Ethische Alltagsentscheidungen

Aktuelle Themen aus Politik, Gesellschaft, Weltgeschehen.
Ralf

Ethische Alltagsentscheidungen

Beitrag von Ralf »

Während in den Fragen der Bioethik ja zumeist solche Themen debattiert werden, die zahlenmäßig (was nichts über die Wichtigkeit aussagt!) eher zu vernachlässigen sind, möchte ich einmal ein ganz normales Beispiel aus dem Kliniksalltag bringen - denn so etwas findet täglich hundertfach statt.

Stellt Euch vor, Ihr wäret internistischer Stationsarzt...

Also, in der Ambulanz habt Ihr Aufnahmedienst und es wird mit dem Rettungsdienst (ohne Notarzt) eine 96jährige Frau gebracht, die nach einem Sturz im Bad, noch alleine zuhause lebend, eine große Platzwunde am Hinterkopf hat. Vor allem aber ist sie sehr ausgetrocknet (exsikkiert) und hat nur noch die Hälfte der normalen Anzahl von roten Blutkörperchen (Hb von 7). Dazu ist sie sehr schmächtig und extremst schwerhörig. Aufgrund einer extremen Gefäßverkalkung sind Hände und Füße kalt und blau, die Füße sehen generell schrecklich aus (Details erspare ich Euch).Angehörige sind in Deutschland nicht aufzutreiben, einmal am Tag kam jemand von Sozialdienst vorbei.

Schon mehrere Male hat dieser Sozialdienst versucht, sie zum KH-Transport zu überreden, die Frau hat sich immer geweigert, sie wolle die wenig verbleibende Zeit (so wurde es dem Arzt mündlich von Dritten überliefert) alleine zuhause leben und sterben (obwohl sie kaum noch in der Lage war, sich alleine zu versorgen - doch will sie das überhaupt?).

So, nun ist die Frau da - und ihr seid der Arzt, der jetzt was tun soll ("alle Augen warten auf Dich..." sozusagen).

a) nach allem, was die Frau sagen kann (fast taub), will sie nicht im KH sein, äußert lapidar den Wunsch nach einer "Sterbespille".
b) eigentlich braucht sie eine Bluttransfusion. Sollte sie die bekommen? Zustimmungsfähig ist sie in dem Zustand nicht.
c) sie braucht Flüssigkeit über eine Nadel. Sollte sie die bekommen?
d) laut Medikamenteninfo (sehr spärlich) nimmt sie seit Jahren ein Schmerzmittel, welches schon mal zu Magen/Darm-Blutungen führen kann. Soll sie eine Magenspiegelung deswegen erhalten? Sie ist 96! Noch, das ganze war bei Aufnahme schon angeleiert, ist sie voll geschäftsfähig und kann alles ablehnen. Doch die zukünftige Betreuerin (was man früher so "Vormund" nannte) stand schon auf der Matte (und kennt die Frau gar nicht, vom Amtsgericht bestellt...).

Hm? Wie würden Sie entscheiden? Die Ambulanz-Schwester erwartet schnelle Entscheidungen...

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Robert Ketelhohn
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Beitrag von Robert Ketelhohn »

An den Tropf legen, Elektrolytlösung geben, mit ihr ein Vaterunser beten. Dann nach Hause entlassen – wenn sie will.

Bluttransfusion bei HB 7 – hm. Du kennst die Ursache nicht. Wenn sie über Magenschmerzen klagte und um eine Untersuchung bäte, wäre das was anderes. – Meiner Frau übrigens riet der Narkosearzt noch bei HB 4 von einer Transfusion ab. Der Oberarzt ordnete sie dann aber sofort an. Zuvor allerdings, bei HB 7, hatten alle Ärzte trotz unserer mehrfachen Aufforderung die Transfusion verweigert.
Propter Sion non tacebo, | ſed ruinas Romę flebo, | quouſque juſtitia
rurſus nobis oriatur | et ut lampas accendatur | juſtus in eccleſia.

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beatrice
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Beitrag von beatrice »

Ich kann mich in dem Fall Robert nur anschließen. Sie soweit stabilisieren, daß sie wieder nach Hause kann und dort, so sie und Gott es möchten, in Frieden sterben darf. Mit 96 noch irgendwie von einem fremdem "Vormund" herumgeschoben zu werden hat sie sicher nicht verdient.

