.
Ach ja, und es ist hier gerade Heiliges Jahr, das bedeutet,
ich bekomme wie ein Hadschi in Mekka alle Sünden vergeben. Dazu soll ich durch
eine besondere Tür in die Kathedrale gehen, ein Vaterunser für den Papst beten,
ein Glaubensbekenntnis sprechen und zur Beichte samt Kommunion gehen. Durch die Tür bin ich
gegangen, und ein Gebet für den Papst spreche ich gern, nie war es so wertvoll
wie heute. Das Glaubensbekenntnis spreche ich allerdings schon seit vielen
Jahren nur noch von „Ich glaube an Gott den Vater…“ bis „Ich glaube an den
heiligen Geist!“, der Rest will mir irgendwie nicht mehr über die Lippen. Zur
Beichte muss ich nicht gehen, schließlich bin ich Baptist!
copyright
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Donnerstag 1. September 2011, 00:24
von ChrisCross
Das Glaubensbekenntnis spreche ich allerdings schon seit vielen
Jahren nur noch von „Ich glaube an Gott den Vater…“ bis „Ich glaube an den
heiligen Geist!“, der Rest will mir irgendwie nicht mehr über die Lippen.
Ich suche mir auch gerne aus, was ich glaube.
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Donnerstag 1. September 2011, 13:09
von Paul Heliosch
(die Lücken im Glauben füllt der Wille)
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Sonntag 4. September 2011, 22:04
von ifugao
Paul Heliosch hat geschrieben:(die Lücken im Glauben füllt der Wille)
Ist es nicht eher die Gnade?
Wie dem auch sei.
Allen einen gesegneten Restsonntag.
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Montag 5. September 2011, 01:16
von ChrisCross
ifugao hat geschrieben:Paul Heliosch hat geschrieben:(die Lücken im Glauben füllt der Wille)
Ist es nicht eher die Gnade?
...
Kommt ganz darauf an, ob du sie wirken lassen
willst oder nicht
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Dienstag 13. September 2011, 00:51
von ifugao
Nach jedem Gottesdienst bei uns heisst es:
"Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die trostreiche Gemeinschaft des Heiligen Geistes, sei und bleibe mit uns."
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Dienstag 13. September 2011, 00:52
von ifugao
Camino 31
Wiedersehen mit Katerstimmung
Die Ankunft in Santiago versetzt uns in einen Rausch, aber
für jeden Rausch muss man mit einem Kater bezahlen. Ich habe mich mit J. und G.
vor der Kathedrale verabredet, und während ich warte, kommt mir diese alte Geschichte aus dem Gedächtnis hoch:
Was wäre, wenn vor dieser Kathedrale ein Raumschiff landete,
Aliens würden aussteigen und fragen: „Uns
wurde gesagt, der Schöpfer des Universums habe seinen Sohn hierhergeschickt!
Könnt ihr uns davon berichten?“ Wie wäre wohl die Antwort? Etwa so? „Ja
das ist tatsächlich passiert, er lebte hier als einer von uns, und hat uns
gezeigt, wie man in Liebe gut miteinander leben kann!“ „Und dann?“ „Dann haben wir ihn zu Tode gefoltert! Aber wir
stellen überall künstlerisch wertvolle Dioramen davon aus, so auch hier! Und
wir streiten uns seit langer Zeit, wem wir dafür die Schuld in die Schuhe schieben können!“
Auf solche Gedanken kommt man auch nur, wenn man wochenlang
auf ein Ziel hingearbeitet hat, und nach Erreichen des Ziels alle aufgebrachte
Motivation verfliegt. Nachdem wir vor verschiedenen Toren an verschiedenen
Seiten der Kathedrale vergeblich gesucht haben, finden wir uns dann aber doch
noch. J. rennt mir samt Rucksack in die Arme, und wir sind so laut, dass sogar
andere Pilger dumm gucken. Kurz darauf steht G. vor mir, seine Wanderstöcke
liegen auf dem Boden. Ich frage ihn noch: „Ey Alter, warum liegen Deine Stöcke
auf dem Boden?“ Er schreit: „Damit ich Dich besser anspringen kann!“ und
springt mir mit voller Wucht in die Arme. Viel Wucht ist es nicht, der Camino
Primitivo hat ihn wohl auch noch das letzte Gramm Körperfett gekostet. Ich habe
bisher über zwölf Kilo Körpergewicht verloren, aber ich hatte auch genug davon,
G. nicht! Wo hat der nur diese Ausdauer hergenommen? Es ist ein unglaubliches
Gefühl; wir haben uns vor Wochen getrennt und hier verabredet, und haben es
tatsächlich geschafft, uns zu treffen. So viele Menschen habe ich in dieser
Zeit kennen und lieben gelernt, und nicht wiedergesehen, und gerade die, mit denen
ich den Anfang des Weges und die schlimmsten Strapazen geteilt habe, treffe ich
jetzt wieder. Auch die gemeinsame Wanderung ans Ende der Welt, wovon wir vor Wochen nur geträumt hatten, scheint nur noch eine Frage der Organisation.
