ar26 hat geschrieben:Jetzt mal eine ehrliche Frage in die Runde, gibt es oder gab es derartige Proteste nicht auch in der alten Bundesrepublik?
Dann versuche ich mal den Anfang.
Die Frage lässt sich nicht einfach mit Ja oder Nein beantworten.
Es gab in der alten Bundesrepublik
derartige Proteste in dem Sinne, daß es ebenfalls vulgäre Proteste waren, das heißt es wurden lautstark mehr oder weniger dumme Parolen gebrüllt, Leute beleidigt, eventuell auch Sachen beschädigt und Menschen, vor allem Polizisten und Demonstranten verletzt. Die Ziele dieser Proteste und Ausschreitungen konnten sehr unterschiedlich sein: Atomkraftwerke, die Startbahn West des Frankfurter Flughafens, Haus- und Grundstücksspekulanten, oder falls es sonst nichts gab und einige gewohnheitsmäßige Radaubrüder sich allzusehr langweilten, auch einfach mal das ganze System.
Der wesentliche
Unterschied aus meiner Sicht: Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, daß sich solche vulgären Proteste im Westen jemals gegen konkrete und offensichtlich schwache Einzelpersonen, in diesem Fall Asylbewerber, gerichtet hätten. Im Gegenteil, sie richteten sich immer gegen tatsächlich oder vermeintlich stärkere, aus der Sicht des Durchschnittsbürgers fast abstrakte Mächte: gegen
die Bonzen,
die Atomlobby,
die Ausbeuter,
die Spekulanten,
die Rüstungsindustrie,
die US-Imperialisten,
das System, um nur mal so ein paar typische Stichwörter und Phrasen aus der damaligen Zeit zu nennen.
Soweit ich mich erinnern kann, nahmen die Vorbehalte und Ängste gegen Ausländer, die zweifellos auch in der alten Bundesrepublik reichlich vorhanden waren, nur sehr selten öffentliche oder gar gewaltsame Formen an, wenn man mal den zahlenmäßig vollkommen unbedeutenden braunen Rand der Bevölkerung außer Acht läßt. Selbst die Verwendung von abfälligen Vokabeln wie
Kanake galt nicht einmal als Indiz für eine bestimmte ideologische Richtung, sondern eher als Zeichen von Grobheit und fehlender Bildung. Asoziale und Sonderschüler redeten so. Und eines weiß ich mit Sicherheit: Wenn mein Vater, den ich mit Fug und Recht als unverbesserlichen Nationalkonservativen bezeichnen kann, mich jemals brüllend und dümmliche Parolen blökend auf so einer Veranstaltung wie in Freital erwischt hätte, dann hätte er mich windelweich geschlagen. Denn es sind solche peinlichen Aufmärsche, die der Nation Schande machen.
Was Proteste, ob berechtigt oder nicht, im Westen und Osten
gemeinsam haben, ist, daß sie in geradezu gespenstischer Regelmäßigkeit von ideologisch motivierten und gewaltbereiten Gruppen vereinnahmt wurden und werden. Was zum Beispiel im Westen als einfacher Anwohnerprotest gegen eine zusätzliche Startbahn für den Frankfurter Flughafen begann, entwickelte sich durch Randaletourismus innerhalb kurzer Zeit zu teilweise bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Viele Verletzte, sehr hoher Sachschaden. Erst der gewaltsame Tod eines Polizisten führte zur sofortigen Einstellung der Proteste, oder besser gesagt, der Kampfhandlungen. Hier war der Punkt überschritten worden, an dem sich kein normaler Bürger, der noch alle Tassen im Schrank hatte, weiter an den Protesten gegen eine Flughafen-Startbahn beteiligen wollte. Und was im Osten als Anwohnerprotest beginnt, eskaliert erfahrungsgemäß ziemlich schnell dahin, daß Unterkünfte oder Asylbewerberheime brennen.