Beatrice

Geronimo

Beitrag von Geronimo »

Was heißt "zukünftige Betreuerin"? Ist sie nicht schon bestellt oder nicht? Normalerweise muss der Amtsrichter zuerst die zu Betreuende aufsuchen und sich ein Bild darüber machen, ob die Person noch orientiert ist. Gibt es einen Hausarzt? Der muss auch seinen Senf dazugeben. Dann erst wird ja die Betreuerin bestellt. Dann muss du gucken, wie weit die Betreuung geht - Aufenthaltsbestimmung? Und ganz wichtig - die Gesundheitsvorsorge muss enthalten sein.

Also musst du dir den Betreuungsausweis zeigen lassen, ob wirklich bereits ein Beschluss vorliegt oder das nur geplant ist.

Einen Tropf legen und abwarten. Es muss sich rausstellen, ob die Frau geistig orientiert genug ist, um über ihre Behandlung zu bestimmen. Wenn allerdings bereits eine Betreuung darüber eingesetzt ist, kann man als Arzt nichts mehr machen. Dann entscheidet der Vormund.

Falls das aber noch in der Schwebe ist - den Amtsrichter ruhig auch selbst kontaktieren. Wenn es keinen Hausarzt gibt, seid ihr die behandelnden Ärzte, deren Meinung mitzählt.

Einfach nach Hause entlassen, ohne sich abzusichern, kann für das Krankenhaus übel ausgehen, falls irgendwo der Verdacht aufkommt, die Frau könne ihre Lage selbst nicht mehr beurteilen und ihr hättet euch breitschlagen lassen.

Also, wie gesagt - den Betreuerausweis verlangen. "Zukünftig" hat nix zu sagen.

Geronimo

Cicero
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Re: Ethische Alltagsentscheidungen

Beitrag von Cicero »

Ralf hat geschrieben: Stellt Euch vor, Ihr wäret internistischer Stationsarzt...
Ich will es mir nicht einmal vorstellen.
Das meine ich ganz ernst.
Ich möchte für kein Geld der Welt mit einem (jungen) Arzt in einem
Krankenhaus tauschen.

Und ich bewundere jeden, der dies mit hohem persönlichen Einsatz auf sich nimmt.

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Fichtel-Wichtel
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Beitrag von Fichtel-Wichtel »

Auf jeden Fall aufpäppeln,mit Info,evtl.sogar mit der Blutttansfusion,keine Magenspiegelung.Den in fast jedem KH vorhandenen kath./evang.Pastor,oder Sozialdienst kath.Frauen oder auch was immer so in deinem KH an "Sozial-Service" vorhanden ist, ziemlich dringlich auf die Pat. hinweisen.Vor allem mal abchecken lassen,was in Sachen ,häusliche Versorgung, Pflegeversicherung schon angeleiert ist, oder überhaupt,Und vor allem auch ggf.mehrfache Kontakte mit dem Hausarzt,denn der müßte doch noch am ehesten etwas wissen,über die häuslichen Gegebenheiten.
Evtl. mal ganz simpel fragen ob eine Zugehörigkeit zu einer kath. oder evang.Pfarrei besteht,dort evtl .den Besuchsdienst informieren.(So mit der Frage kommt schon mal jemand von der Pfarrei, und bringt Kommunion oder Abendmahl?)

Außer Wundversorgung und Flüssigkeitszufuhr eigentlich nix,auch keine herzstärkende Medikamente mehr zuführen.
Wenn du Aufnahmedoc bist @ Ralf,dann auf jeden Fall anordnen,daß die Frau alle halbe Std.etwas zu trinken bekommt,gleich den Ein-und Ausfuhrplan mit anferigen und zur Station mit rübergeben.
Ihr bei der tgl.Visite übers Köpfchen oder die Wange streicheln,das mögen so alte Herrschaften meist ganz gern, oders Händchen halten,und den Schnabelbecher reichen und ggf. beim Trinken unterstützen .
Nach hause schicken kannst du solche Fälle net,Sturzgefahr ecpp.Eine meiner Tanten hat mal Tagelang nach einem Sturz in der Wohnung gelegen,bis sie gefunden wurde.




