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Klaus Berger über das Judas-Evangelium:
Ende eines Schurken
Seit Jahrzehnten wandelt sich das Judas-Bild. Sein neu gefundenes Evangelium legt nahe, daß er keineswegs ein Verräter war
von Klaus Berger
In dem neugefundenen Evangelium des Judas ist Judas der Lieblingsjünger Jesu. Träfe das historisch zu, dann wäre das der krönende Abschluß, die Spitze der Karriereleiter im theologischen Ansehen des Judas, das sich in den vergangenen fünfzig Jahren kontinuierlich gebessert hat.
Noch in der Nachkriegszeit war Judas der Inbegriff des Verräters und des Schurken. Vor allem das niedere Motiv der Geldgier nannte man, da er doch Kassenwart gewesen. Drastisch war die Strafe für seinen Verrat: Er erhängte sich, und die Eingeweide traten hervor. Oft konnte und wollte man in Judas den "Juden" schlechthin treffen. Etliche Ausleger betrachteten deshalb überhaupt die Existenz des Judas als eine fingierte. Mit Judas hätte man das Judentum treffen wollen, historisch sei nichts davon. Zu denken gab nur der Titel, der Judas fast immer beigelegt wurde: "Einer der Zwölf". Die Zugehörigkeit zu diesem bekannten Gremium hätte man doch nach Ostern schlecht erfinden können.
Doch dann wandelte sich das Image des Judas: Judas beschloß seinen Selbstmord, als er Jesus in den Fängen des Pilatus sah. Hatte er das gar nicht gewollt? Als Jesus an Pilatus übergeben wurde, bekannte Judas jedenfalls: "Ich habe unschuldiges Blut vergossen!"
Aber wenn Judas Jesus nur an die jüdischen Honoratioren ausliefern wollte, die gar nicht das Recht hatten, zum Tod zu verurteilen, dann hätte er es vielleicht aus Sorge um sein Volk getan? Seit dem königlichen Einzug Jesu nach Jerusalem jedenfalls hätten die Römer hellhörig werden können. Judas hatte offenbar erhofft, die jüdische Obrigkeit könne Jesus mäßigen, korrigieren und etwaige messianische Ambitionen mit ihm klären. Doch die jüdische Obrigkeit hat aus Angst reagiert und Jesus gleich weitergereicht. Angst war auch das Motiv des Judas gewesen: Er wollte sein Volk vor den Konsequenzen schützen, die man aus Jesu Auftreten ziehen konnte. So wird aus Judas immerhin der gute Jude.
Nun aber, im Evangelium des Judas, das jetzt von "National Geographic" präsentiert wurde, wird der, der Jesus "ausgeliefert hat", zum Helden. Wie in gnostischen Evangelien üblich, nimmt Jesus Judas beiseite, um ihm besondere Geheimnisse zu enthüllen. Und vor allem sagt er ihm: Du bist größer als die anderen Jünger. Denn du hast mich befreit von der Menschennatur, die mich bekleidet. Und das heißt übersetzt: Du hast mich zu Tode gebracht und dadurch die Lichtnatur in mir befreit von der unreinen und ungöttlichen menschlichen Natur. Ganz unverständlich ist das nicht, denn Jesus kann auch seinen eigenen Tod als Taufe bezeichnen, und das kann man sehr wohl im Sinne einer Reinigung von allem Irdischen verstehen (Markus-Evangelium 10, 38c).
Die Schilderung der Umstände des Judasverrats bietet Neues. Die Offenbarungen an Judas gibt Jesus drei Tage vor dem Abendmahl. Dieser Satz schließt an die ansonsten unerklärte Stelle Markus 14,1 an: "Und nach zwei Tagen war das Passahfest der Juden." Zwei Tage nach was? Am dritten Tag, also am Tag vor Markus 14,1, spricht Jesus mit Judas.
Anders als in den kanonischen Evangelien wird die Übergabe Jesu dargestellt: "Die Hohenpriester murrten, denn Jesus war zu seinem (eucharistischen) Gebet in den Gästeraum gegangen. Aber einige der Schriftkundigen warteten dort, um ihn während des Betens gefangen zu nehmen. Denn sie hatten Angst vor dem Volk, wurde er doch von allen als Prophet angesehen. Die traten auf Judas zu und sagten zu Ihm: Was tust du hier? Du bist Jesu Jünger, Judas antwortete ihnen, was sie wissen wollten. Und er bekam etwas Geld und händigte ihnen Jesus aus."
