John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Rund um Anglikanertum, Protestantismus und Freikirchenwesen.
Stephen Dedalus
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John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Stephen Dedalus »

Florianklaus hat geschrieben:
Stephen Dedalus hat geschrieben:Ja, diesen Fehler hat er nicht eingesehen. Auch wenn er ihn heute nicht mehr machen würde.
Wie kommst Du zu dieser Vermutung?
Es ist sicher nicht ganz richtig, Newmans Konversion als "Fehler" zu sehen. Aus anglikanischer Sicht war sie schlicht unnötig. Da Newman allerdings seinem Gewissen folgte, war sie subjektiv wohl unumgänglich.

Warum aber bin ich der Meinung, daß Newman diesen Schritt heute nicht mehr gehen würde?

Zwar legt vor allem die katholische Apologetik großen Wert auf die Feststellung, daß Newman ausschließlich aus seiner Erkenntnis der wahren Kirche gehandelt habe. Jedoch ist nicht zu übersehen, daß diese Erkenntnis durch seine eigene biographische Entwicklung sehr stark beeinflußt war. Die Konversion war zu einem nicht geringen Teil Folge einer Konfliktsituation, in die er und seine Freunde geraten waren. Ihre Bemühungen, den katholischen Charakter der Kirche von England wieder stärker sichtbar zu machen, stießen in jenen Jahren auf teilweise massiven theologischen und praktischen Widerstand aus den Reihen der Bischöfe. Newman und seine Freunde sahen sich isoliert. Für Newman war die Konversion nicht nur ein Befreiungsschlag, sie war auch der finale Stoß gegen seine Gegner, denn allein durch die Tatsache der Konversion attestierte er der Kirche von England, "Nicht-Kirche" zu sein (auch wenn er bis dato das Gegenteil geglaubt hatte).

Interessant ist ebenso, daß sich Newmans Ansichten in vielen Punkten gar nicht änderten. Eine Lektüre von Newmans Predigten aus seiner anglikanischen Zeit macht das schnell deutlich. Newman glaubte im Wesentlichen als Anglikaner, was er später als Katholik auch glaubte. Grundsätzlich änderte sich vor allem seine Bewertung der Kirche von England - und diese Änderung war durch die o.g. Konflikte bestimmt. Insofern ist auch die Formulierung irreführend, die man dieser Tage allenthalben in katholischen Medien findet, Newman sei vom anglikanischen zum katholischen "Glauben" übergetreten.

Die Rahmenbedingungen sind heute - sowohl auf anglikanischer wie auf römisch-katholischer Seite - grundlegend verändert. Die von Newman angestrebte Re-Katholisierung hat sich weitgehend durchgesetzt. Ebenso hat sich die römische Kirche im Hinblick auf ihre Selbstwahrnehmung und Ökumene gewandelt.

Ich sehe heute keinen Grund mehr anzunehmen, warum Newman zu der Erkenntnis gelangen sollte, daß die Ecclesia Anglicana nicht Teil der Ecclesia catholica et apostolica ist.
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Lioba
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Lioba »

Ursprünglich hatte die Anglikanische Kirche gar keine eigenständige Lehre. Es ging anfangs lediglich um die Trennung von Rom aus politischen Erwägungen. Erst danach kamen lehrmässig reformatorische Elemente in die anglikanische Lehre- allerdings so weit ich weiss, ohne dass sie bindend festgeschrieben wurden.
Insoweit ist ein Schwenk von einem Bekenntnis zum andern wie etwa einer Konversion von lutherisch zu katholisch oder umgekehrt gar nicht möglich. Einen echten theologischen Einwand gegen die Akzeptanz der Anglokatholiken in der Anglikanischen Kirche gibt es imo nicht.
Newman hätte die Sache auch einfach aussitzen können wie die, die in der CofE geblieben sind.
Warum also hat er es nicht getan?
Weil es unerträglich wurde oder ging es ihm doch um die Rückkehr nach Rom?
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Miserere Nobis Domine
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Miserere Nobis Domine »

