guatuso hat geschrieben:Mein lieber Yeti, genau das empfinde ich als Problem. Zu sagen "Ich hab mir einfach gedacht, dass ein Interessierter die Begriffe selbst heraussucht".
Das ist eine Einstellungssache. Wenn ich so denke, denke ich auch im Unterricht so. Ist das richtig?
Wer das als Schueler nicht kapiert sollte mal goggeln.....
Nicht ganz. Wenn du in der Schule sitzt, bist du dir ja darüber im Klaren,
dass du in der Schule sitzt. Das bedeutet, dass du deine ganzen Gewohnheiten, deine Erwartungshaltungen aus deiner ganzen Schulbiographie mit dir herumschleppst, die jeden Morgen um 8:00 oder 7:45 Uhr automatisch "aktiviert" werden, sobald du die Schule betrittst. Oft sind das aber Gewohnheiten, über die du dir nicht bewusst wirst. Z.B. diejenige, dass du davon ausgehst, dass die Arbeit des Lehrers darin besteht, dir das Wissen über irgendeinen Sachverhalt zu
präsentieren. Klassischerweise eignest du dir dieses Wissen dann an, indem du dir aufschreibst, was der Lehrer an die Tafel geschrieben hat. Vielleicht gehört der ein- oder andere ehemalige Schüler auch schon zu denjenigen, die häufiger Papierkopien bekommen haben und der Lehrer dann den Inhalt z.B. eines Arbeitsblattes noch einmal erläutert. Wenn diese Phase vorüber ist, wird das "gespeicherte" Wissen abgerufen, klassischerweise beispielhaft mit einer Aufgabe. Dabei werden grundlegende Lerninhalte auch gleichzeitig wiederholt. Schritt für Schritt eignet sich der Schüler so den Inhalt einer ganzen Unterrichtsreihe, z.B. über Elektronik in Physik oder über einen textbasierten dialektischen Erörterungsaufsatz an und am Ende der Unterrichtsreihe folgt dann eine Überprüfung. So haben wir alle bisher Schule erlebt. Diesen Unterricht nennt man
"lehrerzentriert" (böse Zungen sagen auch
"Frontalunterricht", weil der Lehrer dafür meist vorne steht). Er kann sinnvoll sein, manchmal ist er auch unerlässlich, z.B. bei der Vorstellung einer neuen Unterrichtsreihe oder -themas, oft auch im Fremdsprachenunterricht.
Hier kommt jetzt mit der Kompetenzorientierung des Unterrichts schon ein
"neues" Element hinzu (und auch wiederum nicht, dazu gleich mehr): Es wird beim Unterricht nicht mehr von
Inhalten und
Wissen ausgegangen, das die Schüler aufzunehmen haben, sondern von
Kompetenzen. Eine Kompetenz ist aber mehr als nur Wissen. Sie ist der
sichtbare Nachweis, dass du das Gelernte auf eine bestimmte Problemsituation anwenden konntest (die Didaktik spricht von einem
"Handlungsprodukt"). So kannst du z.B. nicht nur mündlich oder schriftlich erläutern, was du in Physik über Elektronik weißt, sondern du kannst einen funktionierenden Elektromotor mit Batterien zum Laufen bringen
und in einem Vortrag vor der Klasse erläutern und begründen,
warum er tatsächlich funktioniert und welche Bauteile dabei eine wichtige Rolle spielen. Ebenso beim Erörterungsaufsatz: Du erhältst eine Problemstellung, die in irgendeiner Weise mit deiner Lebensumwelt als Schüler zu tun hat und für die du dich auch interessierst, z.B. ein eventuelles Smartphone-Verbot in der Schule oder eine Kleiderordnung, wie du vorschlägst. Intuitiv (hier gehen die Meinungen in der Pädagogik auch auseinander) - noch ohne vorher irgendwelche Regeln für einen freien dialektischen Erörterungsaufsatz zu kennen - sammelst du komplette Argumente (These, Beleg, Beispiel) für Thesen und Antithesen. Bei beiden Beispielen hast du nun sichtbar gezeigt (das Handlungsprodukt wäre im Fall Physik der Elektromotor, im Fall Deutsch der komplette Erörterungsaufsatz), dass du ein dir gestelltes Problem erstens lösen
willst (Motivation) und aus dir selbst heraus auch lösen
kannst (
weil du es
willst). Bei solchen Arbeitsaufträgen wird oft in Gruppenarbeit gearbeitet, denn so kommen verschiedene Lösungsansätze zur Sprache und idealerweise kann jedes Gruppenmitglied vom anderen lernen (die Gruppengröße spielt dabei eine große Rolle), insofern hast du dann nicht nur
Fachkompetenz sichtbar gezeigt (der E-Motor läuft ja oder der Erörterungsaufsatz enthält idealerweise alle denkbaren Thesen und Antithesen), sondern auch
Sozialkompetenz bewiesen (denn du arbeitest ja mit andern zusammen) und
Personalkompetenz gezeigt (z.B. bei der Auswahl deiner Gruppenmitglieder: Du lernst dabei, dass dein bester Freund vielleicht ein guter Kumpel ist, mit dem man prima abhängen kann, zur Problemlösung aber hat er herzlich wenig beigetragen). Insgesamt hast du damit das Ausmaß deiner
Problemlösungskompetenz gezeigt. Diese Form des Unterrichts nennt man
"Kompetenzorientiert" - stark verkürzt dargestellt. Diese Unterrichtsform geht nicht mehr davon aus, dass einem Wissen
vorgesetzt wird, sondern man muss es sich - in Form von Kompetenzen -
aneignen. Da hierfür wirklich ein höheres Maß an Motivation vorausgesetzt wird, identifizierst du dich auch mehr mit den angeeigneten Kompetenzen und vergisst sie idealerweise auch nicht mehr so leicht.