Sie kommen zu sechst an. Dabei sind noch ein Pärchen aus
Spanien und zwei englischsprachige Mädels. Die Spanierin ist sehr still, ihr
Partner macht Blödsinn für zwei, und hat eine Spongebob-Schwammkopf-Puppe an
seinem Rucksack. Eine Spongebobpuppe! Wie infantil! Ich werde vorgestellt als
der Pilger, der eine Patrick-Star-Puppe an seinem Rucksack hat. Hey, das ist
doch etwas gaaanz anderes! Die beiden englischen Mädels geben sich beim
späteren Pizzaessen besonders sprachgewandt. Nachdem ihnen niemand die gesamte
Speisekarte übersetzen will, kommen Fragen wie: „Could you please translate
Pizza Salami?“ „In english
this would be Pizza Salami!“ „Really? Oh thank you!“ Ok, irgendwie nicht so ganz meine Altersgruppe…
Am nächsten Tag sind wir dann wieder zu dritt, J., G. und
ich; Pilgertussi, Pilgerpimpf und Pilgerpapa. Beide buchen ihren Heimflug, und
wir merken, dass wir nicht nur genug Zeit für den gemeinsamen Weg ans Ende der
Welt haben, sondern auch noch ein paar freie Tage extra. Santiago bereitet sich
auf einen besonderen Nationalfeiertag vor, die Feier zur Rückeroberung Spaniens
von den Mauren, deren Schutzheiliger Jakobus war. Nachdem wir im total
ausgebuchten Santiago stundenlang im strömenden Regen bis in die Nacht freie
Unterkünfte suchen und nicht finden, entschließen wir uns spontan für einen Dreitagetrip nach A Coruña, eine Stadt, die mich schon lange interessiert.
Auch J. und G. haben danach einen schlimmen Durchhänger und
wollen ausschlafen, ich will schnell los und sitze schon im frühen Eilzug. Kaum
aus dem Bahnhof heraus kommen zwei Herren in schlecht sitzenden Anzügen auf
mich zu und wollen mit mir über den Glauben reden. Sie können kaum verstehen,
dass ich für dieses Gespräch weniger Interesse als für den Weg zu einer
günstigen Pension zeige, und sind, im Gegensatz zu mir, traurig, dass sie mir
keinen deutschen Wachturm geben können. Da sie mir aber auch keine billige
Unterkunft weisen können, kümmert mich das wenig. Ich finde trotzdem eine, beziehe
ein Zimmer, und buche ein zweites für die anderen Beiden. Bis sie ankommen habe
ich mich schon in diese Stadt verliebt. A Coruña ist geräumig, geschäftig,
nicht so erdrückend wir Santiago, und die Sonne scheint auf den herrlichen
Kiesstrand. . A Coruña ist ein Name, den man brüllen muss, und ich brülle ihn
laut, als ich in die mehrere Meter hohen Wellen renne. So lange bin ich am Meer
entlanggepilgert und konnte nicht ins Wasser. Es ist unangenehm, zehn bis
fünfzehn Kilometer zu laufen, während man Sand in den Stiefeln und Salz in
jeder Ritze hat. Also reiße ich mir hier endlich alle Klamotten vom Leib und
renne ins Wasser. Es sind die brutalsten Wellen, in denen ich jemals
geschwommen bin, und ich komme nur schwer wieder ans Ufer. Auch kann ich das
Ufer kaum sehen, habe ich doch in meiner Gier nach Meer vergessen, meine Brille
abzulegen, was wohl bis in alle Ewigkeit für allgemeine Belustigung sorgen
