taddeo hat geschrieben:So falsch ist das doch nicht. Warum war denn so eine tiefgreifende Umwälzung wie durch das II. Vaticanum erst möglich geworden? Doch nicht deshalb, weil vorher alles in bester Ordnung war. Es war offensichtlich durchaus eine "Zeit der Dürre", eine Zeit, in der der äußerlich noch aufrechterhaltene Ritus und die Pastoral des 19. Jahrhunderts hohl geworden waren und weithin nicht mehr von den Gläubigen mitvollzogen wurden. Wären diese damaligen Gläubigen nicht geistlich ausgedörrt gewesen, wäre das II. Vaticanum niemals auf so fruchtbaren Boden gefallen, daß seinen Neuerungen alle nachgerannt sind, egal wie bescheuert sie auch umgesetzt wurden.
Naja, ich kann es natürlich nicht beweisen oder mit Bestimmtheit sagen, aber ich glaube, es wäre zu einem derartigen Bruch, wie ihn Bergoglio da auch wieder ausdrücklich und zustimmend beschrieben hat, nicht gekommen, wenn es nicht parallel gesellschaftliche Entwicklungen in Richtung einer allgemeinen Neuerungseuphorie und Fundamentaloppositon gegen alles Überlieferte gegeben hätte.
Es ist sicher so, daß es auch in der Kirche selbst eine gewisse Unzufriedenheit gab. Aber ohne die parallelen gesellschaftlichen Umwälzungen hätte man das mit eher kleinen, inkrementellen Veränderungen hinbekommen. Man wäre z.B. in Sachen Liturgiereform allenfalls bis zur 1965er-Reform gekommen, und das hätte dann auch gereicht. Niemand wäre auf die Idee gekommen, eine neue Kirche erfinden zu müssen und herablassend auf fast 2000 Jahre vorangegangene Kirchengeschichte hinabzuschauen. Diese Anmaßung einer überheblichen, jede Demut über Bord werfenden Perspektive auf die Geschichte ist doch sowieso eigentlich vollkommen unkatholisch.
Aber die parallele Entwicklung in der Gesellschaft fand eben leider statt. Und damit meine ich jetzt nicht die 68er, sondern die längerfristige Entwicklung. Man muß sich mal in die Zeit seit hineinversetzen. In den 50ern kommt in den USA die Beat Generation aus dem zweiten Weltkrieg und dem gleich anschließenden Koreakrieg zurück, ist vollkommen fertig mit dem gesellschaftlichen Status Quo und sucht sich alle möglichen Ventile – Esoterik, Drogen, fernöstliche Religion. In Frankreich wird die Lektüre existentialistischer Philosophie zu einem Massenphänomen. Zum kulturellen Überdruß am Hergebrachten kommt eine technologische Machbarkeits- und Neuerungseuphorie. Die Leute haben plötzlich Autos, Kühlschränke, Fernseher, und im Weltall piept der Sputnik. Wo Altstädte nicht zerbombt wurden, werden jetzt Fachwerkhäuser abgerissen, um Platz für Parkhäuser und Ausfallstraßen zu schaffen.
Das begann in den 1950ern, und erst irgendwann in den 1980ern wurden die Leute der ständigen Neuerungen müde. Dazwischen war das Motto: Alles alte abreißen, es ist nichts mehr wert und muß durch Neues ersetzt werden. Nur das Zusammentreffen von einer gewissen innerkirchlichen Unzufriedenheit und dieser zeitweise vorherrschenden gesellschaftlichen Mentalität konnte die Voraussetzungen für den perfekten Sturm des nachkonziliaren kirchlichen Zusammenbruchs schaffen. Anders gesagt: Hätte das Konzil erst 1995 stattgefunden, aber die gleichen Dokumente verabschiedet, dann wäre aufgrund der anderen gesellschaftlichen Bedingungen die Interpretation dieser Dokumente doch sehr wahrscheinlich völlig anders und viel weniger im Sinne eines großen Bruchs erfolgt.