Das verdienstvolle Standardwerk zum Thema des vierfachen Schriftsinns, Henri de Lubacs Exégèse médiévale. Les quatre sens de l'Ecriture ist übrigens erstaulicherweise bis heute nicht ins Deutsche übertragen worden. Bloß falls einer ein Betätigungsfeld sucht …Raphael hat geschrieben:»Zur Entwicklung des vierfachen Schriftsinnes aus der origeneistischen Systematisierung der Bibelexegese: Eine genaue Textstelle kann ich Dir mangels eigener Primärliteratur nicht angeben. Details stehen sicherlich in dem Buch Lubac’s „Geist aus der Geschichte“; bei tieferem Interesse zu beziehen über den Johannes Verlag (http://www.johannes-verlag.de/1607.htm).«
An Primärlitteratur, also Quellen, stehen mir hier nur de principiis (edd. Görgemanns & Karpp), die Sammlung der Lucas-Homilien (ed. Sieben) und der vielbändige Römerbriefkommentar (ed. Theresia Heither) des Origenes zur Verfügung; leider nicht der in deinem Zitat, Erich, erwähnte Hoheliedkommentar. Daneben auch noch die erhaltenen Teile der Hexapla (ed. Fields), doch trägt das zum Thema nicht viel bei.Erich Dumfarth hat geschrieben:»Nun, ich kann Primärliteratur zu des Origenes Schriftauslegung liefern, nämlich einen Aufsatz aus der Feder von Sandra M. Schneiders, "Heilige Schrift und Spiritualität", abgedruckt im ersten Band der "Geschichte der christlichen Spiritualität".«
Die Arbeit von Sandra Schneiders, aus welcher du zitierst, Erich, gehört zur Sekundärlitteratur. Ihre Hinweise nehme ich dankbar auf. Ich habe es mir allerdings zum Grundsatz gemacht, verwendete Sekundärlitteratur anhand der Quellen zu prüfen, sofern irgend möglich. Noch lieber gehe ich freilich gleich an die Quellen selber, oder ich lasse mich von der Sekundärlitteratur an die Quellen führen.
Laß mich im folgenden einige Bemerkungen zu Frau Schneiders machen:
Lassen wir die Bewertung einmal außen vor. Es ist legitim, ein zusammenfassendes Urteil an den Anfang einer Erörterung zu stellen, wenn man es anschließend begründet. Was an Sachaussagen in diesem Abschnitt steckt, erscheint mir jedoch zweifelhaft. Daß Origenes Schüler des Clemens von Alexandrien gewesen sei, ist mindestens anfechtbar. Man kann das vielleicht nicht gänzlich ausschließen, doch belegt ist das meines Wissens nicht, während man doch, wäre es so gewesen, mindestens bei Euseb einen Hinweis darauf erwartete.Sandra Schneiders (zitiert nach Erich Dumfarth) hat geschrieben:»Der bedeutendste Schüler des Klemens und sicherlich der bedeutendste christliche Exeget der Antike war Origenes (ca. 185 - ca. 254); er entwickelte die in der Kirche bis zum Mittelalter vorherrschenden Theorien der biblischen Interpretation und wandte sie in einer umfangreichen Sammlung von Bibelkommentaren und theologischen Reflexionen über die Heilige Schrift an.«
Gewiß aber war Origenes Schüler des Ammonius Saccas, der auch Lehrer Plotins war und damit als Begründer des Neuplatonismus gilt. (Ich weiß, daß diese Schülerschaft des Origenes in der Forschung umstritten ist, könnte aber im Detail begründen, weshalb die Position des hochgeschätzten Heinrich Dörrie in dieser konkreten Frage unhaltbar ist; doch das würde jetzt, meine ich, wirklich zu weit führen.)
Daß Origenes »die in der Kirche bis zum Mittelalter vorherrschenden Theorien der biblischen Interpretation« entwickelt habe, ist auch nicht ganz korrekt formuliert. Tatsächlich hat Origenes die Methode der allegorischen Exegese, namentlich der Homer- und Plato-Exegese, vom mittleren Platonismus übernommen. Bereits vor ihm hatten jüdische Platoniker wie Philo von Alexandrien dies auf ähnliche Weise bereits hinsichtlich der Bücher des Alten Testaments begonnen. Origenes ist es, der diese Methode in den christlichen Bereich eingeführt hat (nicht ganz ohne Vorgänger, aber am konsequentesten und mit der nachhaltigsten Wirkung).