Ich habe dir nun nicht im Rahmen eines Lehrer-Schüler-Verhältnisses geantwortet. Das ist aber im Grunde auch egal. Denn du bist vor ein Problem gestellt worden (Fremdwörter, Begriffe etc.) und konntest nicht die Motivation aufbringen, diese Begriffe zu recherchieren, weil du das ja auch nicht musstest oder wolltest, denn du bist ja auch kein Lehrer. Als Lehrer ist es aber wichtig, über die (möglichen) Abläufe in den Köpfen der Schüler Bescheid zu wissen, deswegen auch der ganze Theoriekram. Im Prinzip versucht man so, die Abläufe zu erkennen und möglichst auch
"gewinnbringend" zu steuern. Insgesamt hat der Lehrer beim kompetenzorientierten Unterricht nicht mehr die Rolle des
"Wissensvermittlers", sondern die eines
"Lernbegleiters"; das bedeutet, dass zu lehrergesteuerten Unterrichtsphasen mehr und mehr schülergesteuerte Phasen hinzukommen, Sache des
Lehrers im Unterricht ist es dabei, die
Lerngelegenheiten und die
Lernumgebung so optimal wie möglich zu organisieren. Es kommt aber generell dabei viel mehr darauf an, mit welcher Methode man am meisten Schüler aktiviert; (scheinbar) passiv, beobachtend und analysierend und beratend ist (beim schülergesteuerten Unterricht) nur noch der Lehrer. Wärst du mein Schüler, wäre klar gewesen, dass die dir gestellte Aufgabe (nämlich die Recherche nach Fremd- und Fachbegriffen) mit deinem Leben nichts zu tun hat und du deshalb auch nicht die Motivation gewinnen kannst, einen Lösungsweg zu finden. Da du aber nicht mein Schüler bist, muss ich mir diese Gedanken nicht machen, denn du entscheidest selbständig, ob dir die Recherche die Mühe wert ist oder nicht.
Was ist das Ziel des Ganzen? In einem Wort:
Selbständigkeit und
Mündigkeit, im Prinzip also die Maximen der (deutschen) Aufklärung (deshalb ist das Unterrichtsmodell auch nicht wirklich
"neu"). Das ist ein ganz wesentlicher Unterschied zu klassischen Unterrichtsformen (die, wie gesagt, nicht schlecht sein müssen):
Der Schüler entscheidet, wieviel und was er lernen möchte. Deshalb spricht man auch vom
"Lernangebot". Es gibt - vom Lehrplan vorgegeben - einen Kanon der zu erwerbenden Kompetenzen (auch die Lehrpläne werden in den meisten Bundesländern immer mehr kompetenzorientiert formuliert), welche zu einem Mindestmaß für die Erreichung eines bestimmten Abschlusses nachweisbar erbracht werden müssen. Entscheidet sich der Schüler dafür, sich mehr als nur die unbedingt geforderten Kompetenzen anzueignen, hebt das die Abschlussnote (im Rahmen der Kompetenzorientierung ist übrigens auch die generelle Abschaffung von Noten im Gespräch, allerdings nicht ersatzlos, sondern durch Verbalbeurteilungen ersetzt), entscheidet er sich dagegen, senkt es diese; das zieht sich durch bis hin zu verschiedenen Anforderungsniveaus der Aufgabenstellungen, weshalb auch immer mehr klassische Lehrpläne durch
"offene Curricula" ersetzt werden. Man spricht hier von einer
"differenzierenden Pädagogik".
Im klassischen lehrergesteuerten Unterricht wird nur derjenige mitarbeiten, der ein eigenes Interesse an der Materie hat und auch weiterführende Fragen stellen. Die Übrigen lehnen sich zurück und können passiv bleiben; es sei denn, sie werden in der Erarbeitungsphase der Aufgabenstellung bzw. bei den Lösungen aufgerufen. Beim kompetenzorientierten Unterricht ist das - idealerweise - nicht mehr möglich, da - ebenfalls idealerweise - die Schüler in Kleingruppen arbeiten und daher
jeder etwas zur Ergebnispräsentation beitragen muss. Es wird also im Grunde jeder Schüler "sanft" dazu gedrängt, am Unterricht teilzunehmen, also Anteil daran zu nehmen und auch ein gewisses Maß an Eigenmotivation aufzubringen. Ich stimme zu, dass sehr viel Theorie dabei ist. Akademikern, angehenden Lehrern also, kann man das aber durchaus zumuten. Und es kann wirklich funktionieren. Aber nicht jeder Lehrer ist dafür bereit.
guatuso hat geschrieben:Nun referierst du hier und gibst nicht Unterricht, aber , und sei mir nicht boese, das alles klingt so fachdurchzogen, von Fachbegriffen durchsetzt, dass ich mir erst mal muehsam verstaendlich machen muss, was du mir sagen moechtest.