In der Tat hat sich die Situation sehr verändert. Und es wäre schwierig zu spekulieren, wie sich Newman heute verhalten hätte. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass er sich stets als Gegner der liberalen Theologie verstand, sowie als Anhänger der Patristik. Bei aller Hochkirchlichkeit (ein "broad church" Gottesdienst kommt dem römisch-katholischen NOM inzwischen sehr nahe) ist die C of E doch von theologischem Liberalismus geprägt.
Stephen Dedalus hat geschrieben: Ich sehe heute keinen Grund mehr anzunehmen, warum Newman zu der Erkenntnis gelangen sollte, daß die Ecclesia Anglicana nicht Teil der Ecclesia catholica et apostolica ist.
Könnte er "doctrinal pluralism" akzeptieren? Ich denke nicht. Er vertrat den altkirchlichen Glauben als den einzig wahren. Wenn er heute in der C of E bliebe, wäre er wahrscheinlich bei Forward in Faith aktiv und würde versuchen, die Anglikanische Kirche wieder altkirchlich auszurichten.

Zugleich ist heute der soziale Druck, der C of E anzugehören, praktisch nicht mehr vorhanden, so dass eine Konversion leichter fällt. Vom römischen Mainstream wäre er wahrscheinlich enttäuscht, höchstens die Tradis kämen in Frage. Aber vielleicht würde Newman ja zur Orthodoxie finden, mit Hilfe von Bischof Kallistos Ware...

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Florianklaus
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Florianklaus »

Gibt es vielleicht noch eine weitere Denomination, die Newman für sich vereinnahmen möchte?

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Christiane
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Christiane »

Florianklaus hat geschrieben:Gibt es vielleicht noch eine weitere Denomination, die Newman für sich vereinnahmen möchte?
Es gibt einen Weg, wie man Newman für sich vereinnahmen kann: katholisch werden. :breitgrins:
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Lioba
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Lioba »

Noch 'ne Option: lutherisch? Aus Erbarmen, weil wir in unserer jetzigen Verfassung die Bedürftigsten von allen sind? ;) Ich weiss nicht, was gewesen wäre, wenn. Aber es ist offensichtlich, dass er nun mal nach Gottes Ratschluß in seiner Zeit und deren ganz bestimmten Umständen lebte und nirgendwann oder nirgendwo sonst. Auf alle Fälle hat er das Zeitliche hinter sich gelassen und ist in den Frieden Christi eingegangen. Und dabei belasse ich es.
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Lioba
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Lioba »

Was mich viel mehr interessiert ist das was er in der Anglikanischen Kirche bewirkt hat- spürt man seinen Einfluß heute noch? Auch eine Vorstellung seiner Werke aus anglikanischer Zeit würde mich sehr interessieren. :ja:
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Stephen Dedalus
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Stephen Dedalus »

Lioba hat geschrieben:Was mich viel mehr interessiert ist das was er in der Anglikanischen Kirche bewirkt hat- spürt man seinen Einfluß heute noch? Auch eine Vorstellung seiner Werke aus anglikanischer Zeit würde mich sehr interessieren. :ja:
Oh, die Anglikanische Kirche heute kann man ohne das Werk Newmans und seiner Freunde überhaupt nicht verstehen. Der Einfluß ist so weitreichend, daß ein Anglikaner des 18. Jahrhunderts in einer Kirche des 21. Jahrhunderts Probleme hätte, sich zurechtzufinden. Der Einfluß erstreckt sich auf alle Bereiche kirchlichen Lebens. Nach dem Oxford Movement (das hauptsächlich theologisch argumentierte) setzte das Cambridge Movement die Anliegen in Architektur und Kunst um, zugleich veränderten die Ritualisten die Feier der Liturgie. Es gibt heute fast keine Kirchengebäude in England mehr, die dem alten Stil der Prayer Book Churches entsprechen, weil ab 1860 fast alle Gebäude im Stil des Cambridge Movements umgestaltet wurden. Die wenigen Prayer Book Churches stehen unter hohem Denkmalschutz.

Zu den liturgischen Änderungen gehörten:

- Kerzen auf dem Altar
- Weihrauch
- Gewänder (andere als die üblichen Talare mit Superpelizellum und Chormantel, vor allem Kaseln, Birette, Manipel)
- Mischen von Wasser und Wein für die Kommunion
- Weihwasser am Kircheneingang
- Zelebration vs. orientem
- Meßdiener

Diese Dinge waren teilweise im anglikanischen Gottesdienst nicht mehr üblich oder nur vereinzelt (etwa in den Kathedralen).

