So ist es. Das Ego und die Liebe bzw. Gott schließen einander aus. Kein Mensch ist zwar frei von Ego, jedoch geht es tatsächlich darum, sich seiner Egoanteile (= Konditionierungen, Prägungen) bewusst zu werden, sich mithin weniger wichtig zu nehmen, um letztendlich sein Ego zu überwinden. Selbstliebe ist hierbei nicht mit Eigenliebe zu verwechseln. Gemeint ist das (göttliche) Selbst, das zum Vorschein kommt, wenn einen der menschliche Egoismus weniger im Griff hat und man infolgedessen mit sich und anderen barmherziger sein kann.Raphael hat geschrieben:Die Überwindung des menschlichen Egoismus soll also - zumindest nach jesuanischer Lehre - nicht über die Nächstenliebe geschehen, sondern über die zuvörderst einzuübende Gottesliebe.
Sich selbst lieben wie seinen Nächsten setzt voraus, dass man gelernt hat, eine Distanz zu seinem Ego aufzubauen. Praktisch bedeutet das, dass man in der Lage ist, auf bestimmte Reize und Trigger nicht mehr nur gewohnheitsmäßig (impulsiv) zu reagieren, denn Gewohnheiten sind Verkürzungen bzw. Automatismen (im schlimmsten Fall Süchte) unseres Gehirns, sondern in der Wahl des Verhaltens flexibel, unabhängig und frei ist.
„Die Wahrheit macht euch frei“, weiß Jesus, weil er die Geister unterscheiden konnte und somit nicht in „alten“ Gewohnheiten gefangen war. Wenn Jesus von Selbstliebe spricht, ist keine Spur von Selbstverliebtheit gemeint, sondern die allergrößte Offenheit einem anderen Menschen gegenüber. Das setzt Nächstenliebe und einen gesunden Selbstwert voraus, der sich weder kleiner noch größer als der Nächste dünkt.
(Auch das Wort Selbstverwirklichung ist missverständlich. Zu unterscheiden ist, ob der Mensch sein Ego oder sein Selbst zu verwirklichen sucht.)