Ich denke nicht dumm zu sein, aber wenn du so mit mir "sprichst" (schreibst), frage ich mich automatisch: machst du es mit deinen Schuelern auch so?
Das waere ja grauenhaft langweilig weil verkopft.
Nein, im Unterricht sind (nicht erläuterte) Fremdwörter in der Sekundarstufe I tabu. In der Sekundarstufe II allerdings müssen sie sein und sind ein Teil der Eigenmotivationsmessung - in Richtung auf das Abitur muss die Eigenmotivation auch des Schülers spürbar gesteigert sein (Stichwort Problemlösungskompetenz). Schließlich sagt diesem Schüler an der Uni später auch niemand mehr, was er tun könnte, um die Bedeutung eines Fremdwortes herauszufinden. Die (selbständige!) Arbeit mit Fremd- und Fachwörtern sollte deshalb in den beiden letzten Klassenstufen der Sekundarstufe I geübt und in der Eingangsstufe der Oberstufe (Klasse 11) wiederholt werden. Spätestens in der Oberstufe wird deshalb kein Fremd- oder Fachwort mehr erläutert, sondern selbständig nachgeschlagen und recherchiert.
guatuso hat geschrieben:Aber um aufs Thema zurueck zu kommen:
Warum gibt es bei uns keine Schulschwaenzer, aber in Deutschland?
Warum gehen hier die Kinder gerne zur Schule und in Deutschland wohl weniger gerne...
Ich bezweifle ernsthaft, dass es Schulverweigerer
nur in Deutschland gibt. Dort, wo das Lehrer-Schüler-Verhältnis menschlich auch stimmt, gibt es meist weniger und seltener Schulverweigerer. Vielleicht liegt es auch an der größeren Herzlichkeit der Menschen in Mittel- und Südamerika, also einem grundlegenden Wesenszug. Das könnte aber auch ein Klischee sein. Ich weiß es nicht. Möglich wäre auch, dass die Schule für die Schüler in deinem Land ein sehr willkommenes Refugium vor den Zuständen (evtl. Armut zu Hause etc.?) zu Hause darstellt. Ähnliche Phänomene gibt es in Deutschland auch bei Schülern von Bildungsgängen in Berufsschulen und Gesamt- oder Gemeinschaftsschulen. Nicht selten werden an solchen Schulen (die meist Ganztagsschulen sind) Schüler angemeldet, die zu Hause z.B. kein warmes Mittagessen erwarten könnten.
guatuso hat geschrieben:Ich denke nicht, dass es mit neuen Lernformen zu tun hat, sondern damit, dass bei uns der Stoff spielerisch und geduldig gelehrt wird. Ich aber lese immer wieder vom Stress in deutschen Schulen, vom Druck, - haette ich auch keine Lust als Kind von, sagen wir, 12 Jahren immer unter Stress stehen zu muessen.
Ja natuerlich haengt vieles vom Lehrer ab, du hast da einen Satz gesagt, das muss man als Berufung verstehen. Und nicht als Job. Wenn ich mit Begeisterung meinen frueheren Kunde (den Touristen) von der Geschichte Costa Ricas erzaehlt habe, bekam ich immer wieder gesagt, man merke dass ich das Land liebe.
So sollte ein Lehrer sein, er sollte seine Aufgabe lieben.
Du sagst es doch (z.T.): Einen Stoff spielerisch und geduldig lernen (lassen) - also nicht (nur)
"lehren" und vor allem die Lerngelegenheiten schaffen (Atmosphäre, Umgebung, Beziehungen etc.).
guatuso hat geschrieben:Ich entsinne mich, vor so 45 Jahren, da war ich Stolz meinem Lehrer zu begegnen und er hatte sich an mich erinnert.
Diese kleine Identifikation zwischen Schueler und Lehrer, ich meine, die macht es aus, ob man etwas lernt oder nicht.
Den Matheunterricht in der FAZ aber, das ist schon ein harter Hammer.
Uebrigens, auch hier lernen die alle mit dem Taschenrechner. Und oft genug bin ich, wenn ich einkaufe, schnelle rmit Kopfrechnen als die mit dem Automat. Dann staunen sie. Dass ist richtig gerechnet habe
Saludos.
Der Artikel der FAZ spricht glaub' ich von Berlin. Nicht vergessen: Kultuspolitik ist Länderhoheit. Leider. Oder manchmal Gott sei Dank. Ob Lehrer bei ihren Schülern Respektspersonen sind, entscheidet sich oft an der Art ihrer Beziehung zu ihren Schülern. Die merken auch, ob jemand nur einen "Job" macht oder aus Berufung Lehrer ist.