Sempre hat geschrieben:Die Fragestellung ist klar: was ist Vernunft? Ist Vernunft eine Funktion der gesellschaftlichen Verhältnisse und Rahmenbedingungen oder ist Vernunft eine natürliche oder gottgegebene Konstante oder beides?
Die Vernunft ist eine gottgegebene Eigenschaft des Menschen. Die Fähigkeit der Menschen, sich dieser Eigenschaft zu bedienen, wurde erstmals beschädigt/eingeschränkt durch die Folgen des Sündenfalls. Seitdem unterliegt sie einer Art konjunktureller Evolution: An einigen Orten und zu einigen Zeiten erhebt sie sich mehr zu ihrer ursprünglichen Größe, an anderen und zu anderen Zeiten weniger. Die Fähigkeit des Menschen, sich der Vernunft zu bedienen, ist sehr stark abhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen - womöglich stärker, als die Päpste Pius IX. und Pius X. sich das vorstellen konnten.
Sie lebten möglicherweise in der Vorstellung, daß es da nur eine Aufwärtsbewegung geben könnte, und daß ein Niveau an menschlicher Vernunftfähigkeit, das einmal erreicht worden war, nicht wieder verloren gehen könne. Die seitherig Entwicklung hat gezeigt, daß das nicht so ist. Und insbesondere die Entwicklung des Erziehungswesens läßt befürchten, daß da noch Stadien des Verfalls und der propagierten Barbarei auf uns zu kommen, die wir uns heute ebenfalls nicht vorstellen können.
Was die Bedeutung der Vernunft für die Ethik anbelangt, sagt Ratzinger klar: nein, die Ethik kann nicht einer Evolution unterliegen. Ansonsten aber lässt er das, was die Kirche traditionell als vernünftig angesehen hat, gerne am Wegesrand liegen, um die moderne, aufgeklärte (in Wahrheit verdunkelte) Vernunft aufzugreifen, um sie nach gegenseitiger Bereinigung mit dem Glauben zu versöhnen (Habermas-Debatte)
Das halte ich für missverstanden, teilweise sogar für eine aus der Hermeneutik des Verdachts geborene unberechtigte Unterstellung. Ratzinger läßt gar nichts am Wegesrand liegen - aber er versucht auch nicht unentwegt, mit Leuten, die kein sagen wir mal Griechisch gelernt haben, auf Griechisch zu kommunizieren: Er weiß, daß denen das Organ dafür fehlt. Schärfer als viele andere sieht er den Kulturbruch, der sich ja nicht nur in der Kirche, sondern im ganzen ehedem christlichen Abendland in den letzten 100 Jahren verfestigt (begonnen hat er schon viel früher) hat, und versucht, eine Sprache zu finden, mit der er die, die auf der anderen Seite der Bruchlinie stehen, erreichen kann.
Mit Versöhnung hat das gar nichts zu tun - es wäre die Grundlage, endlich über das Stadium des Dialogs der Stummen mit den Tauben hinwegzukommen und miteinander über Inhalte streiten zu können. Im Gespräch mit Habermas signalisiert Ratzinger nirgendwo "Versöhnung" (das tut eher H.) - aber stellenweis ist ihm die Erleichterung anzumerken, daß er endlich mal einen Gesprächspartner gefunden hat, der über Begriffe verfügt, mit denen man sich über die Bedeutung von Gegenständen verständigen kann.
Seine einzigartige Stellung - und natürlich auch seine Isolation - in der Theologie der Gegenwart beruht darauf, daß er einer von ganz wenigen ist, die die Tiefe des Bruches, das ganze Ausmaß der Delegitimierung jeder Tradition in den Augen "der Welt" begriffen haben - und die dennoch versuchen, über den Bruch hinweg ein Gespräch zu führen, ohne sich von der eigenen Grundlage losreißen zu lassen.