Vulpius Herbipolensis hat geschrieben:]Die Schriftsprache wird wohl kaum von Anfang an unabhängig von der gesprochenen Sprache gewesen sein; vielleicht ist (wird) ja das Chinesische ein Beispiel für den Aufbau von Flexion.
Bitte nicht vergessen: Das Chinesische hat eine Bilderschrift, am Anfang ganz und später überwiegend ohne phonetische Komponente. Tatsächlich laufen bis auf den heutigen Tag die Entwicklungen der schriftlichen und der gesprochen Sprache nicht immer parallel nebeneinander her. Man könnte Texte in klassischer Schriftsprache perfekt übersetzen, ohne von einem einzigen Wort zu wissen, wie es ausgesprochen wird, ja daß es überhaupt ein "Wort" dafür gibt. Etwa so, wie man Mathematik treiben kann, ohne zu wissen, wie Zahl- oder Funktionszeichen ín einer beliebigen Sprache gelautet werden.
Auch sind Flexionen nicht gleich Flexionen. Im Indoeuropäischen drücken sie primär Handlungsträger (Personen) und Handlungsaspekte (Zeiten und Modi) aus. Im Japanischen drücken die flexionsähnlichen oft vielsilbigen Gebilde am Ende von Verben keine Handlungsträger aus (das übernehmen, wenn überhaupt, Lexeme), sondern neben dem Ausdruck sehr differenzierter (aber anders als bei uns gegliederten) Modi dienen sie der Bildung von Dingen, die man teil als Wortarten (Pseudo-Adverbien, -Attribute, -Substantiva) und teils als Signifikatoren sozialer Relationen betrachten kann.
Eine empirisch ableitbare "universale Grammatik" ist daher schwer vorstellbar, wo die Vertreter der generativen Transformationsgrammatik dennoch davon sprechen, meinen sie konstruktivistische Formeln hoher Abstraktion, mit denen man (angeblich) Sätze in verschiedenen Sprachen generieren kann.
Bevor ich Euch bei Eurem Ausflug in die Abstraktion verlasse (den ich bei ungenügender Kenntnis der Konkreta für reichlich ambitiös halte), möchte ich Eure geneigte Aufmerksamkeit noch auf das Phänomen lenken, daß die sprachliche Repräsentation von Realität in verschiedenen Sprach- und Kulturzonen auf spektakulär unterschiedliche Weise erfolgen kann. Bekanntes Beispiel ist die unterschiedliche Stundenzählung in Antike und Gegenwart: in der Antike waren die Stunden des Tages unterschiedlich lang, je nachdem, wie lange es hell war - eine Zeitmessung, wie sie eine Grundlage der modernen Wissenschaft bildet, war unter diesen Umständen selbst abstrahierend nicht möglich.
In der Lieblings-Indianersprache der amerikanischen Linguisten, dem Hopi, tritt der (statische) Begriff des "Gegenstandes", der für unsere Weltsicht und deren sprachliche und geistige Repräsentation zentral ist, stark zurück hinter einer prozeduralen Sicht, die z.B. Bäume als etwas betrachtet, das lebendig aus der Erde hervorragt, während Felsen das gleiche sind, nur nicht lebendig. Im Hopi bilden die Finger der Hand keine "Faust", sondern sind in diesem Zustand "zusammengeballte Greiflinge", andernfalls sind sie "ausgestreckt". Damit ersparen sich die Hopi z.B. das unter europäischen Sprachphilosophen immer wieder diskutierte Problem: Wohin verschwindet der Gegenstand "Faust", wenn ich meine Hand öffne?
Die katholische Kirche war unter diesen Umständen gut beraten, Sprachen vor allem deskriptiv und mit dem praktischen Ziel der Übersetzung entgegen zu treten und sich vom luftigen Gebilde einer "Theologie der Sprache" fern zu halten. Und das, obwohl ihre Missionare sowohl auf dem Gebiet der Sprachen Indiens, Ostasiens und der Indianer beider Amerika zu den sprachwissenschaftlichen Pionieren gehörten.
Mit dem Niedergang der Mission hat das natürlich weitgehend aufgehört, aber z.B. die Steyler Missionare (S.V.D.) unterhalten immer noch in St. Augustin bei Bonn mit dem
Anthropos Institut eine Einrichtung, die über eine weltweit anerkannte ethno-linguistische Bibliothek verfügt und unter anderem die "
Monumenta Serica" zur alten chinesischen Sprache und Kultur herausgibt. Geschichte des Christentums in Ostasien und westlich-chinesischer Kulturkontakt gehören zu den Schwerpunkten. Daß man dort "katholischen Auffassungen über die Sprachentwicklung" nachsinnierte, ist mir jedoch noch nicht begegnet.