An der Seite der Armen Gustavo Gutierrez /Bischof Gerhard Ludwig Müller hat geschrieben:
An der Seite der Armen
Gustavo Gutierrez /Bischof Gerhard Ludwig Müller
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Es ist hervorzuheben, daß die Befreiungstheologie nicht ein theoretisches Konstrukt ist, das an einem Schreibtisch entstanden ist. Die Befreiungstheologie sieht sich in der Kontinuität mit der Gesamtentwicklung der katholischen Theologie im 20. und 21. Jahrhundert. Im Hinblick auf die neuen soziologischen Strukturen, die sich aus dem Umbruch zur modernen Industriegesellschaft, zur Globalisierung der Märkte und der internationalen Vernetzung aller Informationssysteme ergeben haben, ist hier auf die Soziallehre der Päpste zu verweisen, angefangen von der Enzyklika „Rerum novarum" Leos X. über die Enzyklika „Populo-rum progressio" Pauls VI. bis hin zu Johannes XXIII., der sagte, die Kirche habe auf Seiten der Armen zu stehen. Dazu kommen die umfänglichen Lehrschreiben und Aktivitäten von Papst Johannes Paul II. Eine besondere Quelle für die Pastoralkonstitution des II. Vatikanums „Gaudium et spes" „über die Kirche in der Welt von heute".
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Die Befreiungstheologie hatte in den siebziger und achtziger Jahren in Europa eine große Resonanz hervorgerufen. […] Die Gegner der Gesellschaftsveränderung dagegen sprachen von der Gefahr einer Immanentisierung des Glaubens und einer Vermischung theologischer Positionen mit neomarxistischer Gesellschaftsanalyse. Nach dem Fall der Berliner Mauer und dem Zusammenbruch des kommunistisch beherrschten Ostblocks schien es vielen Beobachtern nur eine Frage der Zeit zu sein, bis Lateinamerika seinen Widerstand und in der Befreiungstheologie zur Sprache kommenden Protest gegen die schon Jahrhunderte währende Ausbeutung und Deklassierung - zuerst durch die Kolonialmächte und dann durch die nordamerikanisch-europäischen Wirtschaftszentren -würde aufgeben müssen. Die „naturgegebene" Rollenverteilung zwischen reichen und armen Ländern schien sich wieder einzupendeln. Es kann doch - so hörte man - nur der Virus des Marxismus dafür verantwortlich sein, wenn sich die Menschen urplötzlich gegen ihre Ausnutzung als billige Arbeitskräfte und den Abtransport der Rohstoffe ihres Landes zu einem Spottpreis zur Wehr setzen; wenn sie nicht mehr verzichten wollen auf eine medizinische Grundversorgung, eine an Recht und Gesetz orientierte staatliche Verwaltung, auf Schulbildung und eine Wohnung unter menschenwürdigen Umständen. In das Triumphgefühl eines vermeintlich siegreichen Kapitalismus mischte sich auch die Schadenfreude, daß der Theologie der Befreiung nun auch der Boden entzogen sei. Man glaubte leichtes Spiel mit ihr zu haben, indem man sie mit revolutionärer Gewalt und dem Terrorismus marxistischer Gruppen in Verbindung brachte.
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Quelle: An der Seite der Armen
Gustavo Gutierrez /Bischof Gerhard Ludwig Müller
Sankt Ulrich Verlag
ISBN: 3936484406
Lesen lohnt [Punkt]