Vor allem drauf achten:
#Das kein anderer Jungdoc,meint das wäre das passende Opfer für Subclavialegen,oder Zentraler Venenkatheter, auch Magenspiegelungen werden an solchen Pat.gern trainiert.
#Ne gut verlegte Braunüle reicht eigentlich ,bitte nicht in Ellebogen und oder Handrücken,mit evtl.Verlängerungsinfusionssschlauch,damit Pat, Arm und Hand ohne Fixierung bewegen kann.
#Anordnen,das alle 15-30 Min.der Pat. etwas zum trinken gereicht wird(das auf jeden Fall dokumentieren[Einfuhr/Ausfuhr] lassen und stichprobenartig überprüfen,zu immer wieder wechselnden Zeiten das kontrollieren),ggf.sich angewöhnen bei der Visite stets allen Pat.den Trinkbecher/Schnabelbecher anreichen und beim Trinken behilflich sein.
#Das Pflegepersonal in der Hinsicht scheuchen,insbesondere Lehrschwestern ,Praktikanten .
#Das gleiche gilt für Kost reichen, das Anordnen,keinerlei Gejaule hinnehmen,es sei kein Personal vorhanden. Außerdem Anordnen ,daß das Pflegepersonal beim Kost reichen/füttern sich setzt,(dann herrscht mehr Geduld und Ausdauer beim Pflegepersonal ,und außerdem soll man bei solchen AKtivitäten immer auf einer Höhe mit dem Pat. sein)#Kontrollieren ,immer wieder,zu den nicht immer gleichen Zeiten,selbst wenn se dir einen Spitznamen wie Doktor Tränken und Füttern anhängen.
#Auf die Tbl.einnahme bestehen,bei den Mahlzeiten.Tbl. kann man ohne weiteres auf ein Löffelchen Pürree,Pudding einzeln geben.
#Wer selber essen kann,jedoch durch Infusionen oder anders gehandicapt ist ggf.Fleisch und ähnliches an größeren Teilen,auch Gemüseschnitten soll das Personal den Pat. zerkleinern.

Damit das wieder Sitte wird in Deutschland.Konnte selber bei den Barmherzigen Brüdern in Regensburg etliches an Merkwürdigkeiten beobachten,was die Ernährung von Pat.betrifft. Bin in der Hinsicht etwas anderes gewohnt.

Gruß,
Elisabeth

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Ketzerin
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Beitrag von Ketzerin »

kann mich Fichtel-wichtel nur anschließen!

Medizinisch kann ich keine "Ratschläge" geben. Als Laiin würde ich sagen, das was nötig ist, sprich Flüssigkeit etc. aber keine Dinge wie Magenspiegelungen.

und dann finde ich es sehr wichtig, über KH-Sozialdienst etc. ein soziales Netz für die Frau aufzubauen, die über die reine "Betreuung" -mir schwant nichts Gutes hinter diesem amtsdeutschen Ausdruck- hinausgeht. Ja, sowas wie Besuchsdienst der Gemeinde etc, damit die Gute AnsprechpartnerInnen hat und wieder ein wenig Lebensfreude bekommt.

Ich beneide keineN Arzt/Ärztin in einer solchen Situation...aber wenn sich noch mehr so Gedanken darüber machten wie Du....
soli deo gloria

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Fichtel-Wichtel
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Beitrag von Fichtel-Wichtel »

Im internistischen Bereich im KH.bekommt man solches sehr häufig zu sehen.
Pflegerisch wäre noch auf die sog.Behandlungspflege zu verweisen,in dem oben genannten Fall wäre das ein Einölen der Beine mit Jojoba oder Penatenöl.Und alle erforderlichen Prophylaxen.
Bei dem Alter und dem AZ,wenn keine robuste Grundstruktur vorhanden ist,dann ist mit baldigem Ableben zu rechnen.
Intensivmedizinische Massnahmen sind auf jeden Fall abzulehnen. Am besten Einzelzimmer,oder halt Zweibettzimmer,auf keinen Fall ein Mehrbettzimmer.

Gruß,
Elisabeth

Ralf

Beitrag von Ralf »

Geronimo hat geschrieben:Was heißt "zukünftige Betreuerin"? Ist sie nicht schon bestellt oder nicht?
Ja, seit heute.