Dieser Text ist deshalb so interessant, weil wir den Ausdruck "Sie fürchteten das Volk, denn sie alle betrachteten ihn als Propheten" nach Matthäus laut 14,5 und 21,26 von Johannes dem Täufer gilt. Und ferner ergreift hier nicht Judas die Initiative zur Übergabe, sondern ein Schriftgelehrter. Das ist jedenfalls auf den ersten Blick plausibler als das, was die Evangelien berichten. Denn bis heute kann keiner erklären, wieso Judas auf die Idee kam, Jesus auszuliefern. Hier ist es ein klares Interesse der jüdischen Führungsschicht.
Für die historische Echtheit dieser Passage im Judas-Evangelium könnten auch drei weitere Beobachtungen sprechen. Erstens: In der Ereignisfolge des Judas-Evangeliums ist für die Szene von Gethsemane kein Platz. Es wäre bei Kenntnis der ersten drei Evangelien kaum vorstellbar, diese Szene auszulassen. Es gäbe auch keinen theologischen Grund dafür. Offenbar kann es sich der Verfasser leisten, so zu berichten, und er stimmt darin mit dem 4. Evangelium überein, das ja auch sonst in der Passion als vertrauenswürdig gilt.
Zweitens ist dieser Bericht, nach dem ein Schriftgelehrter aktiv wird, gegen die Eigenintention des Judas-Evangeliums gerichtet, das Verdienst des Judas zu betonen. Es wird doch eher geschmälert, wenn Judas nicht die Initiative ergreift.
Und drittens gibt es nun vor allem ein Motiv für die Übergabe: Es war das Interesse der jüdischen Führungsschicht, nicht primär das Interesse des Judas selbst. Der Ausdruck, daß der Teufel in Judas gefahren sei, war doch eher Ausdruck historischer Verlegenheit.
Angenommen, diese Nachrichten wären alt, wie könnte man sich ihre Überlieferung vorstellen? Das Evangelium nach Judas ist in der Masse seiner Dialoge zweifellos ein Produkt des späten 2. Jahrhunderts n. Chr. Aber ist es vorstellbar, daß für die Rahmenhandlung alte Traditionen vorlagen? Daß sie den Interessen des Autors entgegenlaufen, spricht für ihr Alter. Es könnte daher sein, daß Judas nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Anstiften der Obrigkeit hin Jesus ausgeliefert hat. Das wäre ein wichtiges Detail. War dann Gethsemane früher anzusetzen?
Noch ein anderes Detail ist erstaunlich. Über Judas gibt es ein kleines Gedicht am Ende dieses Evangeliums: "Dein Horn ist schon erhöht. Dein Zorn ist entfacht. Dein Stern hat hell geschienen. Dein Herz hat ..." Dieser "Hymnus" ist mit alttestamentlichen Wendungen gespickt. Kenntnis des Alten Testaments ist sonst nicht die Eigenart des Autors dieser Schrift. In diesem Hymnus ist das anders. Er enthält Aussagen, die man leicht mit einem Messias verbinden konnte. Denn daß das Horn erhoben wird, ist Aufrichtung der Macht. Und der Stern aus Numeri 24 ist Merkmal des Messias, wie aus Matthäus 2 bekannt. Judas erhält mit diesem Hymnus messianische Züge.
Jesus wird so etwas hier nicht zugesprochen. Bestand etwa in dieser Hinsicht eine Art Konkurrenz zwischen Jesus und Judas? Das würde für Judas als guten Juden sprechen, und die ältere These, Judas habe aus enttäuschten messianischen Hoffnungen gehandelt, könnte so plausibler werden: Dachte er selbst von sich, daß er sein Volk eher befreien könnte? In jedem Falle ist der Autor des Judas-Evangeliums erfüllt von heftigen Animositäten gegen die apostolische Großkirche.
Klaus Berger ist Professor für Neutestamentliche Theologie an der Universität Heidelberg und Verfasser zahlreicher Bücher.