Theoretisch durchdacht hat er die Methode, soweit ich sehe, eher weniger, mit Ausnahme der unten noch zu behandelnden Stelle de princ. IV,2,4 sqq. Da ist vielmehr Hieronymus im Westen zu nennen, im Osten unter anderen Gregor von Nyssa, die beide – gerade in ihren Unterschieden zu Origenes – faktisch weit prägender für die Nachfolger wurden als die von Origenes an besagter Stelle gebotene theoretische Begründung.
Das ist keine stringente Argumentation. Die Hexapla beweist zunächst nichts als des Origenes Interesse am Textbestand des Alten Testaments. Primär ein philologisches Interesse. Ganz Ähnliches finden wir ja bei den Mittelplatonikern, so etwa in der überreichen philologischen Befassung mit Homers Epen, die gleichwohl – sobald es an die Exegese ging – ausschließlich allegorisch interpretiert wurden.Sandra Schneiders (zitiert nach Erich Dumfarth) hat geschrieben:»Seine Hexapla Bibel (ca. 240) war eine erstaunliche wissenschaftliche Leistung, die zur Genüge beweist, welch großes Interesse Origenes dem wörtlichen, dem Literalsinn der Heiligen Schrift, wie es moderne Exegeten ausdrücken würden, entgegenbrachte.«
Gewiß hat Origenes den Litteralsinn der Schrift nicht ausgeschlossen. Das behauptet ja niemand. Manches hat er gar, gegen die Lehre der Kirche, allzu wörtlich genommen: und sich selbst entmannt, beispielshalber. Aber schauen wir weiter:
Auf diese Stelle habe ich ja oben schon verwiesen. Die Dreiteilung in „fleischlichen“ (so Origenes hier, nicht „leiblich“), „seelischen“ und „geistigen“ Sinn kann man natürlich versuchen, auf die spätere Methode zu deuten, also hier am ehesten auf Litteralsinn, moralischen Sinn und allegorisch-anagogischen Sinn.Sandra Schneiders (zitiert nach Erich Dumfarth) hat geschrieben:»Origenes entwickelte in seinem Buch "De principiis" (Über erste Grundsätze, Buch 4) eine Theorie über den dreifachen Sinn der Heiligen Schrift, der zum Vorläufer der Theorie ihres vierfachen Sinnes, der Norm mittelalterlichen Exegese wurde. Diese dreifache Teilung entsprach dem dreiteiligen Aufbau des Menschen (Körper, Seele, Geist) in den Augen der griechischen Väter. Der Literalsinn (Körper) war der geschichtliche Sinn; der typologische Sinn (Seele) war die moralische Anwendung auf das Individuum; der pneumatische Sinn (Geist) war die Vorahnung des Neuen Testaments im Alten.«
Wie Frau Schneiders darauf kommt, die Typologie (Vorausbild – Urbild, Schatten – Wahrheit) der Seele zuzuordnen und als „moralischen Sinn“ zu bezeichnen, weiß ich nicht. Was sie im nächsten Halbsatz – bezogen auf den „geistlichen“ Sinn – »Vorahnung des Neuen Testaments im Alten« nennt, ist ja nichts anderes als Typologie. So bringt auch Origenes selbst die Typologie beim geistlichen Sinn unter. An sich gehört die Typologie jedoch gar nicht recht hierher, denn sie ist sozusagen bereits urchristlich, von Paulus über Irenæus bis zu den Kirchenvätern Gemeingut aller kirchlichen Schriftsteller. Also keineswegs eine Neuerung des Origenes, wiewohl man sie natürlich als einen Spezialfall der Allegorie (oder der Anagogie) ansehen mag und sie gewiß auch platonische Gedanken voraussetzt.