Ansonsten überraschen mich die Kommentare von Fichtel-Wichtel, die anscheinend genau weiß, was am besten für eine ihr vollkommen fremde Frau ist, wie man mit dem Pflegepersonal umzuspringen hat (denn mit freundlicher Aufforderung hat das nichts mehr zu tun), was en détail zu tun ist und was nicht.
Du würdest im medizinischen Bereich schon nach einer Woche hemmungslos vor die Wand fahren...

Geronimo

Beitrag von Geronimo »

Nun denn, dann darf sie auch bestimmen.

Wer hat das denn in die Wege geleitet mit der Betreuung?

Eigentlich stimmen die Richter einer Betreuung ja nur zu, wenn die betreffende Person nicht mehr in der Lage ist, vernünftige Entscheidungen für sich selbst zu treffen. Oder wenn jemand vo Amts wegen (der Sozialarbeiter etc.) Gefahr im Verzug sieht. Und wenn man sich so anhört, in welchem Zustand die alte Dame ist, kann ich das auch verstehen, dass man da nicht tatenlos zuschauen kann.

Äh ... bist du dir sicher, dass die Patientin ...also, nicht, dass man mich falsch versteht, aber ... also, dass sie wirklich noch klar im Kopf ist? Ich meine, dass kann man vielleicht manchmal so ad hoc nicht beurteilen und manche Leute machen einen sehr klaren Eindruck, obwohl sie recht verwirrt sind ...

Auf jeden Fall muss diese Betreuung von irgendjemanden (Sozialdienst) beantragt worden sein. Ich sag das deshalb noch mal, weil hier vielleicht sonst bei einigen der Eindruck entsteht, der Staat entscheide das so einfach mal nebenbei über die Leute ...

Ich finde das ganze jetzt nicht so empörend - die Frau ist wohl hilfebedürftig, sieht es aber nicht sein, und es geht ja auch nicht, dass in unserem Land Leute in einem solch erbärmlichen körperlichen Zustand einfach nach Hause geschickt werden, um dort, ganz grob gesagt, allein zu verenden.
Dann hieße es wiederum, das Krankenhaus habe versagt und hätte anders handeln müssen.

Geronimo

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Fichtel-Wichtel
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Beitrag von Fichtel-Wichtel »

Ralf hat geschrieben:
Geronimo hat geschrieben:Was heißt "zukünftige Betreuerin"? Ist sie nicht schon bestellt oder nicht?
Ja, seit heute.



Ansonsten überraschen mich die Kommentare von Fichtel-Wichtel, die anscheinend genau weiß, was am besten für eine ihr vollkommen fremde Frau ist, wie man mit dem Pflegepersonal umzuspringen hat (denn mit freundlicher Aufforderung hat das nichts mehr zu tun), was en détail zu tun ist und was nicht.
Du würdest im medizinischen Bereich schon nach einer Woche hemmungslos vor die Wand fahren...
Ich hab 20 Jahre in der Gesundheitsbranche gearbeitet, davon auch sehr viele Jahre in der Pflege.Was das trinken und Kost reichen angeht ,wurden wir in dem kath.Krankenhaus sehr angehalten,alle halbe Stunde durch die Zimmer zu gehen, und den Leuten ein Getränk zu reichen,sie beim Trinken zu unterstützen.Das Kostreichen war seinerzeit immer so,sei es Frühstück,Mittagessen,Nachmittagskaffee und Abendessen.
Solche Pat. wie von dir beschrieben hatten wir laufend,oft genug monatelang,bis ein Altenheimplatz frei wurde. Doch es liegt viele Jahre zurück.Eben weil es nicht mehr üblich ist,bereits solches Verhalten von Schülerzeiten an immer wieder zu vermittlen, hört und erlebt man heute sehr anderes Verhalten.Zumal ein Tablettsystem auch vieles einfacher gestaltet.
Was uns seinerzeit von den Ordensfrauen eingebläut wurde, gerade was das genug trinken und die Hilfestellung bei der Nahrungsaufnahme angeht,ist mir sehr unvergesslich.
Und was man dann heutzutage erlebt, ist schon ein gewaltiger Unterschied.

Gruß,
Elisabeth

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