Die heute selbst in Gemeinden der Broad und tw. Low Church üblichen Formen des Gottesdienstes (Gewänder, Anordnung der lit. Elemente im Chorraum etc) gehen fast alle auf das Oxford Movement und seine Nachfolger zurück.

Eine ähnliche Linie kann man in den Änderungen der liturgischen Formulare vom alten BCP zu den heute üblichen Formen der Eucharistiefeier (vgl. Common Worship von 2000) erkennen. Gebete zur Gabenbereitung, die Ordnung der eucharistischen Liturgie, der Gesang von kompletten Messvertonungen etc. gehen ebenfalls bis auf das Oxford Movement zurück.

Man kann schlicht sagen: Während es in den meisten Kirchen Europas im 19. Jahrhundert zu einer De-Traditionalisierung gekommen ist, ist die Kirche von England den umgekehrten Weg gegangen und hat eine Re-Traditionalisierung vorgenommen.
Theologisch befeuert durch das Oxford-Movement, in Kunst und Musik natürlich auch durch die romantische Bewegung mit ihrer Mittelalterbegeisterung.
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Miserere Nobis Domine
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Miserere Nobis Domine »

Florianklaus hat geschrieben:Gibt es vielleicht noch eine weitere Denomination, die Newman für sich vereinnahmen möchte?
Es liegt mir fern, Newman vereinnahmen zu wollen. Er war erst Anglikaner, später römisch-katholisch. Dennoch gibt es auch aus orthodoxer Sicht viel Lobenswertes in seiner Theologie.

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Florianklaus
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Florianklaus »

Miserere Nobis Domine hat geschrieben:
Florianklaus hat geschrieben:Gibt es vielleicht noch eine weitere Denomination, die Newman für sich vereinnahmen möchte?
Es liegt mir fern, Newman vereinnahmen zu wollen. Er war erst Anglikaner, später römisch-katholisch. Dennoch gibt es auch aus orthodoxer Sicht viel Lobenswertes in seiner Theologie.
Ich habe wohl den Smiley vergessen.............. :ja:

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Lutheraner
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Lutheraner »

Stephen Dedalus hat geschrieben:Man kann schlicht sagen: Während es in den meisten Kirchen Europas im 19. Jahrhundert zu einer De-Traditionalisierung gekommen ist, ist die Kirche von England den umgekehrten Weg gegangen und hat eine Re-Traditionalisierung vorgenommen.
Woran lag das deiner Meinung nach? Gab es zu der Zeit in England auch politisch oder gesellschaftlich ein stärkeres Traditionsbewusstsein?
"Ta nwi takashi a huga bakashi. Ta nwi takashi maluka batuka"

Stephen Dedalus
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Stephen Dedalus »

Dazu müsste man eine ganze Hausarbeit schreiben. Ich kann hier nur andeuten, was ich als die Gründe sehe:

England war im 19. Jahrhundert politisch wesentlich stabiler als die kontinentaleuropäischen Länder. Die Revolutionen des 17. Jahrhunderts hatten sowohl radikale Modelle ("Republik") diskreditiert, wie auch dem Parlament gegenüber dem Königshaus enorme Mitspracherechte eingeräumt. Diese konstitutionelle Balance sorgte dafür, daß revolutionäre Entwicklungen wie auf dem Kontinent (Frankreich, Revolution von 1848 etc) in England wenig Bedeutung hatten. Im Gegenteil: Die frz. Revolution galt als abschreckendes Beispiel.

Zugleich gab es aber gesellschaftliche Verwerfungen durch die früh und stark einsetzende Industrialisierung. Wegen der politischen Stabilität führte sie zu keinerlei politischem Umsturz, aber zu einer stärkeren Ausdifferenzierung der Gesellschaft (Klassensystem, Arbeiterklasse). Während die Arbeiterklasse sich teilweise in religiös radikaleren Bewegungen engagierte (Methodismus, Freikirchen), bildete die Mittelklasse ein dezidiert konservatives Ideal heraus mit traditionellen Werten und Formen. Man könnte sagen, daß die spezifisch britische Kombination von traditioneller Form bei vergleichsweise liberalen Inhalten hier ihren Ursprung findet.

