Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

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mtoto
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Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von mtoto »

Hallo zusammen,
ich arbeite im medizinischen Bereich und erlebe immer mal wieder Situationen im Grenzbereich oder denke sehr über mögliche Situationen nach, die mir zum Glück bis jetzt erspart blieben.

Kennt jemand von Euch gute Literatur? Denn ich denke jemehr ich mich bemühe schwierige Fragen in diesem Bereich vorher zu durchdenken, desto eher bin ich in der Lage in akuten Situationen gut zu handeln.
Grundsätzlich vertraue ich darauf, daß Gott mein Handeln lenkt, aber ich möchte nicht meinen Anteil vernachlässigen.

Vielleicht gibt es ja auch hier einige, die diese Thematik beschäftigt. Das wäre schön.
Aus konkretem Anlaß denke ich gerade viel über die sog. Patientenverfügungen nach. In wieweit sind sie für mich bindend?

Ein mögliches, aber fiktives, Beispiel:
Patient mit einer solchen Verfügung lehnt intensivmedizinischen Maßnahmen ab. Seine Familie besucht ihn und er wird währenddessen reanimationspflichtig. Die anwesende Familie wünscht ausdrücklich alle möglichen Maßnahmen.
Und nu?
In dieser Situation kann man nicht lange überlegen, denn sonst ist der Patient gewiss tot.

Oder Patient ist Zeuge Jehowas und lehnt aus Glaubensgründen Bluttransfusionen ab und hat dann leider eine starke Blutung, die ohne Transfusion tödlich wäre.
Jetzt kann ich sagen, ok sein Wille. Aber darf ich das als Christ? Meist haben diese Leute sogar Anwaltsschreiben dabei in denen ausdrücklich die gesamte Strafverfolgung angedroht wird, falls man doch Blut überträgt. Aber die wäre mir prinzipiell egal, was zählt vor Gott? Dahinter steht auch die Frage, ob ich Behandlungen ablehnen darf, selbst wenn ich dann schneller sterbe?

Also ein ziemlich komplexes Thema.

LG Mtoto

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Juergen
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von Juergen »

Ohne jetzt auf irgendwelche rechtlichen oder (moral)theologischen Fragen im Detail eingehen zu wollen oder können, will ich mal einfach sagen, wie ich die Sache sehen würde.

Ich würde unter allen Umständen versuchen, daß Leben zu verlängern. Dabei liegt die Betonung auf "Leben verlängern" -- nicht auf "Sterben verlängern".

Wenn etwa eine Bluttransfusion einen Patienten das Leben rettet, und er danach fröhlich noch jahrelang leben kann, ist es die Pflicht, diese zu geben.

Es gibt auch andere Fälle: Jüngst ging meine "bessere Hälfte" zu einer Arbeitskollegin, welche ihre Arbeitskollegen zum "Abschiednehmen" eingeladen hatte. Die Arbeitskollegin lag in einem Hospiz hier in der Stadt und war - wie es die Ärzte sagen: "austherapiert". Bestrahlungstherapie half nichts, Chemotherapie war ohne Erfolg und eine neuartige Gentherapie hatte auch nicht angeschlagen. Morgens besuchte meine bessere Hälfte sie zusammen mit einigen anderen Arbeitskollegen noch, nachmittags fiel sie ins Koma und drei Tage später war sie tot.
In solchen Fällen sollten die Ärzte nur das unternehmen, was das Leben/Sterben angenehmer gestaltet - also Schmerzen lindern etc.

Ein Versuch den Patienten in solchen Fällen ein paar Tage mit einem Mordsaufwand (im wahrsten Sinne des Worten) am Leben zu erhalten oder am Sterben zu hindern, halte ich für unmenschlich.



Nebenbemerkung:
Ich habe diese Hospiz, welches (natürlich) kirchlich ist, nie von innen gesehen, doch soll es dort sehr "angenehm" - wenn das Wort erlaubt ist - sein. Sie nehmen max. 7 Patienten auf und diese werden rund um die Uhr von 12 Pflegekräften betreut. Das ist ein Patienten-Pfleger-Verhältnis, welches sich sehen lassen kann, wie ich meine.
Gruß Jürgen

Dieser Beitrag kann unter Umständen Spuren von Satire, Ironie und ähnlich schwer Verdaulichem enthalten. Er ist nicht für jedermann geeignet, insbesondere nicht für Humorallergiker. Das Lesen erfolgt auf eigene Gefahr.
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Clemens
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von Clemens »

Widerspruch:
Dem Zeugen Jehovas würde ich KEIN Blut geben - er will es nicht und wir haben seinen (Irr)glauben zu respektieren. Er würde - falls du sein leibliches Leben damit rettest, wohl nicht lustig weiterleben, sondern wäre wohl todunglücklich (und würde dich verklagen).

In diesem Fall nach den Grundsätzen der Mehrheitsmeinung zu handeln und damit einen Angehörigen der Minderheit zu vergewaltigen wäre tyrannisch.
Der Gesundheitswahn hat heute tyrannische Züge.