wird. Aber auch G. erwischt es: „Die Wellen kommen bestimmt nicht bis hierherSWOOOOSCH!“
Wir erholen uns, waschen alle Kleidungsstücke, gehen auf
Flohmärkte und ins Kino, und versuchen, in einer sehr hellhörigen Pension gut
zu schlafen. Irgendjemand duscht um zwei Uhr morgens und singt dabei aus voller
Kehle „I’m siiiiinging in the Raiiiiin…“, nur übertönt von anderen
Zimmernachbarn, die seit dem Nachmittag laut stöhnend für einen Pornofilm zu
proben scheinen und nie aus dem Zimmer kommen, ab und zu eine halbe Stunde
Pause machen und dann von neuem laut grunzen (Sie: Si, Si, Si, Siii! Er: Grunz!
Sie: SI! Sisisi Siiii! Er: Grunz!). J. und G. bieten mir an, in ihrem Zimmer zu
schlafen, aber nach dem ausgiebigen Besuch in einem irischen Pub macht mir auch
das Gestöhne nichts mehr aus. Ich genieße diese Stadt, das offene Stadtbild,
das vielfältig Essen jenseits von Pilgermenues und McSalat, und die Sonne, die
mir endlich wieder die Seele wärmt. Es gibt sogar eine Bimmelbahn, mit der ich
eine Stadtrundfahrt machen kann, oh ich liebe es! In diesem riesigen Hafen hat
einmal die gesamte spanische Armada gelegen, auf dem Weg nach England, es zu
erobern, oder auf dem Weg zurück, nachdem Sir Francis Drake (Errol Flynn, ich liebe ihn) die meisten Schiffe angezündet hatte.
Andrea wird Ende der Woche nach Santiago geflogen kommen,
und in der Woche, die wir dann zusammen noch haben werden, muss ich ihr diese
Stadt zeigen! Aber bis dahin haben wir noch ein Mal wohl gute einhundert
Kilometer zu bewältigen, und der Weg ruft ein letztes Mal. Ich kann’s kaum erwarten…
copyright
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Dienstag 16. Juli 2019, 07:43
von Maja
Eine Hochschule in Berlin hat ein Jakobsweg-Forschungsprojekt:
https://www.medicalschool-berlin.de/for ... jakobsweg/
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Dienstag 16. Juli 2019, 11:02
von Niels
Ist das wirklich echt oder ein (fast) gut gemachter Scherz?
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Dienstag 16. Juli 2019, 19:21
von Caviteño
Niels hat geschrieben: ↑Dienstag 16. Juli 2019, 11:02
Ist das wirklich echt oder ein (fast) gut gemachter Scherz?
Warum sollte das ein Scherz sein? Das wird doch schon seit einigen Jahren gemacht:
Zuletzt führte Prof. Braun an der BSP Business School das Projekt „Geschäftsmodell Jakobsweg – Zwischen Kommerz und Spiritualität“ durch. Neun Studierende und zwei Begleiter wanderten und forschten 14 Tage auf dem Jakobsweg zwischen Astorga und Santiago. Auch 2017 wird das Projekt wieder stattfinden.
https://www.businessschool-berlin.de/ho ... eas-braun/
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Freitag 11. September 2020, 10:56
von peetra123
Ich bin auch vor 5 Jahren mit drei Bekannten den Jakobsweg gegangen. Echt eines der besten Erlebnisse bis jetzt. Leider hab ich echt ein bisschen falsch gepackt, aber nachher ist man ja immer schlauer! Deshalb dachte ich mir ich schreib mal ein paar Packtipps rein.