Schaut man nun eher im Detail auf die kirchliche Entwicklung, so kann man feststellen, daß die hochkirchliche Partei des Oxfordmovements auf Strömungen zurückgreifen konnten, die immer mehr oder weniger sichtbar im Anglikanismus seit 1534 bestanden hatten. Diese entwickelten sich nun, verstärkt durch Mittelalterbegeisterung, Romantik und politisch restaurative Elemente. Nicht unterschätzen sollte man auch das nationale Element: In der Wiederbelebung der mittelalterlichen Kirche ging es vor allem auch um die mittelalterliche englische Kirche. Daher auch die hohe Bedeutung des Sarum-Ritus in der anglokatholischen Tradition.
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Lioba
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Lioba »

:daumen-rauf:
Irgendwie wusste ich von allem ein bisschen- aber so als Zusammenschau wie ihr beiden das jetzt gebracht habt verstehe ich den Hintergrund Newmans viel besser.
Noch eine vielleicht zu spezielle Frage, die ich in einem anderen Zusammenhang bereits gestellt hatte.
Rom ist ja über die Scholastik stark von Aristoteles geprägt worden, bei den Anglikanern scheint mir eher eine Affinität zum Neuplatonismus zu bestehen. Wie war es in der Oxford- und Cambridgebewegung? Wie war es bei Newman und wo gibt es bei ihm Verbindungen zur neueren Philosophie?
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Stephen Dedalus
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Stephen Dedalus »

Ja, Platonismus war sehr stark, sowohl in der liturgisch-spirituellen Dimension bei den sog. "Metaphysical Poets" (man denke nur an Leute wie Thomas Traherne, George Herbert oder auch John Donne!), dann aber auch als theologisch-philosophische Schule der Cambridge Platonists.

http://en.wikipedia.org/wiki/Cambridge_Platonists
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Lioba
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Lioba »

Ist es richtig wenn ich als Personen des 20ten Jahrhunderts z.B. die Inklings hier einordne?
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Lioba
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Lioba »

Eine sehr schöne Seite.

Wir könnten auch mal einen der Texte lesen und uns hier dazu austauschen- gerne mit einem eigenen Strang. Was haltet ihr davon? Meine Erfahrungen damit aus anderen Foren sind nicht schlecht.
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Lioba
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Lioba »

Eine mehrsprachige Seite, hier auf deutsch.
Da kann man auch Texte auf deutsch lesen.
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Evagrios Pontikos
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Evagrios Pontikos »

Also, ich habe vor etwas mehr als einem Jahr Newmans Apologia pro Vita Sua gelesen und gestern schloss ich die Lektüre seines berühmten Briefes an den Herzog vor Norfolk ab, in dem er im Jahr 1874 die Verkündigung des Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes gegen Angriffe des früheren britischen Außenministers Gladstone verteidigte. Beide Werke machen meiner Meinung nach sehr deutich, dass Newman auch heute zur katholischen Kirche konvertieren würde. Und zwar einfach aus dem Grund, weil er eine ganz und gar katholische Ekklesiologie vertritt: die eine Kirche Jesu Christi ist in der katholischen Kirche mit dem Papst, dem Stellvertreter Jesu Christi und oberstem Lehrer der Christenheit, als deren Oberhaupt realisiert. Newman sieht schon in den drei klassischen Petrusstellen des NT die zwingende Aussage, dass der Petrusnachfolger unfehlbar ist, wenn er gemäß den Bedingungen ex cathedra lehrt, die im Dogma ausgesprochen sind. Eine anglikanische Branch-Theorie (die anglikanische Kirche als britischerscher Zweig der einen katholischen Kirche), die er ja früher selbst vertreten hat, hat da keinen Platz. Eine Kirche, die nicht in Gemeinschaft mit dem Papst lebt, steht nach Newman zwingend im Schisma und kann nicht als Zweig (branch) der einen katholischen Kirche verstanden werden. Auf die Branch-Theorie geht er in der Apologia ausdrücklich ein. Insofern kann ich die Einschätzung nicht teilen, dass er unter heutigen Umständen nicht konvertieren würde.