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lifestylekatholik
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von lifestylekatholik »

Wenn jemand bei klarem Bewusstsein und ohne Zwang und ohne dass er falsche Vorstellungen von einer Behandlung hat, ausdrücklich sagt, er wolle bestimmte Hilfen nicht, werde ich sie ihm nicht aufdrängen.

Ich kenne allerdings die rechtliche Situation nicht, und ich stand auch noch nie in der Situation, dass eine ganze aufgebrachte Familie mich zu soetwas drängt.
»Was muß man denn in der Kirche ›machen‹? In den Gottesdienſt gehen und beten reicht doch.«

sofaklecks
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von sofaklecks »

Ich würde dir raten, dich exakt an die rechtlichen Vorgaben zu halten, die durch deine Dienstanweisungen konkretisiert werden.

Wir haben alio loco über "unchristliche Berufe" diskutiert und dabei auch das Thema der Gewissensentscheidung erörtert. Entweder du suchst dir eine Stelle, in der du nicht in diese Situationen kommst, oder aber du löst sie durch strikte Befolgung der Vorgaben.

Ich hab das letzten Sonntag wieder gelernt. Aus dem Evangelium. Mein Pfarrer hat eine sehr kluge Predigt darüber gehalten. Über die Heilung des Aussätzigen. Ich habe ein anderes gelernt: Der Aussätzige war von Jesus verpflichtet worden, nichts über die Umstände seiner Heilung zu erzählen. Was tat er? Das genaue Gegenteil, so dass Jesus sich in keiner grossen Stadt mehr sehen lassen konnte. Wie sagt mein Steuerberater: "Tu niemand was Gutes, geschieht dir nichts Böses!"

Wenn deine Richtlinien von einem wiksamen Widerspruch der Familie gegen die Patientenverfügung ausgehen, reanimiere. Und gib die Transfusion. In deinem Interesse.

meint

sofaklecks

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incarnata
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von incarnata »

Den Zeugen Jehovas kannst Du nach der Transfusion erklären, sie könnten sich vor ihrem Gewissen entlastet fühlen,da sie ja ihren Willen(keine Transfusion) ausreichend deutlich bekundet haben-dass dann doch transfundiert wurde lag nicht in ihrer Macht.Du könntest es aber mit deinem Gewissen nicht vereinbaren,einen Menschen sterben zu lassen,den man mit dem einfachen Mittel der Transfusion retten könne. Den Angehörigen des Reanimierten kannst Du recht geben,da der Patient in dem Moment,als er die Verfügung unterschrieb nicht wissen konnte ,wie er im konkreten Moment der Erfordernis der Reanimation denkt.Hier muss ja immer die konkrete Situation mit einberechnet werden.Einen eh schon final Krebskranken oder schon vorher dem Sterben nahen Dementen wirst Du in so einer Situation vielleicht nicht mehr reanimieren,den plötzlichen Infarktpatienten natürlich sofort,auch wenn er,ohne recht zu wissen ,wovon er spricht,Gegner von "Apparatemedizin" war bis zum Moment des Infarkts
Durch die barmherzige Liebe unseres Gottes wird uns besuchen das aufstrahlende
Licht aus der Höhe.......(Lk1,76)

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lifestylekatholik
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von lifestylekatholik »

incarnata hat geschrieben:den plötzlichen Infarktpatienten [wirst du] natürlich sofort [reanimieren],auch wenn er,ohne recht zu wissen ,wovon er spricht,Gegner von "Apparatemedizin" war bis zum Moment des Infarkts
Fände ich unverantwortlich. Es ging ja um Patienten mit Patientenverfügungen, nicht um unbedacht Dahergeschwätztes zu "Apparatemedizin". Das wäre Vergewaltigung eines Menschen in einem Moment, in dem er dir hilflos ausgeliefert ist.
»Was muß man denn in der Kirche ›machen‹? In den Gottesdienſt gehen und beten reicht doch.«

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Lioba
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von Lioba »

Ich würde hier auch zwischen " Lebensverlängerung " und "Sterbensverlängerung" unterscheiden. Übrigens wird im protestantischen Bereich gerne die sog. christliche Patientenverfügung genutzt.
http://www.ekd.de/download/patientenver ... rmular.pdf

Wie beurteilt ihr diese? vor allem die unter euch,die beruflich oder privat mit dieser Frage konfrontiert sind.
Die Herrschaft über den Augenblick ist die Herrschaft über das Leben.
M. v. Ebner- Eschenbach

Ralf

Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von Ralf »

Ich habe schon häufiger reanimiert, Zeugen Jehovas Transfusionen gegeben und es unterlassen, Patientenverfügungen geachtet oder aber mißachtet.
Es kommt immer auf den Einzelfall an.