Von diesen Fehlern im Detail abgesehen, kann man sich, wie gesagt, an dieser Parallele versuchen. Das bedürfte aber einiger argumentativer Anstrengungen, die ich hier nicht erkenne. Denn Origenes selbst ordnet die drei Sinne an besagter Stelle, wie ich oben schon andeutete, ganz anders zu: Es entsprächen nämlich diese drei Schriftsinne drei Arten von Gläubigen: Der „fleischliche“ Sinn sei für die breite Masse bestimmt, der „psychische“ Sinn für einige Fortgeschrittene und der „pneumatische“ Sinn endlich für die wenigen Vollkommenen.
Diese Dreiteilung »Anfänger – Fortgeschrittener – Vollkommener« findet sich zwar auch später vereinzelt immer wieder, doch ist das stets individuell gemeint, wie ich heute früh bereits ausgeführt habe. Da wird die Metapher von Fleisch, Seele und Geist, wie sie Origenes bringt, ergänzt oder ersetzt durch ein Lebensalter-Schema oder durch die architektonische Metapher vom aus Fundament, Wänden und Dach zu errichtenden Bau. Der Fortschritt des einzelnen Gläubigen ist also gemeint. Bei Origenes findet solch individueller Fortschritt erst auf dem Wege mehrfacher Inkarnationen einer Seele statt.
Nun ist zu prüfen, wie oder ob Origenes diese Methode tatsächlich anwendet:
Prinzipiell richtig. Ich würde hier allerdings eher allgemein von allegorischem Sinn sprechen. Daß er bei nicht-litteraler Deutung tatsächlich „pneumatischen“ Sinn gemäß obiger Definition meint, bezweifle ich. Meist wird eher an „psychsichen“ Sinn zu denken sein, zumal die exegetischen Werke sich nicht bloß an wenige „Vollkommene“ richten (was man von de principiis eher wird behaupten dürfen). Aus dem origeneischen Wortlaut wird aber im konkreten Fall kaum je deutlich, ob der Autor überhaupt jenes Dreierschema aus de principiis im Hinterkopf hatte. Darum also redet man besser, meine ich, in unbestimmter Weise von Allegorese.Sandra Schneiders (zitiert nach Erich Dumfarth) hat geschrieben:»In der konkreten Anwendung ging Origenes häufig nach einer anderen Methode vor; er unterschied Literalsinn und pneumatischen Sinn …«
Sandra Schneiders (zitiert nach Erich Dumfarth) hat geschrieben:»…und bezog letzteren dann oft auf die individuelle christliche Seele. Sein Kommentar über das Hohelied ("In Canticum Canticorum", ca. 240) interpretiert er die Liebe der Braut als Beziehung der Kirche zu Christus und der christlichen Seele zum göttlichen Wort. (Wie die Tradition verstand Origenes das Hohelied als das Hochzeitslied Salomos). Es ist dies die vielleicht wichtigste und inspirierendste Anwendung seiner Methode.«
Ein interessanter Hinweis, zumal mir der Hoheliedkommentar des Origenes nicht zur Verfügung steht. Der Vergleich mit dem Hoheliedkommentar Gregors von Nyssa, den ich immerhin im Regal habe, wäre interessant. – Origenes ist es sicher zu verdanken, das fortan die „Braut“ auch auf die einzelne Seele gedeutet werden konnte und nicht bloß im paulinischen Sinne auf die Kirche.
Allerdings ist gerade dieses so hervorgehobene Beispiel der klassische Fall schlechthin einer rein allegorischen Exegese. Denn ein wörtliches Verständnis des Hohenliedes wurde zwar von einzelnen noch vertreten – so etwa von Theodor von Mopsuestia –, keinesfalls jedoch von Origenes. Auch von Gregor von Nyssa und der übrigen orthodoxen Tradition natürlich nicht, so daß sich hieran kein Unterschied festmachen läßt.
Diesen Unterschied finde ich dagegen sehr deutlich im Römerbriefkommentar und namentlich in den Lucashomilien. Gewiß geht Origenes vom Wortlaut aus, nimmt auch die geschilderten historischen Fakten als solche, aber sein eigentliches Interesse gilt der Allegorese. Er sucht den tieferen Sinn. Und erst in diesem tieferen Sinn findet er, was ihm heilswichtig ist. Das unterscheidet ihn grundsätzlich von den orthodoxen Schriftexegeten vor ihm und nach ihm.