Stephen Dedalus
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Stephen Dedalus »

Nun hat Newman auch vor seiner Konversion eine dezidiert katholische Ekklesiologie vertreten (vgl. etwa die Predigten aus der anglikanischen Zeit zum Thema). Geändert hat sich freilich die Zuspitzung seiner Ekklesiologie auf das Papstamt (ein Prozeß, der keineswegs schmerzfrei verlief). Dabei handelt es sich allerdings zum guten Teil um eine Entwicklung, die nach der Konversion stattfand, nicht aber zu ihr hinführte. Auch die Apologia erschien ja erst 20 Jahre nach der Konversion.
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Evagrios Pontikos
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Evagrios Pontikos »

@ Stephen: Hier bin ich natürlich kein Newman-Experte, um die Stellung der Apologia und des Briefes an den Herzog von Norfolk innerhalb der biographisch-theologischen Entwicklung Newmans richtig bewerten zu können. Mit "ganz und gar katholische Ekklesiologie" meine ich zunächst, dass für Newman bei seiner Konversion folgender Sachverhalt entscheidend war: Newman sah schon in seiner späteren anglikanischen Zeit die Kirche als die Gemeinschaft der Bischöfe in apostolischer Sukzession. Das ist tatsächlich etwas dezidiert Katholisches. Und da stimme ich Dir zu. Newman versuchte ja, diese für ihn neue und schmerzlich durch das Studium der Kirchenväter gewonnene Sicht mit dem Anglikanismus zu versöhnen. Seine Meinung war ja die (so im berühmten Traktat Nr. 90 dargelegt), dass die 39 Artikel, welche, wenn ich es richtig verstanden habe, von jedem anglikanischen Geistlichen unterschrieben werden müssen, gewissermaßen "katholisch" interpretiert werden können. In seinem Brief an Pusey (1865), den ich derzeit lese, geht er in der Einleitung darauf ein. Er zitiert dort einen Abschnitt aus seinem Roman Verlust und Gewinn (1848 anonym veröffentlicht, also drei Jahre nach seiner Konversion), wo ein anglikanischer Pfarrer namens Charles (das alter ego Newmans?) von einem Reding quasi verhört wird. Dort trägt Charles seine Auffassung der 39 Artikel vor, muss aber zugeben, dass diese Auffassung von jedem namhaften Repräsentanten der anglikanischen Kirche abgelehnt wird und er mit ihr allein dastehe. Dies war wohl die Situation Newmans nach Veröffentlichung von Tract 90. Man könnte also durchaus sagen, dass Newman während jener Zeit bis zur Konversion katholisch dachte und der Meinung war, dass die 39 Artikel eine katholische Interpretation zuließen.

Wo für Newman aber dann der Bruch kam, war das Verständnis des Begriffs Schisma. Er kam zur Überzeugung, dass die Anglikanische Kirche im Schisma mit der Katholischen Kirche befinde analog zur Situation der Monophysiten oder der Donatisten zur Reichskirche der Antike. Auch für diese Sicht war das Studium der Kirchenväter für ihn wesentlich. Er weist z.B. auf die berühmte Stelle bei Irenäus hin, dass alle Kirchen mit der Kirche von Rom übereinstimmen müssten (Adversus Haereses, 3,3,2). Aber ganz entscheidend ist für ihn Augustinus in seinem Urteil über die Monophysiten und Donatisten: "Die ganze Welt urteilt mit Sicherheit, dass diejenigen nicht gut sind, die sich vom ganzen Erdkreis trennen, gleichviel, in welchem Teile des Erdkreises sie sich befinden." (Dieses Augustinus-Wort kommt mehrfach in der Apologia und auch in anderen Werken Newmans. Es ist für ihn ein Schlüsseltext.) Weil Newman organisch-historisch denkt, würde er auch heute urteilen, dass die anglikanische Kirche sich eines Schismas verdankt und wieder in die Gemeinschaft mit Rom zurückkehren müsse. Und wie sein Brief an Pusey andeutet, schloss er offenbar diese Hoffnung für seine Zeit nicht ganz aus. Zu dieser Sicht kommt dann als ein Zweites noch das Amt des Papstes als Oberhaupt des Kollegiums der Bischöfe hinzu, was dann besonders im Brief an den Herzog von Norfolk das Thema ist.