Mal aus eigener Erfahrung:

- Patientin mit Magenblutung, Hb um die 2, bekommt zwei Tüten Blut bei Bewußtlosigkeit. Ein Sohn ist anwesend. Später kommt Tochter dazu und sagt, daß Mutter doch ZJ sei (ebenso wie Tochter, Sohn ist gegen die ZJ), wieso denn eine Transfusion erfolgt sei (Sohn hatte nix erzählt). Mittlerweile ist der Hb über 4 (immer noch sehr mau), Pat. klar und ansprechbar. Nach längerem Gespräch und Bedenkzeit werden weitere Transfusionen unterlassen und nach Rücksprache mit HA Pat. entlassen.

- Kurz vor Mitternacht in der Notaufnahme: Mann kommt mit unerträglichen Schmerzen, ist von einem Tumor durchmetastasiert. Pat.-Verfügung dabei, wird von anwesender Ehefrau erwähnt und vorgezeigt. Gespräch alleine mit dem Mann. Er hat Todesangst und will leben, auch wenn ich ihm klar mache, daß die Gundsituation nicht zu ändern sei, daß eine Reanimation und ggf. längere Beatmung nur das Leiden verlängern würden. Dennoch: er will dies alles. Daher interesierte mich die Pat.-Verfügung nicht: jeder hat das Recht im Angesicht des Todes seine Meinung zu ändern.

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lifestylekatholik
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von lifestylekatholik »

Ralf hat geschrieben:Es kommt immer auf den Einzelfall an.
Zwei schöne Beispiele.

Etwas anders, weil kein akuter Entscheidungsdruck vorliegt, Walter Jens.

(Hinweis auf den FAZ-Artikel bei der Mater amata.
»Was muß man denn in der Kirche ›machen‹? In den Gottesdienſt gehen und beten reicht doch.«

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mtoto
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von mtoto »

Hallo,
ja die Hauptschwierigkeit ist die Beurteilung des Einzelfalles. Was ist in diesem konkreten Fall Sterbeverlängerung und was ist Lebensrettung. In vielen Fällen ist es eindeutig, das Schwierige sind diese Grenzfälle, vor die man oft unerwartet gestellt wird.
Und das Leben ist vielfältig und es gibt keine eindeutigen Gestze oder Dienstanweisungen für jeden möglichen Fall geltend.
Gut, in der akuten Situation handelt man oft "aus dem Bauch", aber auch diese Entscheidungen haben eine Grundlage. Ich möchte in solchen Situationen nicht nur auf Grund von "Berufserfahrung" Entscheidungen treffen.
Einen Infarktpatienten würde jeder reanimieren, egal ob er eine Patientenverfügung hat, schließlich bestehen gute Chancen, daß er glimpflich aus der Sache rauskommt. Bei der Patienten der ZJ von Ralf hat sich die Sache ja auch geklärt, solange man nichts davon weiß, kann und muß man Blut transfundieren. Wenn sie aber mit einem Hb von 4 weiter bewußtlos gewesen wäre???
Also alle möglichen Situationen kann man nicht im Vorraus durchdenken, deshalb liegt mir an einer fundierten Grundlage aus der sich schnelle Entscheidungen heraus treffen lassen können.

LG mtoto

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holzi
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von holzi »

mtoto hat geschrieben:Wenn sie aber mit einem Hb von 4 weiter bewußtlos gewesen wäre???
Was bitte ist ein Hb? Sorry, bin medizinisch halt nicht so bewandert.

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mtoto
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von mtoto »

Hallo Holzi
Hb ist der rote Blutfarbstoff, der den Sauerstoff im Blut transportiert. Er sollte mal so grob zwischen 12 und 16 liegen. Wenn jemand stark blutet geht dieser Wert runter und bei einem Hb von 2 wie in Ralfs Beispiel ist man quasi bereits verblutet, um so erstaunlicher, daß die Patientin nach nur 2 Transfusionen und einem Hb von 4 bereits wieder bei Bewußtsein war.
LG mtoto

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lifestylekatholik
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von lifestylekatholik »

Hb = Hämoglobin. Rest hat mtoto ja schon geschrieben.
»Was muß man denn in der Kirche ›machen‹? In den Gottesdienſt gehen und beten reicht doch.«

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holzi
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von holzi »

Ah ja, danke!

Ralf

Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von Ralf »

mtoto hat geschrieben:Einen Infarktpatienten würde jeder reanimieren, egal ob er eine Patientenverfügung hat, schließlich bestehen gute Chancen, daß er glimpflich aus der Sache rauskommt.
Nein, die Chancen, eine Rea überhaupt zu überleben, sind schlecht. Dann auch noch die Chancen, das ganze ohne Folgeschaden zu überleben: ebenfalls mies. Aber alles schon erlebt, Gutes wie Schlechtes.

In dubio pro vita.

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mtoto
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Re: Entscheidungen in beruflichen Grenzsituationen

Beitrag von mtoto »

Hallo Ralf,
ohne jetzt zuviel zu fachsimpeln, aber wenn du einen Patienten am Monitor hast und quasi adhoc bei Kammerflimmern durch Infarkt reanimierst, finde ich die Chancen gut. Klar, wenn er im Supermarkt oder auf der Strasse damit umkippt... ok, haste Recht. Aber ich bin jetzt mal von der Krankenhaussituation ausgegangen.
LG mtoto

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