Guten Abend,
ich denke auf deine Frage wirst du - je nachdem ob die antwortende Person eher traditionell oder liberal orientiert ist - ganz unterschiedliche Antworten erhalten.
Grundsätzlich bist du deiner Schilderung nach "biologisch" Jungfrau, so dass ich davon ausgehen würde, dass niemand grundsätzlich deine Jungfräulichkeit in Frage stellen dürfte.
Es gab auch schon Witwen (mit erwachsenen Kindern), die in ein Kloster eintraten, wo (wie allgemein bekannt) auch Jungfräulichkeit gelobt wird. Auch deshalb bin ich persönlich der Ansicht, dass der biologische Aspekt möglicherweise nicht der Zentralste ist - auch nicht in zumindest moderat traditionellen Kreisen.
Die Sehnsucht nach - auch körperlicher - Nähe ist ganz normal und im Menschen so angelegt. Diese Sehnsucht ist bei manchen Personen stärker, und es besteht dann manchmal auch ein stärkeres Bedürfnis nach sexuell-genitalen Erfahrungen, und bei anderen eben schwächer. Und das führt u.a. dazu, dass manche Menschen eine Partnerschaft suchen und Nähe und Sexualität sehr vermissen, wenn sie sie nicht erleben können, und andere nicht.
In der aktuelleren Literatur, die sich mit dem Thema Jungfräulichkeit beschäftigt, wird dieses Bedürfnis nach Nähe inzwischen besser berücksichtigt, als früher, als es gar nicht zum Thema gemacht wurde bzw. wenn dann unter dem Gesichtspunkt des "Versagens", wenn man sich selbst befriedigt o.ä.
Das finde ich schlimm, denn ich denke nicht zuletzt die Missbrauchsskandale oder auch die in diesen Tagen erfolgte Aufdeckung des Kreises an Priestern, die in Rom Kunden eines Call Boys waren (dazu z.B.:
https://www.stern.de/panorama/weltgesch ... 36482.html), zeigen, dass es wichtig ist, offener über Sexualität zu sprechen und auch zu akzeptieren, dass sie ein menschliches Grundbedürfnis ist. Frage ist eben, wie das verantwortungsbewusst gelebt werden kann.
Doch das führt nun etwas von deiner Frage weg. Obgleich ich schon viel zu dem Thema las, ist meine persönliche Hausbibliothek in diesem Bereich eher überschaubar. Was ich in selbiger aber zu diesem Thema gerade fand ist "Himmelreich leben. Die evangelischen Räte - für alle Christen" von Pater Reinhard Körner. Darin schreibt er unter anderem: "Mit einem jungfräulichen Menschen muss nicht in jedem Fall ein sexuell enthaltsam lebender Mensch gemeint sein" (S. 26), "Jungfräulichkeit ist die innere Lebensform, die sich in das Gewand der Ehelosigkeit wie auch der Ehe und jeglicher liebender Partnerschaft kleiden kann" (S. 34). Er beschreibt, dass es bei Jungfräulichkeit vor allem um eine Haltung geht und "jungfräuliche Menschen sind Frauen und Männer, die in Jesus und seinem Gott der großen Liebe ihres Lebens begegnet sind" (S. 36).
Vielleicht ist es auch eine Frage des Gottesbildes. Ich sehe Sexualität in ihrer gesamten Bandbreite, also wenn man darunter z.B. auch Beziehungsfähigkeit, Interesse am und Sorge um den Anderen usw. versteht, als existentielle Grundlage menschlichen Lebens und darum auch als ein Geschenk Gottes an den Menschen. Bei Jugendlichen erlebe ich, dass viele erst herausfinden müssen, wo die eigenen Grenzen sind, die des anderen, welchen Umgang mit Sexualität die eigene Kultur und/oder die Religion vorgibt etc. Und dann, wenn man eine entsprechende Berufung verspürt, auch, wie mit dem Bedürfnis nach Nähe, Beziehung und Sexualität umgegangen werden kann, wenn man z.B. Ordenschrist oder Priester wird. Und ich glaube an einen liebenden und verzeihenden Gott, der diesen Weg mitgeht und darum weiß, dass der oder die Berufene auch mal in die falsche Richtung geht oder gegangen ist. Und ich würde sagen, dass ist auch das Bild, dass Jesus von seinem himmlischen Vater erfahrbar werden lässt.
"Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich unvollkommen, dann aber werde ich durch und durch erkennen, so wie ich auch durch und durch erkannt worden bin." 1 Kor 12