- praktisch sind so Organisierbeutel, dann liegt im Rucksack nicht alles Kreuz und Quer herum
- Mirkofaserhandtücher: trocknen viel schneller und sind klein und leicht
- Waschmittel: in vielen Unterkünften gibt es Waschmaschinen und Trockner
- nicht zu viel Kleidung: kann man alles waschen
- Bücher: hab ich nie gelesen, weil ich keine Zeit hatte oder sonst gibt es das auch in Unterkünften
Vielleicht kann jemand etwas damit anfangen
Re: Erfahrungen auf dem Jakobsweg
Verfasst: Freitag 11. September 2020, 13:59
von Martina
Ich bin den Camino auch gegangen - vor Kerkeling zum Glück, denn danach war es ja nicht mehr Pilgern zu nennen.
Ich habe nach kürzester Zeit alles, was ich doppelt hatte, postlagernd nach Hause geschickt. Ich brauchte eigentlich nur das,was ich am Leib trug, ausreichend Wasser und am Abend eine trockene Unterkunft (es war September und regnete sehr oft und war dann arschkalt im Gebirge). Mit jedem Schritt ließ ich die Probleme, die ich im normalen Leben hatte, noch mehr hinter mir. Am Schluss verstand ich gar nicht mehr, was ich eigentlich gehabt hatte. Und vor allem nicht, wieso ich dauernd so viel Zeug angehäuft hatte.
Ich hatte keine Ahnung gehabt, dass man vorher mit Gewicht (Rucksack) auf dem Rücken trainieren soll, und so hatte ich ab Ponferrada ein schlimmes Knie vom Bergablaufen, obwohl ich ansonsten superfit war und locker 8 Stunden am Stück stramm laufen konnte.
Zum Glück habe ich nicht aufgegeben, sondern bin an Stöcken weiter. Das war die beste Entscheidung meines Lebens, und bald sah ich, dass ich nicht die einzige war. Ich bin trotzdem an manchen Tagen noch knapp unter 30 km weit gekommen. Andere Pilger erzählten mir, dass sie wochenlang trotz Hexenschuss weitergelaufen sind, und eines Tages war er dann weg.
Die Pilger machten sich gegenseitig Mut und forderten andere auf, nicht aufzugeben. Oder wenn man nicht mehr konnte, riefen die, die einen überholt hatten, (in allen möglichen Sprachen) von vorne zu: "Hinter der nächsten Kurve liegt schon die Herberge." Ein Pilger, der abends immer vor mir da war, trat mir 1 Woche lang immer den besseren Platz in den Sammelunterkünften ab. Dann war er wohl in anderen Unterkünften.
Ich hatte unglaubliche Erlebnisse, und zwar an denselben Stellen, wie Coelho seine Erlebnisse hatte. Ich konnte es nicht glauben, als ich sein Buch las, als ich vom Jakobsweg zurück war.
Ein Handy hatte ich natürlich nicht dabei, aber damals gab es auch noch Telefonzellen
.
Santiago dem Compstela war dann ein Kulturschock, mit all dem Lärm, den Bussen voller Pilgern und dass die Kommunion im Pulk ausgeteilt wurde, und die "Kommunionspunkte" im Hof der Kathedrale mit bayrisch-weiß-blauen Schirmen gekennzeichnet waren. Grauenvoll! Am liebsten wäre ich den Weg wieder rückwärts gegangen. Ich musste mich zwingen, mir die Bescheinigung abzuholen. Eine Compostela kriegte ich nicht, weil ich wegen dem kaputten Knie ein Mal den Bus zur nächsten Herberge hatte nehmen müssen, um nicht nachts draußen herumzuirren. Aber das war egal. Ich hatte den schönsten Jakobsweg mit so vielen zutiefst menschlichen Begegnungen, den man sich vorstellen kann.
Ich lese gerne die Erfahrungen anderer, wie es heute ist, auf dem Camino. Ich habe Horrorgeschichten gehört, dass man die Herbergen vorher buchen muss usw. Und meine Vermieterin ließ sich das Gepäck im Bus hinterherkarren - also DAS ist kein Pilgern.