Was ich damit sagen will: Nicht erst das Thema des Papstamtes führte Newman zur Konversion, sondern schon der durch die Kirchenväter gewonnene Begriff des Schismas, also schon die Ekklesiologie an sich. Dem tritt natürlich das Papsttum an die Seite und Newman hätte sicher gesagt, dass eins vom anderen nicht zu trennen ist. Ausführlich legt er in seinem Brief an den Herzog von Norfolk dar, dass sich die Papstkirche zwingend aus der Alten Kirche entwickelte, und zwar ohne Dazutun des Papstes, was Newman betont.

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Florianklaus
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Florianklaus »

Kann man diesen Brief irgendwo im Netz nachlesen?

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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Miserere Nobis Domine »

Gibt es eigentlich Schriften von Newman zu 1054? Hat er sich näher damit beschäftigt?

Evagrios Pontikos
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Evagrios Pontikos »

Florianklaus hat geschrieben:Kann man diesen Brief irgendwo im Netz nachlesen?
Schau mal hier: http://www.newmanreader.org/

Ich selber habe mir vor ein paar Jahren die Ausgewählten Werke von J.H. Newman antiquarisch gekauft (9 in 8 Bänden und 1 Band Newman-Lexikon, 1951-1975).

Stephen Dedalus
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Stephen Dedalus »

Miserere Nobis Domine hat geschrieben:Gibt es eigentlich Schriften von Newman zu 1054? Hat er sich näher damit beschäftigt?
Meines Wissens nicht (aber ich lasse mich belehren). Mir scheint, daß gerade die Abwesenheit des Problems der Orthodoxie den Newman'schen Gedanken zum Thema Schisma eine gewisse Einseitigkeit verleiht. Wenn die anglikanischen Bistümer sich im Schisma befinden und nicht "Kirche" sein können, weil sie nicht in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom stehen, dann gilt dies eben für die Orthodoxen ebenso. Genau zu diesem Problem gibt es m. W. von Newman keine Aussagen. Das ist nicht allzu verwunderlich, wenn man den Zeithorizont bedenkt.
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Miserere Nobis Domine
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Miserere Nobis Domine »

Gerade eine Auseinandersetzung mit der orthodoxen Behauptung, dass Rom sich im Schisma befinde, habe ich bei Newman gar nicht gefunden. Darum meine Frage, ob es von ihm etwas dazu gibt.

Evagrios Pontikos
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von Evagrios Pontikos »

Wenn ich mich richtig erinnere, hatte Newman auch intensivere Kontakte mit der "griechischen Kirche", wie er die orthodoxe Kirche immer nennt. Bemerkungen im Brief an Pusey geben Anlass zu der Vermutung. Sein Freud Pusey sprach offenbar immer von der "ungeteilten Kirche" für die Zeit vor 1054. Newman hat diesen Begriff in seinem Brief an Pusey kritisch aufgegriffen. Er sah in der Kirche vor 1054 keine "ungeteilte Kirche". Schließlich gab es ja auch schon in der Alten Kirche das Schisma mit den Altorientalen. Er hätte wahrscheinlich zurückgefragt: Müsste man dann nicht die Kirche vor Ephesus bzw. Chalcedon als die "ungeteilte Kirche" bezeichnen? Den Begriff "ungeteilt" würde er wohl als zu relativ und als zu ungenau zurückweisen.

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overkott
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Re: John Henry Newman aus anglikanischer Sicht

Beitrag von overkott »

Stephen Dedalus hat geschrieben:
Florianklaus hat geschrieben:
Stephen Dedalus hat geschrieben:Ja, diesen Fehler hat er nicht eingesehen. Auch wenn er ihn heute nicht mehr machen würde.
Wie kommst Du zu dieser Vermutung?
Es ist sicher nicht ganz richtig, Newmans Konversion als "Fehler" zu sehen. Aus anglikanischer Sicht war sie schlicht unnötig. Da Newman allerdings seinem Gewissen folgte, war sie subjektiv wohl unumgänglich.

Ich sehe heute keinen Grund mehr anzunehmen, warum Newman zu der Erkenntnis gelangen sollte, daß die Ecclesia Anglicana nicht Teil der Ecclesia catholica et apostolica ist.
Ich sehe das durchaus ähnlich, weshalb anzunehmen ist, dass Newmans Konversion heute eher eine positive Hinwendung wäre als eine Abkehr.

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