JAN ROSS in DIE ZEIT Nr. 16 / 2006 hat geschrieben:
Ein Jahr Benedikt XVI.: Er will kein Moralprediger sein, aber einen Kulturkampf gegen die totale Diesseitigkeit führen. Was Joseph Ratzinger aus einem unmöglichen Amt macht und warum sein Sekretär sich wie ein Schneepflug fühlt
VON JAN ROSS
Aus: DIE ZEIT Nr. 16 / 2006
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Wenn man einen Schlüssel sucht zum Papsttum Benedikts XVI., dann ist es die Konzentration auf den Kern, auf das Eigentliche; als Kardinal hat er einmal von »Verwesentlichung« gesprochen. Es steckt etwas Hartes und etwas Weiches darin. Das Harte ist das Bewusstsein, dass es jetzt um letzte, entscheidende Dinge geht, darum, ob überhaupt noch geglaubt wird oder nicht, ob es einen Gott gibt, ob das Christentum noch als prägende, öffentliche Kraft zugelassen ist. In seiner letzten Predigt vor dem Einzug der Kardinäle ins Konklave vor einem Jahr hat Ratzinger die »Diktatur des Relativismus« gegeißelt. Danach, womöglich: dafür ist er gewählt worden, und nichts davon hat er zurückgenommen. Die Kirche ist in Kulturkampfstimmung, herausgefordert von der totalen Diesseitigkeit des Westens, und sie hat sich einen europäischen Intellektuellen an die Spitze geholt, der dieser Gegenwart mit ihren eigenen Waffen Paroli bieten kann. Der Papst ist nicht wirklich klar in der Frage, wie viel Moderne er akzeptiert: Die Kirche will den Staat nicht beherrschen, der Glaube den Ungläubigen nicht ihr Leben vorschreiben, aber er trägt zur »Reinigung« der Vernunft bei - durch diese Hintertür lässt sich eine Menge Führungsanspruch einschleusen.
Das Neue ist die zweite, die »weiche« Seite des Rückzugs auf das Wesentliche: von der Schönheit und Größe des Glaubens zu reden und weniger von den Vorschriften. Der Papst will weg vom Bild der Kirche als Normen- und Verbotsinstanz. Man darf das nicht missverstehen: Benedikt XVI. wird den Katholizismus nicht »liberalisieren«, er glaubt daran, dass die Ehe unauflöslich und das Priesteramt den Männern vorbehalten ist. Doch das »Du sollst« und das «Du darfst nicht« werden nicht die Leitmotive seines Pontifikats sein. Er hat seine erste Enzyklika über die Liebe geschrieben: was für eine Gelegenheit, von den höchsten Gipfeln hinab auf die Sexualmoral zu sprechen zu kommen. Er hat es nicht getan. Kein Wort über Pille oder Abtreibung. Ratzinger muss seit Jahren das Gefühl gehabt haben, dass hier etwas falsch läuft. »Richtig ist«, hat er 1996 auf eine Frage seines Interviewers Peter Seewald geantwortet »dass für viele Leute von den Worten der Kirche am Schluss nur einige Moralverbote – hauptsächlich aus dem Bereich der Sexualmoral – übrig bleiben [...] Vielleicht ist in der Richtung auch zu viel und vieles zu oft gesagt worden – und nicht mit der nötigen Verbindung von Wahrheit und Liebe“.
Das Glaubens-Gemälde wiederherstellen, in seinen ursprünglichen reinen, leuchtenden Farben, hervorgeholt unter den Übermalungen der Event-Oberflächlichkeit oder des Sittenpredigertums: das ist das Projekt dieses Papstes. Es ist das glatte Gegenteil eines Pontifikats als Macht- und Willensanstrengung. Benedikt XVI glaubt nicht an das Heil durchs »Machen«, schon gar nicht in der Kirche, und obwohl er vielleicht nicht viel Zeit hat, nimmt er sie sich. Einen neuen Kardinalstaatssekretär, einen »Ministerpräsidenten«, hat er nach einem Jahr noch nicht berufen; der alte amtiert interimistisch weiter. Das Lehrschreiben über die Liebe lässt sich geradezu als Verweigerung einer Regierungserklärung lesen. »Die Enzyklika als Programm«, sagt Andrea Riccardi, »das war noch die Kultur der sechziger, siebziger Jahre; damit hat Benedikt XVI. mit Deus caritas est Schluss gemacht.« Er weiß, dass er führen muss, aber er will nicht regieren, sondern verkündigen. Beim Neujahrsempfang vor den beim Heiligen Stuhl akkreditierten Botschaftern hat er kaum weniger »geistlich« geredet als im Petersdom; manche Diplomaten - Muslime, Laizisten - werden sich gewundert haben, wie viel Hardcore-Christentum ihnen zugemutet wurde. Benedikt XVI. wechselt die Rollen nicht, er ist nicht hier UN-kompatibler Staatsmann und dort Hirte der Kirche, er ist immer Papst.
Ob er mit der »Verwesentlichung« Erfolg hat, ist eine offene Frage, die offene Frage dieses Pontifikats. Die Katholiken, die an ihrer Kirche leiden, unter einer moralischen Strenge, die sie als Unbarmherzigkeit empfinden; merken vielleicht, dass weniger ermahnt und lamentiert wird. Aber ob sie zufrieden sein werden mit einer Politik, die letztlich auf De- Thematisierung hinausläuft, auf das "Beschweigen" der bis zum Überdruss hin- und hergewendeten »heißen Eisen« der Kirchendebatte, vom Umgang mit den Geschiedenen bis zum Zölibat? Das Schweigen ist ein labiler Zustand, eine Übergangsphase, in der beide Seiten darauf warten, dass etwas passiert. Nur werden sie auf Verschiedenes warten, auf Gegensätzliches: das unzufriedene Kirchenvolk darauf, dass nun die alten Zöpfe nicht bloß zur Seite geschoben, sondern abgeschnitten werden, der Papst darauf, dass ein neu zum Strahlen gebrachtes Kern- Christentum am Ende auch die katholischen Amts- und- Lebensregeln wieder plausibel macht.
Sein Pontifikat ist ein großes historisches Experiment.